Die Nacht der Entscheidung

Lord Devon hat einen perfiden Plan, der ihm den Weg zu absoluter Willkürherrschaft ebnen soll. Gäbe es da nicht grauenvolle Visionen, die ihn und seine Verbündeten plagen … Das Zeichen einer übernatürlichen Macht?

Fantasy-Kurzgeschichte von Dirk Löhmann

Graf Devon war mit der Entwicklung der Ereignisse sehr zufrieden. Fünf der mächtigsten Lords von Arthak waren seiner Einladung gefolgt, um an dem geheimen Treffen teilzunehmen. Noch in dieser Nacht würde er dafür Sorge tragen, dass der einflussreiche Paladinorden dem Untergang geweiht war. Erst wenn diese selbsternannten Hüter von Recht und Ordnung endgültig vernichtet waren, konnte er seinen Traum verwirklichen und der erste Großkönig Arthaks werden. Nur die Macht der Paladine stand noch zwischen ihm und seinem Lebensziel. Dabei war die Lösung des Problems so kinderleicht, dass er sich wunderte, dass noch niemals zuvor jemand auf den Gedanken gekommen war.
Kein einzelner Lord konnte es wagen, den Orden der Paladine herauszufordern. Jeder Paladin war ein erstklassiger Kämpfer und ein ganzes Regiment von ihnen galt als fast unbezwingbare Armee. Aber auch nur fast. Es stimmte, dass kein Lord genug finanzielle Mittel hatte, um ein stehendes Söldnerheer aufzustellen, welches es mit den Kriegern des Ordens aufnehmen konnte. Söldner waren teuer. Sie wurden pro angeheuerten Tag bezahlt. Dabei spielte es keine Rolle, ob sie kämpften oder nur auf der faulen Haut lagen. Ebenso war es unmöglich, genug Bauern in eine Armee zu pressen. Die Ausbildung würde viel zu lange dauern. Die Paladine hätten eine solche Armee bereits vernichtet, bevor sie überhaupt einsatzfähig war. Zumal die Loyalität der Bauern wohl auch eher auf Seite der Paladine lag. Der Orden setzte sich schließlich dafür ein, dass kein Lord einen Bauern ausbeuten oder ohne schwerwiegenden Grund töten durfte.
Lord Devon hatte es durch seinen Einfluss und einige teure Versprechen geschafft fünf der Mächtigsten und reichten Edlen an einen Verhandlungstisch einzuladen. Wenn er es schaffte, sie von einem Bündnis zu überzeugen, konnten sie gemeinsam eine Armee aufstellen, welche die Paladine zerschmettern würde. Danach müsste er natürlich Sorge tragen, dass seine Mitstreiter so schnell wie möglich in die Hallen der Toten überwechselten. Erst danach hätte er die Gewalt über die mächtigste Armee Arthaks. Die Paladine wären vernichtet und selbst die Gilde der Magier hätte ihm nichts entgegen zusetzen. Entweder würden sie ihn unterstützen oder aber dem Beispiel der Paladine folgen und vernichtet werden. Durch einen herannahenden Diener aus seinen Tagträumen gerissen, wandte er sich den momentanen Problemen zu, die noch vor ihm lagen.
Als der Mann vor ihm stehen blieb, machte er mit Gesten darauf aufmerksam, dass es Zeit wurde, zu den anderen Lords dazu zustoßen. Devon hatte sie schon vor zwei Stunden zusammen mit einem Diener in die unterirdische Ratshalle geführt und sich dann entschuldigt, weil er noch Vorbereitungen für den Abend treffen wollte.
Lord Devon war stolz auf sich. In weiser Voraussicht hatte er den Dienern und Sklaven, die bei dieser Zusammenkunft dabei sein würden, die Zunge herausschneiden lassen. Da sie weder lesen noch schreiben konnten, bestand keine Gefahr, dass sie etwas weitergeben würden. Zumal die Diener entbehrlich waren. Nach der Zusammenkunft würde er sie beseitigen lassen. Nur Tote konnten nichts mehr preisgeben. Dies war auch einer der Gründe, warum er das Treffen in seiner Sommerresidenz durchführen wollte. Hier war er nur ein paar Wochen im Jahr und die Dienerschaft war dementsprechend gering.
In Begleitung des Mannes begab sich der Lord an eine bestimmte Stelle des Ganges. Nichts deutete darauf hin, dass an diesem Ort etwas Besonderes war. Als der Lord allerdings seine Hand auf die Wand legte, sank diese in die Wand ein. Im gleichen Augenblick, als er die Hand wieder hervorzog, hörte man ein deutliches Klicken und die vorher solide Wand verschwand blitzschnell im Boden. Hinter der entstandenen Öffnung kam eine Treppe zum Vorschein, die von an den Seiten befestigten brennenden Fackeln beleuchtet wurde.
„Ein Hoch meinem Vorfahr, dem Meistermagier“ philosophierte Lord Devon in Gedanken. Der Mechanismus und die gesamten Geheimgänge waren von dem Magier Lorth, einen direkten Vorfahren des Lords, erschaffen worden. Leider hatte Devon nichts von der magischen Begabung seines Vorfahren geerbt. Aber zum Glück war er auch von dem Wahnsinn verschont worden, der Lorth am Ende fest im Griff gehabt hatte.
Schweigend nahm der Diener eine der Fackeln aus der Halterung und ging vor seinem Lord in die Tiefe, um ihm den Weg zu beleuchten.
Am unteren Treppenabsatz angekommen, zeigte es sich, dass unter dem Schloss ein ganzes Labyrinth von Gängen verlief. Kaum hatten die Beiden die Treppe verlassen, schnellte eine Tür empor und verwandelte die Öffnung hinter ihnen in eine solide Mauer. Jeder der sich in den Katakomben hier unten nicht auskannte, war rettungslos verloren. Unwissende konnten wochenlang herumirren, ohne einen der Aufgänge in den oberen Teil des Schlosses zu finden. Die Geheimtüren waren von Meistermetzen erschaffen worden. Nicht eine Fuge verriet, dass sich in den Wänden eine Öffnung befand. Nur wer die genaue Position der magischen Nischen kannte, konnte einen der Durchgänge öffnen. Es nutzte auch nichts, die Wand nach solch einer Nische abzusuchen. Bei einem oberflächlichen Abtasten spürte man nur eine feste kalte Wand. Erst wenn man einige Sekunden die Hand an die richtige Stelle legte, drang diese durch die magische Barriere und man konnte den Hebel umlegen, der den Mechanismus aktivierte. Zusammen mit seinem Diener ging Devon durch das Labyrinth.
Im Zentrum der Gänge war eine einfache Tür in der Wand eingelassen, vor der ein weiterer Diener stand. Der Begleiter des Grafen klopfte fest gegen das Holz und öffnete dann die Türe für seinen Herrn. Lord Devon trat ein und hinter ihm schloss der Mann den Eingang von außen. Als er sich umschaute, sah er fünf fürstlich bekleidete Edle, die es sich in dem luxuriös ausgestatteten Raum bequem gemacht hatten.
„Ah, da seid Ihr ja, Graf Devon“ sprach ihn einer der Lords an. Er saß in einem prunkvollen Sessel, der an einen Thron erinnerte.
„Fürst Thinan“, entgegnete Devon und verneigte sich tief. „Ich hoffe doch sehr, dass es euren Lordschaften während meiner Abwesenheit an nichts gefehlt hat?“
„Eure Gastfreundschaft ist vortrefflich“, antwortete ein anderer Lord. „Ich muss zugeben, eure Sicherheitsmaßnahmen sind beeindruckend. Nur die Diener scheinen wenig gesprächig zu sein.“
„Das liegt daran, dass sie keine Zunge mehr haben, Baron Selard. Wer nicht redet, kann auch nichts verraten“, entgegnete Devon. „Um ganz sicher zu gehen, werde ich dafür Sorge tragen, dass die armen Geschöpfe nach dem Treffen von ihrem Leiden erlöst werden.“
„Für Euch scheint ein Menschenleben nicht viel wert zu sein“, sprach ihn ein dritter Lord in vorwurfvollen Ton an. Er war der Älteste in der Runde und mindestens schon sechzig Sommer alt.
„Ich glaube unser Leben ist mehr wert, als das dieser Kreaturen. Wenn ein Wort, das hier drin gesprochen wird, nach draußen dringt, werden unsere Hälse sehr schnell an dem Strick des Henkers baumeln. In diesem Fall kann man nicht vorsichtig genug sein. Aber wenn die Lordschaften sich nun an den Tisch setzen würden.“ Lord Devon deutete dabei auf einen runden Tisch, der in der hinteren Hälfte des Raums aufgestellt worden war. Als sich die Lords gesetzt hatten, läutete Devon eine Glocke, die auf dem Tisch stand. Darauf hin erschienen zwei Diener im Raum, die Wein einschenkten. Nachdem Ihre Arbeit vollbracht war, zogen sie sich in hinter dem Stuhl des Gastgebers zurück und warteten darauf, dass sie wieder gebraucht wurden.
„Wie Ihr wisst, sind die Paladine uns allen ein Dorn im Auge.“ eröffnete der Graf. „Diese so genannten Diener des Gottes Thorn mischen sich in unsere Geschäfte ein und sagen uns, wie wir unsere Untergebenen behandeln sollen. Damit muss endlich Schluss sein!“ Mit diesen Worten schlug er mit der Faust so hart auf den Tisch, dass eins der Weingläser umkippte. Sofort war einer der beiden Diener da, um den verschütteten Wein zu beseitigen und das Glas nachzufüllen.
„Was wollt Ihr gegen den Orden unternehmen?“, fragte Baron Selard. „Die Paladine haben bisher noch jeden Lord besiegt, der gegen sie vorgehen wollte.“
Mit sorgsam gewählten Worten erklärte Devon seinen Plan. Als er geendet hatte, setzte wie erwartet eine heftige Diskussion unter den Lords ein. Geschickt beeinflusste der hinterhältige Graf dabei die Meinung der anderen. Er hatte schon vor Wochen genau geplant, wie ein Bündnis aussehen sollte.
Schließlich einigte man sich darauf, das Großherzog Margant, der Älteste der sechs Lords, die Führung über das Bündnis übernehmen sollte. Devon war es von Anfang an klar gewesen, dass er niemals selber das Bündnis führen würde. Sein Titel stand dafür viel zu tief in der Hierarchie der Lords. Der Titel war bei den Edlen meist wichtiger als die Macht und der Reichtum, die der Lord wirklich innehatte. Er begnügte sich damit, die Fäden im Hintergrund zu ziehen. Sollte doch der alte Narr die Armee befehligen. Wenn der richtige Zeitpunkt gekommen war, würde er, Graf Devon, in den Vordergrund treten und die „Verräter“ persönlich stürzen. Als Held, der die Vernichter der Paladine zur Rechenschaft gezogen hatte, würde er die Armee übernehmen, um anstelle des Ordens für Recht und Ordnung zu sorgen. Das Volk und die anderen Lords würden ihn als Helden feiern und aus Dank für seine Taten vom Grafen zum Hochkönig erheben. Wer anderes als er wäre besser dafür geeignet?
„Auf das Bündnis der Mächtigen!“, rief Devon und hob sein Weinkelch in die Höhe. Die anderen Männer folgten seinen Beispiel und wiederholten im Chor die Worte des Grafen. Als alle sechs Lords einen kräftigen Schluck Wein tranken, ließ einer plötzlich sein Weinglas fallen und griff sich, nach Luft schnappend, an die Kehle, bevor er vom Stuhl kippte.
„Verrat. Baron Geron wurde vergiftet!“ rief Großherzog Margant, der gerade erst gewählte Führer des neuen Bündnisses. Die anderen Lords war das Entsetzen ins Gesicht geschrieben und alle schauten mit misstrauischen Blicken Graf Devon an.
Während dessen kümmerte sich ein Diener um den gestürzten Lord und löste seine Schärpe, damit er leichter Luft bekam. Langsam normalisierte sich seine Atmung und das Gesicht verlor seine bläuliche Färbung. Stattdessen schien der Baron in eine tiefe Bewusstlosigkeit zu fallen.
„Was führt Ihr im Schilde Graf Devon?“, wandte sich Selard an den sehr unglücklich ausschauenden Gastgeber.
„Ich weiß nicht, was passiert ist. Aber schaut Euch den unglücklichen Baron doch an! Sieht so jemand aus, der gerade vergiftet wurde? Viel wahrscheinlicher scheint es, das er an einer Krankheit leidet, die er vor uns verheimlichen wollte. Oder vielleicht hat ein Schlag seine Gesundheit dahingerafft. Aus welchem Grunde sollte ich Hand an ihn legen? Das würde doch gar keinen Sinn ergeben. So denkt doch bitte nach, bevor ihr unser noch frisches Bündnis mit Anschuldigungen gefährdet“ argumentierte Devon mit flinker Zunge.
Langsam ging Großherzog Margant auf den in Bewusstlosigkeit Liegenden zu und beugte sich über ihn.
„Hmm, es sieht so aus, als hätte unser Freund einfach Pech gehabt. Er lebt noch, aber es scheint, dass er in tiefer Bewusstlosigkeit liegt. Wir sollten einen Medikus zurate ziehen, damit er schnell wieder auf die Beine kommt.“
„Ihr beide“, fordert Devon die bereitstehenden Diener auf. „Bettet den Lord auf die Liege dahinten. Ich werde morgen früh dafür sorgen, dass er von meinem Leibmedikus untersucht wird.“ Schweigend nahmen die Diener den Bewusstlosen zwischen sich und trugen ihn zu der Liege.
„Meine Lords“ wandte er sich an die anderen. „Wir sollten uns von diesem Unglücksfall nicht den Abend verderben lassen. Es ist immer noch ein Bündnis zu feiern, welches die Geschichte des Landes verändern wird.“
„Das Bündnis steht unter einem schlechten Zeichen“, warf Baron Selard ein. „Der Erste unter uns wurde schon dahingerafft, bevor die erste Stunde verstrichen ist. Vielleicht ist es eine Warnung der Götter. Die Paladine stehen unter Ihrem Schutz und sie warnen uns nun, sie herauszufordern.“
„Pah. Die Götter helfen nur dem, der sich selber hilft. Die Paladine sind auch nur Menschen. Nur weil sie behaupten im Namen von Thorn zu handeln, erstarren die Menschen vor Ehrfurcht“, spottete einer der anderen. „Wenn der Gott Thorn wirklich seine geliebten Paladine schützen möchte, soll er hier unter uns erscheinen und uns zur Rechenschaft ziehen.“
Nach diesen Worten hielten die anderen Lords denn Atem an und schauten sich ängstlich um. Als die Sekunden verstrichen ohne das etwas passierte, entspannten sie sich langsam wieder und setzten sich zurück an den runden Tisch.
„Ihr solltet mit euren Worten nicht so leichtfertig umgehen Herzog Vhagur“, brach Margant das Schweigen. „Es ist nicht klug, die Götter auf diese Weise heraus zu fordern.“
„Ich habe keinen Respekt vor irgendwelchen mystischen Gestalten, die vor einigen Jahrtausenden das letzte Mal gesehen wurde. Wer weiß, ob die Götter überhaupt noch existieren? Vielleicht ist ja alles auch nur ein Betrug um Leichtgläubige zu beeindrucken. Doch kommen wir nun zu dringlichen Problemen. Baron Geron ist uns im Augenblick nicht von Nutzen und wir müssen beraten, wie wir die Lücke schließen.“
In diesem Augenblick erlosch schlagartig das Licht und eine undurchdringliche Finsternis herrschte im Raum.
„Was ist das nun wieder für ein fauler Trick?“ fragt Vhagur ärgerlich.
„Dies ist kein Trick du törichter Narr“, erschallte eine donnernde Stimme, die aus dem Nichts zu kommen schien. Plötzlich erschien über den Tisch ein sich windender Drache, der in blauem Licht leuchtete. Die beiden im Raum befindlichen Diener warfen sich auf den Boden und verbargen Ihre Gesichter. Das Antlitz der Edelleute sah in dem blauen Licht aschfahl aus.
„Wer oder was seid Ihr?“ fragt Großbaron Margant mit brüchiger und angstvoller Stimme.
„Ich bin die Wahrheit, dass was war, was ist und dass was einmal sein wird.“ antwortet die Stimme aus dem Nichts. Der Drache wand sich während dessen schwebend über den Tisch, als wäre er eine Schlange.
„Und was wollt Ihr von uns?“ erwidert Margant, den es als Einzigen nicht die Stimme verschlagen zu haben schien.
„Ich bin gekommen, um Euch eure Zukunft zu zeigen. Damit Ihr seht, was der Lohn eures Verrats ist. Doch genug der Worte. Seht, was euer Schicksal ist.“

* * *

Baron Selard stand auf einem Hügel. Im Westen sah er die als unüberwindliche geltende Ordensburg der Paladine als brennende Ruine. Tharen, die Stadt die am Fuße der Burg errichtet, wurde, war von einem Heer geschliffen worden. Die Ebene vor Tharen war ein einziger großer Friedhof. Hunderte von Toten lagen dort, wo sie gestorben waren. Aasgeier pickten an den Leichen und hielten Ihr Festmahl. In der Ferne sah man einen Wagen, auf den Männer Leichen warfen, um sie anschließend auf einen Scheiterhaufen zu verbrennen, der lichterloh vor den Stadtmauern brannte. Die Luft roch nach verbranntem Fleisch und Tod.
„So sieht also die Zukunft aus. Wir haben eine große Schlacht geführt und die Paladine sind geschlagen worden“, dachte Baron Selard. Bei dem Anblick des Schlachtfeldes lief es ihm kalt den Rücken herunter. So hatte er sich den Sieg nicht vorgestellt. Erschüttert drehte er dem Gemetzel den Rücken zu und sah das Heerlager der verbündeten Lords. Hunderte von Zelten standen dort und es sah aus, als wäre eine Stadt aus Stoff errichtet worden. Neugierig geworden wandte er sich endgültig vom Schlachtfeld ab und ging zum Lager um sich dort umzusehen.
Als er sich den Zelten näherte, sah er, dass an den Standarten des Lagers Fahnen mit einem ihm unbekannten Wappen wehten. Irritiert blieb er stehen.
„Was sind das für Fahnen? Das kann so nicht stimmen. Es müssten unsere Wappen im Wind wehen“, dachte der Baron irritiert. Doch stattdessen waren auf den Fahnen kunstvolle goldene Löwen aufgestickt worden, hinter dem sich zwei prachtvolle Schwerter kreuzten. Die Symbole erinnerten ein wenig an das Wappen des Grafen Devon, aber er konnte das Wappen keinen Lord zuordnen. Schnellen Schrittes ging er nun auf das Heerlager zu, um einen der Soldaten zur Rede zu stellen.
Als er die ersten Zelte erreichte, stellt er sich vor einem der angeheuerten Söldner und sprach ihn an. Doch statt zu reagieren, lief der Söldner durch den Baron durch, als würde dieser nicht existieren. Furcht erfüllte den Lord im ersten Augenblick.
„Dies ist nur eine Vision der Zukunft“, dachte der Baron. „Ich kann alles beobachten, jedoch scheine ich für die Menschen hier nur ein Geist zu sein.“
Nachdem er den ersten Schrecken über sein Phantomdasein überwunden hatte, beschloss er die Gelegenheit zu nutzen, um sich umzusehen. Er würde schon noch herausfinden, was hier nicht stimmte.
Als er ein Gespräch zwischen den Soldaten belauschte, erfuhr Baron Selard, das zur Mittagszeit die Hinrichtung eines Verräters stattfinden sollte. In der Hoffnung vielleicht ein wenig mehr zu erfahren, beschloss der Lord der Hinrichtung beizuwohnen. Bei der Urteilsverkündung würde er wenigstens Gewissheit bekommen, welcher Lord die Befehlsgewalt innehatte. Nur der Oberbefehlshaber des Heeres durfte Todesurteile verhängen. Und nach dem in der Nacht beschlossenen Bündnis müsste dies Großherzog Margant sein. Der Baron folgte einigen Soldaten, die zu der Hinrichtungsstätte unterwegs waren. Dort angekommen hatte sich um den Hinrichtungsplatz bereits eine große Menschenmasse versammelt. Um sich einen besseren Ãœberblick zu verschaffen, versuchte er sich durch die Menschen zu drängeln. Es bereitete ihm ein mulmiges Gefühl einfach durch die Söldner durchgehen zu können, ohne auf Widerstand zu treffen. Als der Lord endlich in der ersten Reihe angekommen war, bot sich ein Bild, dass ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Baron Selard sah sich selber auf dem Platz in Ketten liegen. Seine Gestalt in dieser Vision war geschunden und misshandelt worden. Mit entsetzen sah er, wie die gefesselte Gestalt von jungen Küchengehilfen mit Abfällen beworfen wurde. Erbost wollte Selard dazwischengehen und vergaß dabei ganz, dass er nur ein Geist in diesem Lager war. Hilflos wartete er ab, was weiter geschah.
Neben seinem gefesselten Selbst sah er den Richtblock, hinter dem der Scharfrichter gerade sein Schwert schärfte. Es war eindeutig. Er selber war der Verräter, der in dieser Stunde hingerichtet werden sollte. Ein Fanfarenstoß lenkte seine Aufmerksamkeit auf den Ausrufer, der nun das Urteil verlesen würde. Stille senkte sich über den Hinrichtungsplatz.
„Im Namen des Hochlords Devon, dem Gerechten, wird in dieser Stunde ein weiterer Verbrecher hingerichtet. Der ehemalige Lord Selard ist des Hochverrats an den Paladinen und des Mordes an zahlreichen unschuldigen Opfern für schuldig befunden worden. Hochlord Devon, der von den Göttern als Nachfolger der Paladine ernannte neue Hüter der Gerechtigkeit, verurteilte den Verräter zum Tode durch das Schwert.“
Nach dieser Ankündigung jubelte die Menge und Hochrufe auf Devon erklangen. Der Ausrufer hob die Hand und die Menge verstummte.
„Das Urteil wird nun vollstreckt. Hoch lebe der Hochlord, Hüter der Gerechtigkeit. Ihm ist es zu verdanken, dass die Verräter mit ihrem heimtückischen Plan scheiterten.“
Unter dem Jubel der Meute wurde sein Ebenbild mit dem Kopf auf den Richtblock gelegt. Von Entsetzen gelähmt, sah der Lord wie der Henker an den Richtblock trat, um seine Pflicht zu erfüllen. Mit einem weiten Bogen schwang das Schwert auf den Richtblock. Als der Stahl in das Holz eindrang, brandeten noch mehr Jubelrufe auf. Mit weit aufgerissenen Augen sah Selard, wie sein enthaupteter lebloser Körper seine letzten Zuckungen vollführte.
„NEIN!!!!“, schrie er in die Menge. „Nicht ich bin der Verräter sondern Devon. Er plante den Verrat und war die treibende Kraft hinter dem Bündnis.“ Da ihn keiner in der Menge hören konnte, jubelte sie immer noch, um die Hinrichtung des vermeintlichen Verräters zu feiern.

* * *

Irritiert schaute sich Selard um. Über den Tisch schwebte immer noch der sich windende Drache. Als er in die Gesichter der anderen Lords blickte, sah es aus, als wären sie gerade aus einem Albtraum erwacht. Einzige Ausnahme war Graf Devon. Er schaute sich verwundert um und schien von der Vision nichts mitbekommen zu haben. „Jetzt wisst Ihr, was Euch in der Zukunft erwartet. Verrat wird mit Verrat belohnt werden“, erschallte ein letztes Mal die Stimme. Genau so schnell wie es finster geworden war, wurde es auch wieder hell. Der Drache war verschwunden, und der Raum sah so aus, als wäre nie etwas geschehen. Die Lords schauten alle gleichzeitig Devon an.
„Was habt Ihr meine Lordschaften? Ich weiß auch nicht, was der Spuk zu bedeuten hatte! Ich habe damit nichts zu tun. Das müsst Ihr mir glauben“, brach es aus Graf Devon hervor.
„Das glauben wir Euch gerne Hochlord Devon“, sagte Selard eisig. Die Miene der anderen verfinsterte sich bei den Worten.
„Hochlord? Was wollt Ihr damit andeuten?“, fragte der Graf nervös.
„Euer Verrat ist durchschaut Ihr hinterhältiger Schurke. Die Götter hatten Gnade und sandten uns eine Warnung, obwohl wir sie verraten wollten. Zum Dank werden wir den Göttern euer Leben opfern.“ Mit diesen Worten erhob sich Baron Selard bedrohlich. Doch Devon war schneller. Er hatte verstanden, dass seine Pläne von der seltsamen Stimme enthüllt worden waren. Blitzschnell zog er ein Stillet aus dem Ärmel und stach auf den Fürsten Thinan ein. In die Brust getroffen, brach dieser röchelnd zusammen. Die Ablenkung ausnutzend schnellte der Verräter zur Türe.
„Es ist schade, dass unsere Zusammenarbeit so schnell zu Ende geht, aber ich werde mich nun verabschieden. Ich wünsche noch viel vergnügen beim Verhungern in den Katakomben.“ Mit diesen Worten glitt er die Tür hinaus und verriegelte sie hinter sich.
„Ihm nach“, stieß Großherzog Margant hervor. Die anderen beiden Lords stürzten zur Türe, um sie aufzubrechen. Großherzog Margant versorgte in der Zwischenzeit die Wunde des Fürsten. Als die anderen beiden Männer die Türe endlich geöffnet hatten, erhob sich der verwundete Lord. Die Verletzung schien nicht so schlimm gewesen zu sein, wie es zunächst aussah.
„Was nun?“, fragte einer der Edlen. „Ohne Devon werden wir hier unten verhungern. Wir haben keine Möglichkeit alleine durch das magische Labyrinth zu finden.“
Nun machte sich einer der beiden Diener bemerkbar. Mit Gesten forderte er die Lords auf, ihm zu folgen.
„Und wenn das eine neue Falle von Devon ist?“, warf Vaghur misstrauisch ein.
„Redet keinen Unsinn“, erwiderte Margant erschöpft. „Diese armen Geschöpfe versuchen nur, uns zu helfen. Sie haben durch Devon ein schlimmes Schicksal erlitten. Uns hier heraus zu führen ist Ihre einzige Möglichkeit, Rache an dem Verräter zu nehmen.“
Schweigend nahmen die Betrogenen den noch immer bewusstlosen Baron Geron zwischen sich und folgten den beiden Bediensteten. Geschickt öffnete einer der Diener die Geheimtüren, die in die oberen Etagen führten. Nach einigen Minuten waren alle wieder im oberen Teil der Burg angekommen.
„Das war knapp“, bemerkte Baron Selard. Ein plötzliches Geräusch ließ ihn herumfahren. Erschrocken sah er, wie Großherzog Margant zusammenbrach. Sofort war einer der beiden Diener bei ihm um ihn aufzufangen.
„Es ist nichts meine Lordschaften“, röchelte Margant mit leiser Stimme. „Ich befürchte nur, mein Körper ist für solche Abenteuer zu alt. Sorgt dafür, das Devon nicht entkommt. Ich brauche nur einige Stunden ruhe.“
„Bringt die beiden Lords in Ihre Räume“, befahl Selard den beiden Dienern. „Und wir werden den Verräter Devon diese Nacht noch seinem gerechten Urteil zuführen.“ Mit diesen Worten machten sich die Lords auf die Suche nach Ihrem verschwundenen Gastgeber.

* * *

Leise schlich sich eine Gestalt in das Zimmer von Großherzog Margant und stellte sich neben das Bett des immer noch ruhenden Lords. Erschrocken fuhr dieser aus seinem Schlummer hoch und schaute die Gestalt an, die sich an ihn herangeschlichen hatte.
„Ihr hier?“, fragte er überrascht.
„Ich wollte mich nur von Euch verabschieden Großherzog Margant“, erwiderte der Mann, der entfernt Ähnlichkeit mit einem der Diener hatte, die vor einigen Stunden bei dem Treffen dabei waren.
„Ihr Wart eine große Hilfe Meisterdieb“, äußerte der Lord.
„Die Ehre lag ganz auf meiner Seite ehrwürdiger Magier. Eure Vorstellung war wirklich beeindruckend!“
„Danke, es hat mich auch viel Kraft gekostet, die Illusionen zu erzeugen. Dies wäre mir aber ohne die Informationen über die wirklichen Pläne Devons nicht gelungen. Ich danke dafür Euch und der gesamten Diebesgilde.“ Der Dieb nickte wohlwollenden und erwiderte:
„Ich hoffe Ihr hattet nichts dagegen, das ich mich um Baron Geron gekümmert habe. Ihr meintet, dass ein anwesender Lord weniger wesentlich besser wäre, damit euer Plan gelingt.“
„Das stimmt. Es war wesentlich Kräfteschonender einen Mann weniger beeinflussen zu müssen. Aber ich hoffe doch sehr, dass es ihm wieder gut geht?
„Aber selbstverständlich. Der gute Baron ist wieder munter wie ein Fisch im Wasser“, grinste der Dieb. Doch verratet mir eins. Warum habt ihr einen sich windenden Drachen über den Tisch gezaubert? Wäre ein übergroßes Abbild des Gottes Thorn nicht viel überzeugender gewesen?“ Der andere lächelte.
„Das bestimmt. Aber die Illusion des Drachen war eine meiner ersten Übungen, als ich noch ein junger Prior war. Sie war am einfachsten aufrecht zu erhalten, während ich den Lords Ihre Visionen schickte. Den Drachen habe ich so oft erschaffen müssen, dass ich die Illusion ohne nachzudenken aufrecht erhalten konnte.“
„Und was war mit dem Fürsten?“, hakte der Dieb nach. „Die Wunde war meiner Meinung nach tödlich!“
„Nachdem ich die Anderen zur Tür geschickt hatte, heilte ich die Wunde. Das kostete mich aber auch fast meine restlichen Kraftreserven. Wobei ich Euch danken muss, dass Ihr die Lords nach oben geführt habt.“
„Ich dachte mir schon, dass ihr arge Probleme hättet, zu erklären, wie Großherzog Markant den Weg durch das Labyrinth finden konnte. Bei einem Diener dachten sie gar nicht erst nach, warum er den Weg kennt.“ Der Magier nickte zustimmend.
„Doch erzählt mir, was ist während der letzten Stunden geschehen?“
„Graf Devon ist leider entkommen. Wie wir im oberen Teil der Burg ankamen, war er schon geflohen. Einige Soldaten, die zur Begleitung der Lords gehörten, sahen ihn davon reiten als wäre ein Dämon hinter ihm her“
„Das ist bedauerlich. Aber er wird seiner gerechten Strafe nicht entgehen. Was ist mit den Dienern. Wurden sie schon einem Verhör unterzogen? Man müsste auch mit herausgeschnittenen Zungen einiges von Ihnen erfahren können.“ Traurig schüttelte der Dieb den Kopf.
„Für sie kam jede Hilfe zu spät. Sie sind vor einigen Stunden alle an einem heimtückischen Gift gestorben.“
„Gift? Wie konnte das geschehen? Für so eine Gräueltat hatte der Verräter bei seiner Flucht doch keine Zeit mehr!“
„Das Gift wurde den armen Geschöpfen wohl schon vor einiger Zeit verabreicht. Sie bekamen aber mit jeder Mahlzeit ein Gegenmittel, was die tödliche Wirkung aufhielt. Als das Mittel nicht mehr verabreicht wurde, starben die Männer innerhalb weniger Stunden. Im Grunde genommen dämonisch einfach. Er brauchte sich noch nicht mal um entkommene Diener sorgen zu machen. Jeder Mann der Floh war innerhalb von Stunden Tod. Zum Glück sagte mir das Essen der Diener nicht zu und so bediente ich mich heimlich direkt aus den Vorräten des Lords. So blieb mir Ihr Schicksal erspart.“
„Noch mehr bedauerliche Opfer, die zulasten von Devon gehen. Doch nun ist er am Ende. Er hat fünf der mächtigsten Lords, die Magiergilde und den Orden der Paladine auf den Fersen. Er wird nicht weit kommen.“
„Was ist übrigens mit dem echten Großherzog geschehen? Lebt er noch?“, fragte der Dieb. Ein Schmunzeln fuhr über das Gesicht des vermeintlichen Lords.
„Ihm geht es sehr gut. Ich habe ihn vor meiner Abreise in einen Tiefschlaf versetzt und er wartet darauf, wiedererweckt zu werden.“
„Wird er denn keine Schwierigkeiten machen, wenn er wieder erwacht?“
„Macht Euch um Margant keine Sorgen. Ich werde ihm schildern, was geschehen ist und er wird so tun, als wäre er wirklich hier gewesen. Schließlich wird er es sich nicht mit der Magiergilde verderben wollen.“
Der Dieb grinste frech und verbeugte sich zum Abschied.
„Es war mir eine Freude, mit Euch zusammenarbeiten zu dürfen. Ihr habt meine Mission, Graf Devons Pläne zu durchkreuzen, sehr vereinfacht.“
„Die Freude war ganz auf meiner Seite Meisterdieb. Wobei ich zugeben muss, dass wir wohl eins der seltsamsten Bündnisse in ganz Arthak geschlossen haben. Möge eure Hand niemals in die falsche Tasche greifen.“
„Auch Euch alles Gute ehrwürdiger Magier. Möge die Magie euch auf allen Wegen begleiten.“ Mit diesen Worten schlich sich der Dieb aus den Gemächern, um seinen eigenen Angelegenheiten nachzugehen.
Auch der Magier erhob sich aus dem Bett. Er hatte lange genug geruht und es gab auch für ihn noch viel zu tun.

© 2006 by Dirk Löhmann

 

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