„Padorak, sieh nur! Da rollt schon wieder so eine Panzerkiste auf Rädern durch den Schnee.
Gleich wird der Auserwählte herauskriechen und mit seinem Mund Geräusche machen.“
„Konntest du diesmal den Totmacher anpeilen?“
Der Gedankenstrom der Eiträgerin Ressah rauschte leise.
„Nein“, dachte sie. „Es könnte beinahe jeder oder keiner sein.“
„Lass mich raten. Die unverbesserlichen Monstren da unten schleppen wieder einmal
unzählige primitive Waffen mit sich herum: Bleischleudern, Messer, Bomben …“
„Ja, mein bevorzugter Befruchter. Jeder Mensch kennt jemanden, dem er gern das Leben
wegnehmen würde. Manche haben sogar Lust, die ganze Welt mit einem Schlag
auszulöschen und noch andere möchten vor Angst am liebsten wild um sich schießen. Diese
Spezies war schon immer schlimm, wenn auch früher nicht so mächtig wie in unserer Zeit.
Jetzt sind sie eine wahre Pest der Galaxis.“
Die Stielaugen der beiden Tannari hingen gebannt am Bildschirm. Sie sahen ungefähr zum
hundertsten Mal, wie sich eine merkwürdige Gestalt ungeschickt aus einer engen Öffnung
der fahrbaren Kiste schob. Sie hatte insgesamt nur vier lange dünne Gliedmaßen und einen
Knubbel am oberen Körperende, in dem sich die zentrale Steuereinheit, das sogenannte
Gehirn, befand.
Das Wesen blieb einen Augenblick mit erhobenen Vordergliedmaßen stehen und nahm mit
gekrümmter Essöffnung das Getöse der Menge entgegen.
„Der Auserwählte lächelt wieder“, dachte Ressah. „Das arme Geschöpf hat keine Ahnung,
was ihm bevorsteht.“
„Du weißt tatsächlich, was so eine gebogene Fressluke bedeutet?“, wunderte sich Padorak.
„Gewiss doch. Im elektromagnetischen Spektrum der Erde gibt es ganz wundervolle, hoch
dramatische Geschichten, wo man lernen kann, wie die Spezies Mensch funktioniert. Du
solltest dir unbedingt auch ein paar dieser Blockbuster und Seifenopern ansehen.“
„Das ist doch Massenware, wertloser Kulturschrott … und obendrein immer dasselbe.“
Ein Hauch Fröhlichkeit wehte durch Ressahs Geist. Komisch, dass sich die Befruchter auf allen
bekannten Welten so ungern mit Gefühlen beschäftigten. Ob der Auserwählte da unten auch
immer so tat, als würden ihm seelenvolle Geschichten am Hinterleib vorbei marschieren?
„Was regst du dich auf?“, ließ die Eiträgerin ihren Partner wissen. „Wenn diese Darbietungen
Lehrmaterial für die Einheimischen oder Informationen für Besucher wie uns sind, lässt sich
eine gewisse Einförmigkeit gar nicht vermeiden. Bei so etwas Simplem wie Gut und Böse gibt
es eben immer die gleichen Antworten.“
Padorak peitschte ärgerlich mit seinen acht vorderen Tentakeln die Luft.
„Du denkst doch nicht etwa, dass dieses brüllende Gewimmel da unten Gut und Böse
unterscheiden kann? Vergiss nicht, dass dieses Pack auf Eldora ohne Vorwarnung drei
Großstädte mit Fusionsbomben verdampft hat. Wer wahllos tötende Aggressivwaffen
verwendet, brät auch die Gelege intelligenter Spezies zum Frühstück. Denen ist alles
zuzutrauen! Uns ist gar nichts anderes übriggeblieben, als die zivilisatorischen
Errungenschaften der letzten dreitausend Jahre zu verstoßen und wieder töten zu lernen –
auch wenn es uns verdammt schwergefallen ist. Mir sind die verlogenen Geschichten und
Lieder der Menschen egal. Wie du weißt, habe ich schon vor Jahren dafür gestimmt, diesen
Planeten rechtzeitig zu sterilisieren, und zwar, bevor sich höheres Leben darauf entwickelt
hat. Dann ist die Arbeit nicht ganz so widerlich und für fühlende Lebewesen erträglicher.
Aber niemand war auf meiner Seite. Stattdessen schickte man uns auf diese absurde
Mission! Du wirst es erleben: Der krakelige Vierfüßler wird abermals erschossen werden, wir
müssen wieder die Zeit zurückdrehen, erneut vergeblich nach dem Mörder suchen, bis die
verdammte Eisenkiste wieder heranrollt …“
„Und eine Bleikugel dem armen Mann ein riesiges Loch in die Brust reißt. Bis das Leben
rasselnd und stöhnend aus ihm entweicht. Bis er unter entsetzlichen Qualen stirbt und seine
Frau und die beiden kleinen Töchter sich die Augen aus dem Kopf weinen. Das ist
faszinierend und traurig zugleich … und es wird mit der Zeit langweilig.“
Padorak bog ruckartig sämtliche acht Stielaugen zu seiner Gefährtin.
„Was redest du da? Du klingst ja schon wie eine von denen, schlimmer noch, wie eine ihrer
albernen Seifenopern!“
Die Eiträgerin reagierte gekränkt und hochmütig.
„Sei nicht so intolerant! Das ist doch gar nicht so schwer zu verstehen. Der Auserwählte ist
ein Mann, ein Befruchter, wenn du dir darunter mehr vorstellen kannst. Seine Frau und die
beiden Kinder sind Eiträgerinnen wie ich. Gut, sie behalten ihre Eier bis zum Schluss bei sich,
aber groß ist der Unterschied trotzdem nicht. Auch die Menschen lieben ihre Familien.“
„Dann verstehe ich aber nicht, wie sie es trotzdem fertigbringen, die zukünftigen Kinder
anderer intelligenter Lebewesen in der Pfanne zu braten!“
Ressah gab darauf keine Antwort. Sie wusste nur zu gut, was jetzt kommen würde, und sie
wollte nichts von dem erhabenen und hoch dramatischen Schauspiel verpassen.
„Mitbürger!“, sagte das kleine viergliedrige Ding mit überraschend tiefer und kräftiger
Stimme. „Mitbürger! Die amerikanischen Tugenden und der amerikanische Pioniergeist sind
nicht tot. Wenn wir uns auf unsere alten Stärken besinnen und gemeinsam …“
Das war normalerweise der Augenblick, wo die Bleikugel aus dem Nichts kommen und dem
Auserwählten ein faustgroßes Loch in das obere Ende seines mickrigen Leibs reißen würde.
Da war sie schon!
Auf dem weißen Stoff der dünnen Bekleidung des Auserwählten breitete sich ein tiefroter
Fleck aus.
Ganz langsam knickten dem Menschen die unteren Gliedmaßen ein, seine Vorderglieder
ruderten hilflos in der Luft … dann fiel er in den Schnee.
Die Eiträgerin fokussierte die optischen Sensoren des Schiffes auf den Knubbel, in dem sich
das Gehirn befand, vergrößerte das Bild, bis nichts anderes mehr zu sehen war.
„Siehst du“, erklärte sie ihrem Kollegen und Gefährten beinahe genüsslich. „Schau genau hin!
Die Essöffnung des Auserwählten steht jetzt weit offen und es kommen nur noch sinnlose
Töne heraus. Seine Augen schimmern weiß durch ihre halb geschlossenen Klappen. Der
ganze Kopf, so nennt man den Gehirnbehälter, ist nass, und das bezeichnet man als Schweiß.
Er ist eine typische Reaktion auf Angst, Schmerzen und die durch den Blutverlust verursachte
lähmende Schwäche. Gleich wird die Pumpe versagen, sein Gehirn bekommt keinen
Sauerstoff mehr … und dann ist es ziemlich schnell vorbei. Bei den Eiträgerinnen wird
vermutlich wieder massenhaft Salzwasser aus den Sehorganen fließen. Aber das ist nicht
halb so interessant wie das, was mit dem Mann passiert.“
Padorak sah dem Sterben des Menschen angeekelt zu.
Er konnte beim besten Willen nicht begreifen, wieso sich seine Gefährtin diese Bilder immer
wieder anschauen musste. Er selbst hatte bei seinen Einsätzen als Verteidiger schon viele
Kreaturen aller Art sterben sehen. Genug für zehn Tannarileben! Damit wollte er nichts mehr
zu tun haben. Den kostbaren Eiträgerinnen wurde derlei ja erspart!
„Mistfäkalien!“, grummelte es in ihm. „Es mag ja sein, dass ich beim ersten Mal auch
neugierig war, aber inzwischen habe ich all das Blut und Geschrei satt! Ich will nur noch
zurück in meine eigene Zeit. Ich will nach Hause in meine Lieblingsbadeschüssel!“
Ressah streichelte ihn beruhigend mit ihren Tentakeln.
„Ich verstehe dich. Mich erfüllen diese Wiederholungen inzwischen auch mit nagender
Ungeduld. Das erinnert mich an das absolut stupide menschliche Märchen vom ewig
grüßenden Murmeltier. Wenn es uns nicht gelingt, diese Zeitschleife abzubrechen, müssen
wir diesen Mord bis ans Ende aller Tage miterleben … und der Auserwählte wird den Tod
wieder und wieder erleiden. Ich muss das wissen, denn ich habe drei halbe Umläufe
temporale Physik studiert.”
Der Befruchter färbte sich vor Ärger grünlich.
„Du tust gerade so, als wären wir und der Mensch da unten schicksalhaft gefangen. Das
klingt zwar ungeheuer pathetisch, aber es ist Unfug. In dem Moment, wo wir von unserem
Auftrag radikal abweichen, sind wir wieder frei. Wenn wir zum Beispiel die Erde mit den
Strahlenwaffen des Schiffs sterilisieren, wäre es sofort vorbei mit deinem idiotischen
Murmeltier und niemand müsste mehr vor den Menschen Angst haben. Millionen
anständige und liebevolle Lebewesen würden ihre Existenzen zurückerhalten, und wir
Tannari müssten unsere Seelen nicht mehr mit dem Ersinnen von Waffen und gemeinen
Listen besudeln.“
Die Gedankenmuster der Eiträgerin verknäuelten sich bis zur Unlesbarkeit.
„Das kannst du doch nicht machen! Das ist nicht unser Auftrag!“, protestierte sie, während
auf dem Bildschirm schwarz gekleidete Menschen den Auserwählten in eine gepolsterte
Kiste packten und wegtrugen.
In Padorak pulsierte immer noch wilder Zorn.
„Du hast wohl Angst vor dem Straflager? Was hältst du davon, heimlich einen Asteroiden in
Richtung Erde zu lenken? Dann ist unser idiotischer Auftrag auch hinfällig.“
Ressah reagierte ungläubig. Schließlich kannte sie ihren bevorzugten Befruchter schon seit
dreizehn heimischen Planetenumläufen, und er war immer freundlich und friedfertig
gewesen..
„So etwas würdest du fertigbringen? Hier und jetzt alles Leben auf der Erde mit harter
Strahlung überfluten? Ich denke, dafür bist du zu weich und du ekelst dich viel zu leicht. Ist
dir eigentlich klar, dass du die Menschen mit den schwachen Waffen des Schiffs nicht sofort
töten kannst? Dass es Monate oder gar Jahre dauern wird, bis genug von ihnen gestorben
sind, um ihrer Zivilisation jede Perspektive zu nehmen? Und was die Strahlenkrankheit
bedeutet: Die Vierfüßler werden langsam und unter unbeschreiblichen Qualen zugrunde
gehen, genauso wie ihre missgebildeten Nachkommen. Aber wie ich dich kenne, werden dir
die Tentakel erstarren, bevor du feuern kannst … und wenn es dir wider Erwarten doch
gelingt, wirst du mit so einer Tat nicht leben können und dich wie ein Ausgestoßener in der
Zeit verkriechen.“
Padorak spürte die Zweifel seiner Gefährtin, ihren blanken Hohn. Plötzlich hatte er nur noch
Angst, dass sie ihn verstoßen könnte, dass er all sein unglaubliches Glück verlieren würde.
Das Glück, dass eine genetisch hochwertige Eiträgerin ihm nicht nur erlaubte, eins ihrer
Gelege zu befruchten, sondern ihn auch zu ihrem Gefährten vor dem Gesetz genommen
hatte, wodurch automatisch jedes ihrer genehmigten Gelege für seinen Saft bestimmt war.
Dass er sogar miterleben durfte, wie seine Nachkommen schlüpften und die gesündesten von
ihnen feierlich dem Leben geweiht wurden.
Ohne Ressahs Zuneigung, ihren Respekt und vor allem ohne die Privilegien, die sich daraus
ergaben, würde seine Existenz nicht mehr viel wert sein. Dann könnte er sich gleich in diese
mickrige gelbe Sonne stürzen und die Völker der Zukunft den brutalen Schlächtern da unten
überlassen.
„Verzeih mir, Liebste“, dachte er demütig. „Mir ist eben noch eine andere Option eingefallen.
Wir könnten doch diesen mitleiderregenden Auserwählten mit unserem Leitstrahl erfasst
halten und im richtigen Augenblick ein wenig aus der Phase schieben … nur für den Bruchteil
der kleinsten hiesigen Zeiteinheit. Die Menschen werden es nicht merken und der Vierfüßer
bleibt unverletzt, weil die Kugel ihn nicht treffen kann. Das würde die gute Zeitlinie ebenso
zwangsläufig erzeugen, wie die totale Vernichtung der Menschheit. Jedenfalls ergibt sich
diese Variante aus dem Geschwafel gewisser Temporaltechniker.“
„Was? Dass du den Auserwählten nur für einen winzigen Augenblick aus dem Verkehr ziehen
musst, um ihn zu retten? Die haben aber an alles gedacht!“
„Von wegen“, erwiderte Padorak mit einiger Genugtuung. „Obwohl diese Zierden der
Wissenschaft genau wissen, wie übel die Menschen sind, konnten sie sich dieses Desaster da
unten nicht vorstellen. Sie dachten, wir eilen schnell in die Vergangenheit, eliminieren den
bösen Mörder des Auserwählten und gleich ist alles wieder gut. Optimisten!“
Ein Teil von Ressah wollte das erhabene Schauspiel vom Tod eines Anführers noch ein paar
Mal genießen, aber ihr besserer Teil sehnte sich, genau wie Padorak, nur noch nach Frieden.
Im Krieg mit den terranischen Barbaren waren dreißig ihrer Gelege in den gelben Säcken der
Plünderer gelandet.
Sie wollte endlich Erfolg … auf die eine oder andere Weise.
Und wenn es eine andere Möglichkeit gab, den Auserwählten zu retten …
Ressah spürte, dass sie nach hundert Zeitsprüngen an Padorak hing wie an einem
bevorzugten Haustier.
„Aber du warst dir doch eben noch ganz sicher, dass nur die totale Vernichtung der
Menschheit …“, begann sie.
Ihr Befruchter geriet in Eifer.
„Die von der Regierung haben zwar von nichts wirklich Ahnung, aber irgendeiner der
Schlauköpfe vom Institut für Temporalphysik hat berechnet, dass der Mord an diesem
führenden Vierbeiner da unten die Menschheit endgültig auf den Pfad des Bösen gebracht
hat, beziehungsweise aus unserer jetzigen Perspektive bringen wird. Es soll sich um einen
extrem wichtigen Kausalknoten handeln. Wenn wir den Totmacher nicht finden können,
müssen wir eben etwas anderes probieren.“
Ressahs feuchte Haut färbte sich vor Erleichterung rosa.
„Du machst mich restlos glücklich! Der Auserwählte darf weiterleben! Ich glaube, dein Plan
ist gut. Du bist ein richtiger Held … fast wie die eisenstarken Befruchter aus gewissen
Supermanfilmen. Komm, drehen wir die Zeit noch ein letztes Mal zurück, und dann machen
wir es so.“
Padorak wusste, das Ressahs Euphorie aus verschiedenen Gründen sowieso nicht lange
anhalten würde. Deshalb verschwendete er keinen Gedanken daran, wie unwahrscheinlich,
es eigentlich war, dass ihnen dieser Trick mit dem Leitstrahl gelingen würde.
„Supermanfilme“, dachte er hinter mentalen Mauern verbarrikadiert angewidert. „Das passt!
Das ist vermutlich genauso ein Unsinn ist wie diese Seifenopern!“
Dennoch betätigte er eifrig die Kontrollen.
Eine privilegierte Eiträgerin hatte immer recht … auf die eine oder andere Weise.
In Wirklichkeit war die Aufgabe so gut wie unlösbar.
In jedem Zyklus lief die Geschichte ein klein wenig anders ab. Die Kugel aus Blei konnte zum
Beispiel von überall her kommen und nur, wenn die Sensoren sie sofort entdeckten,
vermochte der Computer, den Auserwählten rechtzeitig zu erfassen und aus der Phase zu
schieben.
Ihn für Sekundenbruchteile in Sicherheit zu bringen.
Der menschliche Tötungsexperte, vielleicht gab es auch ein ganzes Rudel davon, verstand
leider sein Handwerk gut, denn es war ihm bisher jedes Mal gelungen, das Leben des
Auserwählten zu beenden.
Meist kam die Kugel von hinten und riss ein Loch in die linke obere Hälfte des Körpers. Wenn
sie dabei die Blutpumpe zerfetzte, ging es ziemlich schnell und der Gehirnknubbel zeigte
eher Erschrecken als Qual.
Bisher viermal hatte die Kugel nur das Atmungsorgan getroffen. Aus dem Loch in der Brust
waren Luft und rote Flüssigkeit geströmt, der Sterbende war röchelnd immer schwächer
geworden bis seine Lebenszeichen irgendwann endgültig erloschen waren.
Zehnmal hatte der Mörder dem Auserwählten in den Kopf geschossen, was auch aus der
Sicht eines Tannari ein sehr ekliger Anblick war: Eine feste Knochenschale im Innern des
Knubbels platzte auf und mit roter Flüssigkeit vermischtes Nervengewebe klatschte in die
Gesichter der laut schreienden Eiträgerinnen. Am schlimmsten war, dass der Auserwählte
danach manchmal noch eine Weile lebte. Es hing wohl davon ab, welche Teile des
organischen Zentralprozessors gerade zerstört worden waren.
Einmal wurde nur die untere Hälfte des Knubbels zerschmettert. Man konnte das Innere der
Fressöffnung sehen und die Röhren, die zum Verdauungstrakt und dem Atmungsorgan
führten. Die Halsschlagadern und das zentrale Nervengewebe blieben unversehrt, was dazu
führte, dass der Viergliedrige lange bei vollem Bewusstsein blieb. Er konnte nicht mehr
sprechen oder schreien. Nur ein leises Glucksen und Schmatzen verriet, dass er durch seine
blutgefüllten Röhren immer noch atmete.
Ein paar Heiler wuselten lange um den Verletzten herum, aber sie konnten letztendlich nichts
ausrichten.
Diesmal fand Ressah das Schauspiel nicht mehr erhaben, sondern nur noch unappetitlich
und grausam. Sie lag danach mehrere irdische Tage mit verknoteten Tentakeln und
Gedankenmustern in ihrer feuchten Schlafschüssel.
Padorak war kurz davor, den ganzen Auftrag hinzuschmeißen. Aber dann machten sie doch
weiter. Es würde schon schwierig genug sein, der Administration die ungeplante Pause zu
erklären. Aufgeben wäre als Verrat gewertet worden und die Strafe dafür war hart. Für
gewöhnlich war es die Deportation in eine Zeit, in der es auf Tannar kein intelligentes Leben
gab.
Die Vollstrecker richteten es stets so ein, dass niemand auf einen Leidensgefährten treffen
konnte, angeblich, um eine vorzeitige Vermehrung zu verhindern. Aber es war schon klar:
Alle Tannari fürchteten die Einsamkeit. Sie war noch schlimmer als der Hunger, die Angst und
ein schmerzhaftes Ende zwischen den Zähnen irgendwelcher archaischen Beutegreifer.
Während hässliche Bilder von ihrer bisher scheußlichsten Mission immer noch durch den
Geist des Befruchters waberten, fokussierte Ressah die Geräte auf die weiße Hemdbrust des
Auserwählten. Ein Tentakel von ihr lag zuckend auf der Bedienfläche des Transformers. Ihre
seelenvollen Stielaugen krochen beinahe in den Monitor, um die Ankunft der Kugel ja nicht
zu verpassen.
„Ressah, lass die Tastatur in Ruhe! Das erledigt doch alles der Computer“, mahnte der
Befruchter sanft.
„Ich weiß, aber mir ist wohler, wenn ich notfalls …“
Ein Signal schrillte: Da war das kleine Stück Blei!
Der Computer berechnete gerade die Transformation.
Ressahs Tentakel zuckte vor Aufregung.
Ein sinnloser Befehl formte sich: „Blau brechen Kristalle auf.“
Die Maschine zögerte.
Direkte Befehle der Erbauer hatten immer Vorrang.
Wegen der beginnenden Raumkrümmung fuhr die Kugel diesmal in die untere Hälfte des
hellen Körpers. Der Getroffene presste beide Hände auf die Wunde und drehte sich
wimmernd im Kreis. Erst schnell, dann wurde er langsamer und begann zu taumeln.
Irgendwann fiel er hin. Auf der dünnen weißen Schneedecke bildete sich die übliche rote
Pfütze.
Aber der Auserwählte gab diesmal nicht auf. Mühsam erhob er sich auf die Knie und reckte
eine seiner Vordergliedmaßen himmelwärts.
„Mitbürger!“, schrie er. „Ich wollte doch nur Frieden und Freiheit! Für Amerika und für die
ganze Welt! Frieden den Christen und Moslems! Frieden den Hindu und Juden! Frieden den
Erleuchteten und den Gottlosen! Frieden den Arbeitern, den Bauern und den Fischern auf
hoher See! Frieden dem Land und dem Fluss und Frieden dem ewigen Eis! Frieden! Gottes
Frie…“
Ein goldenes Licht umhüllte den Auserwählten wie ein kostbarer Mantel aus Tüll und trug ihn
leise summend himmelwärts.
Schon bald war seine Stimme nicht mehr zu hören.
Aber alle sahen noch lange die erhobenen Arme ihres Präsidenten.
Seine flehenden Gesten.
Oder waren es Segnungen?
Segnete er die ehrfürchtig verstummte Menschenmenge?
Sein Volk? Den Erdkreis?
Der erschlaffte Mensch schwebte, immer noch eingehüllt in das goldene Gespinst, durch die
Wände und Schotten des Tannarischiffs und sank leicht wie ein Blatt Datenfolie vor Ressahs
Funktionsschüssel zu Boden. Eine Spur aus roten klebrigen Tropfen markierte seinen Weg.
Die Tentakel der Eiträgerin fluteten über den leblosen Körper, öffneten geschickt Knöpfe und
Reißverschlüsse, erkundeten das Terrain unter der Kleidung, tasteten sich zögernd zu der
blutenden Wunde vor. Dann zog sie ihn geschickt aus und ihre Stielaugen musterten
interessiert die fremdartige Ausstattung des Auserwählten. Dass Menschen in der Mitte des
Körpers einen einzelnen kurzen Tentakel besaßen, war der Tannari neu.
„Wieder ein Misserfolg!“, überlegte derweil Padorak. „Obendrein ist unser Eingreifen
entdeckt worden! Ich drehe am besten sofort die verdammte Zeit zurück. Damit wird zum
Glück auch unser Versagen ausgelöscht. Ressah! Wie konntest du nur so unvorsichtig sein,
den Auserwählten vor den Augen so vieler Menschen zu transportieren?“
Als er sich zielstrebig der Konsole näherte, schnellte ein Fangarm seiner Gefährtin blitzschnell
vor und fegte seine ausgestreckten Scheinfinger beiseite.
„Lass das!“ Ressahs Gedanken dröhnten ungewohnt laut in seinen Geist. „Noch ist der
Auserwählte am Leben und ich werde nicht zulassen, dass er noch einmal stirbt. Ich
unterbreche jetzt den Tanz des Murmeltiers auf meine Weise.“
„Du willst diesen Menschen wieder zusammenkleben? Davon verstehst du nichts! Du bist
Temporalphysikerin und keine Heilerin.“
„Meine Mikrobots werden wissen, was zu tun ist. Ich habe sie, bevor wir abgeflogen sind, auf
menschliche Anatomie und Physiologie programmieren lassen.“
„Von wem?“, fragte der Befruchter scharf. „Du hast dich hoffentlich nicht mit den Pakatoh
eingelassen! Jeder weiß, dass sie die Gesetze der zivilisierten Welten nicht achten.“
„Ja, ich habe solche Gerüchte auch gehört. Aber die Unterhändler haben mir versichert, dass
sie nur ordnungsgemäß erworbene Ware benutzen würden. Ware, die bereits so gut wie tot
wäre und von der ganzen Prozedur nicht viel mitkriegen würde.“
Padoraks mentaler Aufschrei ließ Ressah erzittern.
„Die haben dich belogen! Ich sah vor langer Zeit eine Aufzeichnung von so einer
Programmierung. Das entsprechende Lebewesen wird bei vollem Bewusstsein
Aufputschmittel sorgen dafür, dass es besonders lange wach bleibt, nackt in eine
dickwandige durchsichtige Kiste gelegt. Dann werden die Mikrobots hinzugegeben. Je nach
Auftrag etwa hundert bis viertausend Stück. Der Deckel wird verschlossen und die
Luftversorgung aktiviert.
Jede einzelne der kleinen Maschinen geht beim Studium der fremden Physiologie auf die
gleiche Weise vor. Erst wird die Oberfläche abgetastet, dann wird irgendwo die Haut Schicht
für Schicht abgetragen, Muskeln, Sehnen, Knorpel und innere Organe freigelegt. Nur das
harte Stützskelett bleibt am Ende übrig. Anfangs windet sich die zur Schablone degradierte
Kreatur wie ein abgeschnittener Tentakel und erfüllt, je nach Spezies, das Labor mit
mentalem und akustischem Getöse in den merkwürdigsten Frequenzen. Irgendwann hört
man nur noch das Schaben und Piepsen der kleinen Geräte. Ich bin bestimmt kein Freund der
Menschen aber so ein Ende wünsche ich nicht einmal diesen Scheusalen. Wie konntest du
dich nur mit den Pakatoh einlassen!“
Während Padorak dachte, stopfte Ressah mit flinken Tentakelspitzen schonungslos
achtundzwanzig viel zu große, silbrig glänzende Eier in die Wunde des Auserwählten.
Der Mensch begriff nicht, was mit ihm geschah. Aber der scharfe Dehnungsschmerz schnitt
sich durch die Dämmerung seines erlöschenden Bewusstseins und ließ seine Nervenenden
jählings aufkreischen. Bei jedem Mikrobot, der durch das Loch im Bauch in das Innere seines
Körpers gepresst wurde, gab er einen kraftlosen Klagelaut von sich.
Nachdem Ressah endlich fertig war, verschloss sie die Öffnung sorgfältig mit einem Pflaster.
Dann zog sie den Auserwählten zu sich in die Schüssel, massierte ihn nachdrücklich mit ihren
Tentakeln und verhinderte so, dass er in tiefe Bewusstlosigkeit oder gar den Tod abdriften
konnte, während die Mikrobots Adern, Nervenenden und Fleisch wieder
zusammenschweißten und das geronnene Blut in der Bauchhöhle vertilgten, Aufputschmittel
spritzten und den Geist des Verwundeten mit verlockenden Visionen überwältigten.
Der Reparaturvorgang war für den Verwundeten eine Mischung aus unerträglichem Schmerz
und wilder, sieghafter Euphorie. Kraft wuchs aus neuen Muskeln und Sehnen, die so fest
waren, wie nie zuvor. Synthetisches Blut spülte Sauerstoff und Nahrung in alle Gliedmaßen
und Organe.
Vor allem in den Gehirnknubbel.
Die häutigen Deckel über den Sehorganen des Auserwählten und der zarte Rand seiner
Essöffnung zuckten.
Die Mikrobots hatten den Tod vertrieben.
Erst als sie sicher sein konnte, dass das Schlimmste überstanden war, wandte sich Ressah
ihrem Gefährten zu.
„Ich war auf Pakat nicht nur bei den Metzgern“, informierte sie Padorak. „Vorher habe ich Rat
bei einem würdigen alten Futurmanen gesucht. Er empfahl mir ausdrücklich, solche
Mikrobots für alle Fälle mitzunehmen. Er meinte, nur so könnten wir die Zeitlinie sicher
ändern. Es ist schon klar: Selbst die wilden Pakatoh fürchten die Menschen und ihre
unersättliche Gier.“
„Futurmanen sind Pfuscher und Scharlatane!“, ereiferte sich der Befruchter. „Sie vermischen
Wissenschaft mit Aberglauben, machen für Geld alles und das ohne den Rat einer
Ethikkommission.“
„Weißt du“, widersprach die Eiträgerin langsam. „Diese Ethiker konnten mir noch nie wirklich
helfen. Ihr ganzes abstraktes Gedenke sorgt nicht einmal dafür, dass ein einzelner Mann
überleben kann. Und wenn nur deshalb, weil vor lauter Bedenken niemand energisch zu
handeln wagt, eine ganze Galaxis unter die Räuber fällt, kann diese hochtrabende Sittenlehre
nicht viel wert sein. Ich finde, in den Lehrschüsseln sitzen zu viele ungebundene Befruchter.
Die haben doch keine Ahnung, wie das wirkliche Leben ist.“
Ihrem Gefährten schüttelte es sämtliche Tentakel.
Beinahe wäre er seitwärts aus seiner Schüssel gefallen.
„Du gibst dich mit Barbaren ab, bewunderst den albernsten Kitsch von der Erde … und nun
wagst du es auch noch, meine Moral zu kritisieren? Ich soll eine Bestie sein, weil ich aus
Erfahrung nur einer zugegebenerweise radikalen Lösung des Menschheitsproblems vertraue,
während du … ist dir überhaupt klar, wie grausam der Gefangene, den deine Mikrobots als
Schablone verbraucht haben, leiden musste? Und jetzt tentakelst du einen anderen
Menschen, als wäre er dein liebster Befruchter!“
Die Stielaugen der Eiträgerin bogen sich einen Moment schamhaft nach unten.
„Ich weiß, dass der Auserwählte in jeder Hinsicht inkompatibel ist … und dass er mich, wenn
er aufwacht, vermutlich extrem abstoßend finden wird. Eigentlich sollte mir so ein
kümmerlicher Vierfüßler auch nicht gefallen, aber er ist der Schlüssel zu einer besseren
Zukunft und das macht ihn in meinen Augen schön. Ich entschuldige mich nicht dafür, dass
ich einen bösartigen Soldaten von der Erde geopfert habe, um einen guten Präsidenten von
der Erde retten zu können.“
Durch die Essöffnung des Erdenbewohners strömte jetzt gleichmäßig und kräftig Luft ein und
aus. Unter ihren Deckeln rollten die Sehorgane wie Kugeln hin und her.
Bald würde er aufwachen.
Die Eiträgerin benetzte seine Haut mit salzigem Wasser aus ihrer Funktionsschüssel und
umwickelte ihn sanft und fest zugleich mit ihren Tentakeln, bis von dem ganzen
Auserwählten nur noch der Gehirnknubbel zu sehen war.
„Ressah ist so frei, ein Leben mit einem anderen zu bezahlen!“
Padorak wurde mit einem Mal klar, dass er seine Gefährtin nur sehr oberflächlich kannte und
ein leiser Schauder kroch durch seine Ganglien.
Vielleicht wäre es gar nicht so schlimm, in einem Rudel auserwählter Befruchter zu leben,
sich seinen Studien und Ämtern zu widmen und ab und an zu einer namenlosen Palette mit
glasig schimmernden Tannarieiern gerufen zu werden.
Die Anonymität gab der Fantasie freien Raum.
Rosafarbige Wasserblumen wiegten sich während der Begattung anmutig in den Wellen. Alle
Eiträgerinnen waren natürlich ausgesucht gütig und schön. Die Gedankenmuster der
Befruchter glühten zärtlich …
Ressah war in Wirklichkeit ganz anders als in Padoraks Träumen: stark, skrupellos und sehr
gefährlich! Sie war, wie die Göttinnen der Vorzeit, Schöpferin und Zerstörerin zugleich.
Die Essöffnung des Auserwählten schnappte schon eine Weile in immer schnellerem
Rhythmus nach Luft … im selben Rhythmus, in dem Ressahs Tentakel seinen kraftlosen
Körper bearbeiteten. Im Rhythmus der allerheiligsten, der lebensspendenden Tentakelung.
Heiler benutzten sie zur Erleichterung der Eiablage. Mütter trösteten damit ihre
todgeweihten missgebildeten Kinder.
Und die Liebenden …
Unzählige Male hatte Ressah ihren Gefährten so umschlungen und massiert. Seinen Atem
und den Schlag seiner Pumpen in Einklang mit ihrem Tanz gebracht.
Unzählige Male hatte er dasselbe mit ihr getan.
Jetzt massierte sie mit ekstatischem Summen einen Menschen.
Einen Feind!
„Sie wird das mickrige kleine Ding zerquetschen“, dachte der Befruchter mit einiger Häme.
Aber nichts dergleichen geschah.
Stattdessen färbten sich die Lippen des Menschen rötlich. Graue Kreise glänzten zwischen
den weit offenen Schutzklappen der Sehorgane. Aus der Essöffnung quollen hohe halb
erstickte Laute. Sie hatten keinerlei Ähnlichkeit mit der dunklen volltönenden Rednerstimme
des Auserwählten.
„Sei still!“, schnurrten Ressahs Gedanken. „Ich tu dir nichts.“
Dann schlängelte sich der geschmeidigste und längste ihrer rosigen Vordertentakel energisch
in die Futterluke des Menschen, kroch bis tief in seine Eingeweide und holte ein silbrig
glänzendes Ei heraus.
Die Eiträgerin ließ den Auserwählten barmherzig ein paar Mal nach Luft schnappen, dann
verschwand ihr Tentakel erneut in seinem Verdauungstrakt und brachte einen weiteren
Mikrobot zum Vorschein. Dann noch einen und noch einen.
Dass dabei jedes Mal die Luftröhre des Menschen abgedrückt wurde, ließ sich leider nicht
vermeiden.
Endlich lagen alle achtundzwanzig Miniaturroboter auf der Konsole. Sie sahen so harmlos
wie Spielzeug aus.
Diesmal empfand Padorak tiefes Mitleid mit dem Mann.
Er wusste, wie wichtig es war, die Bots ganz schnell wieder herauszuholen, wenn es für sie
nichts mehr zu tun gab. Es waren autonome ungezähmte Maschinen, wie sie nur eine
destruktive Spezies wie die Pakatoh ersinnen konnte.
Manche machten ihre Reparaturen aus purer Langeweile rückgängig, nur um wieder Arbeit
zu haben. Andere vagabundierten durch den Körper, nahmen hier und da Proben oder
zerhäckselten die Patienten von innen.
Es war allgemein bekannt, dass die Pakatoh ihre Mikrobots nicht nur als Heilmittel, sondern
auch zum Zweck heimlicher Tötungen und für die Vollstreckung von Todesurteilen
verkauften.
Es war richtig, was die fürsorgliche Eiträgerin tat. Sie war sogar vernünftig genug, nach jedem
gefundenen Mikrobot eine kleine Pause einzulegen. Trotzdem war der Auserwählte die ganze
Zeit über dem Tod sehr nahe … aus Angst und weil er viel zu wenig Luft bekam.
Als es endlich vorbei war, hing er reglos mit verzerrter Knubbeloberfläche in Ressahs
Tentakeln.
Es dauerte eine Weile, bis sich die Klappen über seinen Sehorganen wieder hoben.
„Ich protestiere!“, krächzte der Mann mit schwacher Stimme. „Wer immer ihr seid, was
immer ihr mit mir vorhabt, ich protestiere!“
Als Erstes entstand eine kleine Flamme in der Finsternis des Nichtseins. Sie wurde größer und
größer, breitete sich wie ein Buschfeuer im sommerlichen Kalifornien aus.
Plötzlich gab es auch etwas, das sie verschlingen konnte: dürre Bäume, Häuser, fliehende
Menschen.
Das gefräßige Feuer brüllte wie ein hungriger Tiger.
Die Flüchtenden schrien ebenfalls.
Hoch und schrill.
Und dann war da noch ein gleichmäßiges Stampfen wie von einer Pflastermaschine, riesigen
unförmigen Füßen oder einer gigantischen Trommel, die jemand mit penetranter
Gleichförmigkeit schlug.
Das Trommeln war nicht nur in den Ohren, sondern auch überall auf der Haut.
Oder nein … das auf der Haut waren eher schmatzende Münder, die sich abwechselnd
festsaugten und wieder lösten. Es war ekelhaft und es tat ein bisschen weh.
Überall entstanden kleine runde Monde auf dünner weißer Haut. Wunde Flächen, deren
Winseln sich langsam zu einem mentalen Schrei verdichtete.
„Hilfe! Hilfe! Ich werde gehäutet! Rettet mich! Verjagt den Trommler und rettet mich!“
Niemand erhörte den geschundenen Mann.
Irgendwann wurde ihm klar, dass er die Augen öffnen musste, um zu sehen, was los war.
Um herauszufinden, ob er das brüllende Feuer war, einer der kreischenden fliehenden
Menschen oder nur ein Stück empfindliches weißes Fleisch, an dem sich ein Heer riesiger
Blutegel abarbeitete.
Anfangs waren seine Lider schwer wie bleierne Deckel.
Der Mann sprach sich selbst Mut zu.
„Du bist doch Abraham Thomas Robins, Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, ein
mächtiger Mann, an dem sich niemand ungestraft vergreift. Wer immer diese stampfenden
Mistviecher auf dich losgelassen hat, muss für seine Respektlosigkeit und Grausamkeit
bezahlen. Los! Öffne endlich die Augen und identifiziere die Verbrecher!“
Niemand nahm ihn zur Kenntnis..
Nur die allgegenwärtigen Angstschreie wurden immer lauter und höher.
Als es ihm endlich gelang, die Augen zu öffnen, flutete grelles weißes Licht auf die an die
Dunkelheit gewohnte Netzhaut des Menschen. Erst nach und nach konnte er Einzelheiten
seiner Umgebung wahrnehmen.
Da waren zunächst auf ihm und um ihn armdicke Schlangen, die an der Unterseite mit
unzähligen Saugnäpfen ausgestattet waren. Ihre Farbe schwankte zwischen Braun und Rosa.
Der Präsident musste mit leichtem Brechreiz an die Regenwürmer denken, die er als Kind aus
dem Komposthaufen im Garten gewühlt hatte, um sie später auf Angelhaken zu spießen.
Das, was ihn umschlungen hielt, fühlte sich ganz ähnlich wie die Würmer an: zart, ein
bisschen feucht und klebrig … nur dass es viel größer war. Die Saugnäpfe taten das, wozu sie
da waren, sie lutschten eifrig an der weißen Haut des Präsidenten, die sich immer mehr rot
verfärbte.
Erst jetzt wurde dem Unglücklichen bewusst, dass er splitternackt war, ohne alle Hilfsmittel
und allein mit diesen gierigen Schlangen … oder Fangarmen, Tentakeln … was auch immer.
Allein mit acht himmelblauen Augen an langen Stielen, die über sein Gesicht und seinen
Körper wanderten und überall hinkrochen … auch zu den intimsten Stellen.
Sogar in seine Körperöffnungen!
Zuerst zogen sich die empfindlichen kugeligen Sehorgane wie bei einer Schnecke zurück …
dann drangen ihre festen Stiele energisch vor. Im Inneren angelangt schienen sich die Augen
wieder neugierig vorzustülpen. Zumindest fühlte es sich so an, als würde eine dicke Kugel in
einen Schlauch hin und her geschoben.
Robins stemmte sich heftig gegen die fleischigen Fesseln. Auf einmal konnte er den Kopf ein
wenig drehen und in einiger Entfernung ein merkwürdiges Geschöpf sehen, das in einer
durchsichtigen, mit Wasser gefüllten, Schüssel hockte und mit seinen Tentakeln auf einem
Brett voller Lichtflecken herumhämmerte, offenbar dem außerirdischen Pendant einer
Computertastatur.
Das andere Wesen war blaugrau und ungefähr so groß wie ein Kleinwagen. Es hatte einen
schneckenhaften Fuß, auf dem es sich wahrscheinlich gleitend fortbewegen konnte,
außerdem acht besonders dicke Tentakel in der Nähe des Fußes und acht dünnere am
anderen Ende des glitschigen Körpers, von denen einige zu einer Art Finger aufgespalten
waren. Ein Kopf war nicht zu erkennen, wohl aber eine runde, von spitzen Zähnen umsäumte
Öffnung und acht schwarze Augen an langen geschmeidigen Stielen.
Das blaugraue Wesen beachtete den Menschen nicht.
Und auch nicht die eintönigen Klagelaute, die aus seinem Mund quollen.
Das regenwurmfarbige Alien hebelte inzwischen mit seinen klebrigen Scheinfingern den
Mund des Präsidenten auf und stopfte einen seiner Tentakel tief in seinen Rachen.
Die Schreie verstummten abrupt.
Robins fühlte, wie eine dicke Schlange in seine Speiseröhre kroch und ihm ganz nebenbei die
Luft abdrückte. Wie etwas schmerzhaft tief in seinen Inneren zu wühlen begann.
Die Pforte des Magens wurde brutal aufgestoßen und ätzender Saft ließ die zarten
Schleimhäute auf der anderen Seite winseln.
Dann weitete die Schlange energisch den Darm des Menschen, kroch vorwärts, ballte sich
am Ende plötzlich zu einer Kugel zusammen und zog sich eilig zurück.
Endlich konnte der Mensch wieder Luft in seine brennenden Lungen saugen. Seine Brust hob
und senkte sich hektisch.
Da bohrte sich der Tentakel schon wieder in seinen weit offenen Mund.
Wieder und wieder.
Robins gab es auf, sich gegen das Monster zu stemmen.
Er hatte längst aufgehört, die Attacken zu zählen, schloss die Augen und war nur noch mit
dem Überleben beschäftigt.
Er merkte nicht sofort, dass die Angriffe des Tentakels aufgehört hatten, dass er endlich
wieder frei atmen durfte!
Ein paar Mal sog er die merkwürdig duftende Luft tief in seine Lungen.
Dann öffnete er wieder langsam die Lider.
Über ihm waren immer noch die himmelblauen Stielaugen.
Sie blickten ihn merkwürdig intensiv an.
Liebevoll?
Besorgt?
„Ich protestiere!“, krächzte der Präsident mit dem Mut der Verzweiflung. „Wer immer ihr
seid, was immer ihr mit mir vorhabt … ich protestiere!“
Die beiden Tentakelmonster schwiegen.
Robins wusste nicht, ob er lachen oder vor Angst schreien sollte. Wie es schien, hatten ihn
Außerirdische entführt! Keine kleinen grünen oder grauen Männchen sondern seltsame
riesige Krakenschnecken. Statt den technokratischen Weg zu gehen und mit spitzen
Instrumenten in ihm herumzustochern, hatten ihn die Wesen mit ihren Tentakeln halb tot
gewalkt und sich brutal durch seine Eingeweide gezwängt.
Im Moment ließen sie ihn in Ruhe.
Sie hatten Augen und Tentakel einander zugewandt und wedelten heftig mit beidem. Konnte
es sein, dass diese merkwürdigen Lebewesen sich mit Zeichen verständigten wie
Taubstumme?
Der Präsident war sich nicht einmal sicher, ob all das überhaupt real war. Das konnte auch
mit dem Sterben zusammenhängen. Schließlich hatte ihn jemand in den Bauch geschossen.
Oder er lag im Krankenwagen und die Medikamente füllten seinen Kopf mit blankem Unsinn.
Intelligente Riesenkrakenschnecken!
Auf so etwas kam nicht einmal der gewitzteste Science Fiction-Autor!
So etwas konnte es überhaupt nicht geben!
Doch jetzt fiel Robins ein, wo er so ein verrücktes Tier schon einmal gesehen hatte: Als
kleiner Junge hatte er ein Bilderbuch mit geteilten Seiten besessen. Auf jeder war ein Tier
abgebildet und man konnte beim Blättern die verrücktesten Kombinationen kreieren.
Den Hamsterwolf zum Beispiel oder die Storchkröte.
Den Schweinekäfer, die Löwenmaus …
Warum nicht auch eine Krakenschnecke?
„Das ist ein ganz gewöhnlicher Drogentrip“, beschloss der Präsident. „Ich werde schon bald
im Krankenhaus aufwachen. Rosie und die Kinder werden an meinem Bett sitzen.“
Bei dem Gedanken an seine Frau wurde ihm warm.
Wahrscheinlich würde es nicht lange dauern, bis die Journalisten um sein Bett wuseln und
dämliche Fragen stellen würden. Bloß was sollte er denen sagen?
Das regenwurmfarbige Alien pinselte gerade seinen Kopf mit gelbem prickelndem Schaum
ein … und wischte ihn nach kurzer Zeit mitsamt den dichten braunen Haaren, auf die Robins
übrigens sehr stolz war, ab. Über den blanken Schädel zog es eine Art durchsichtige, mit
silbernen Stiften übersäte, Badekappe.
Auf dem dreieckigen Monitor erschien ein Wellenmuster.
„Jetzt messen sie also meine Hirnströme“, dachte der Mensch. „Noch so ein Klischee! Und
dann entreißen sie meinem Gedächtnis sämtliche Geheimnisse Amerikas. Am besten denke
ich jetzt überhaupt nichts mehr … aber wenn die mich nun foltern?“
Auf einmal lief ihm der Angstschweiß über das Gesicht.
Das Krakenmonster tupfte ihn behutsam mit einem weichen Tuch ab und streichelte mit
einem anderen Tentakel seinen nackten Bauch.
„Das Vieh wird mich doch nicht etwa …“
Da umfassten die glitschigen spitzen Scheinfinger schon sein Glied … und nun hörte er
tatsächlich auf, zu denken.
Eine kleine Ewigkeit später beobachtete er, wie sich ein zweites Linienmuster über die
Aufzeichnung seiner Gehirnströme legte.
Das regenwurmfarbige Wesen, seine Nemesis, kroch schwerfällig aus seiner Schüssel und
verschwand mit vernehmbarem Schmatzen durch eine runde Luke.
Das graublaue Wesen hämmerte weiter irgendetwas in die fremdartige Tastatur und die
Linien verschoben sich, sie näherten sich einander an, wurden zu einer.
Plötzlich war eine fremde dunkle Stimme in Robins Kopf.
„Kannst du mich verstehen, Erdenwesen? Was können wir für dich tun?“
„Gebt mir bitte etwas zum Anziehen“, sagte der Präsident leise. „Mir ist es so peinlich …“
„Deine zerfetzten Hüllen habe ich leider in den Desintegrator geworfen“, unterbrach ihn das
blaugraue Wesen sanft. „Aber ich kann dir ein passendes Stück Stoff von der Rolle
schneiden.“
Der sogenannte Stoff war eine federleichte weiche Spiegelfolie. Da die Krakenschnecken
unbekleidet waren, diente er vermutlich normalerweise ganz anderen Zwecken.
Der Präsident schlang ihn kurz entschlossen um seinen Körper und verknotete zwei Zipfel
über einer Schulter. Jetzt sah er wie die technokratische Variante eines antiken Römers aus.
Nur dass seine Toga keinen Purpurstreifen hatte, sondern wie ein überladener
Weihnachtsbaum funkelte. Außerdem war das merkwürdige Kleidungsstück immer noch an
einer Seite völlig offen. Der kleinste Windstoß konnte seine intimsten Körperteile entblößen,
obwohl natürlich in einem Raumschiff nicht mit Wind zu rechnen war.
Aber immer noch mit dem Krakenmonster.
Das blaugraue Wesen schob ungeniert die Spiegelfolie beiseite und musterte den
Präsidenten neugierig.
„Dieser kurze Tentakel in der Mitte … ich habe so etwas schon bei toten Menschen gesehen.
Unsere Heiler halten das für ein Begattungsorgan, aber ganz sicher sind sie sich nicht.“
Robins Kopf färbte sich abrupt ziegelrot.
„Ähem … nun ja … Hmmm …“, murmelte er verlegen.
„Deine Spezies hat den Lebensbringer mit einem Tabu belegt? Deshalb war dir die Kleidung
so wichtig. Bitte entschuldige unseren mangelnden Respekt.“
Die Krakenschnecke wickelte den glänzenden Stoff wieder sorgfältig um den blassen Körper
des Menschen und band ihm als Gürtel eine Kabel um die Taille.
Ihre Verlegenheit nahm dem Präsidenten einen großen Teil seiner Angst. Nur ganz tief in
seinem Unterbewusstsein blieb ein Zittern zurück.
„Ihr habt gut reden, ihr braucht keine Kleidung“, dachte er. „Ihr habt offenbar keine
Geschlechtsorgane und keinen Grund, euch zu schämen.“
Über die blaugraue Haut des Außerirdischen huschen fröhliche hellblaue Kringel und die
Saugnäpfe färbten sich tiefviolett.
„Du bist ein amüsanter kleiner Kerl! Wir und keine Genitalien! Komm her, ich zeig sie dir.“
Das Zittern im Unterbewusstsein des Menschen verstärkte sich, während er, nach außen hin
ruhig, ganz dicht an den glitschigen Körper trat.
„Hier“, sagte die Krakenschnecke und zeigte auf eine umfängliche Beule unterhalb seines
furchterregenden Mauls. „Du musst es nur kräftig reiben.“
Robins strich vorsichtig über die Wölbung. Sie fühlte sich weich und zart an … und ein
bisschen klebrig, wie alles an diesen merkwürdigen Geschöpfen.
„Kräftiger!“, befahl das Alien und der Mensch gehorchte stumm.
Plötzlich platzte der Hügel auf und aus einer verborgenen Hauttasche schnellte ein glatter,
zwei Meter langer Tentakel hervor. Er hatte nur eine kleine Verdickung am Ende, die eine
kreisrunde Öffnung umschloss und er war so stark und beweglich wie eine Anakonda.
Der Tentakel schwang direkt vor Robins Augen großspurig hin und her, presste sich
spielerisch an sein rechtes Ohr. Plötzlich schoss eine warme Flüssigkeit in seinen Gehörgang.
Der Präsident kam aus einfachen Verhältnissen und entsprechend schlicht war auch seine
Reaktion.
„Verdammt! Ich habe dir nicht erlaubt, dein Protzding in mein Ohr zu schieben … und auch
nirgendwo anders hin!“
„Schau nur, was für ein prächtiger Lebensspender das ist!“, entgegnete der Tannari stolz.
„Und nun denk an dein schrumpeliges Tentakelchen!“
„Der wird größer, wenn er gebraucht wird. Groß genug für meine Rosie.“
Vorsichtshalber wandte sich Robins ab und schielte noch einmal unter seine provisorische
Toga.
Er fand sich stattlich für einen Menschen … und mit dem Protzwurm der Krakenschnecke
konnte sowieso keine Humanoider konkurrieren.
„Mit dem Protzwurm, mit dem Protzwurm … dem verdammten Protzwurm …“
Seine Exzellenz der Präsident konnte nicht anders. Er warf sich kichernd zu Boden, rollte in
Ekstase hin und her und fuchtelte begeistert mit beiden Armen.
„Geht es dir gut?“, erkundigte sich das Alien besorgt. „Du schreist, als hätte dich meine
Ressah in den Tentakeln und gleichzeitig leuchtet dein Geist wie eine kleine Sonne. Das
verstehe ich nicht.“
„Puh!“, schnaufte Robins begeistert. „Hast du eine Ahnung, wie oft ich als Jugendlicher
meinen Lümmel mit denen der anderen Jungs verglichen habe. Wir haben sogar mit dem
Lineal ausgemessen, wer von uns am besten ausgestattet war.“
„Das ist bei uns Tannaribefruchtern genauso. Wir verwenden modernste digitale Technik, um
die Länge und Dicke unserer Lebensspender zu ermitteln. Es gibt sogar illegale Wettbewerbe
und heimliche Meistertitel. Trotzdem würde kein Tannari die Unschicklichkeit begehen, sich
in aller Öffentlichkeit zu entfalten.“
Der Mensch wagte es, den schnurgerade ausgestreckten Begattungstentakel seines
Gesprächspartners mit den Fingerspitzen zu berühren.
„Bestimmt gehörst du auch zu den Meistern …“
„Ich bin Großmeister dritten Grades“, bestätigte das Alien stolz. „Meine Ressah hätte sich mit
weniger auch nicht zufriedengegeben. Sie schaut jedes Mal zu, wenn ich hoch aufgerichtet
über ihrer Palette stehe und ihre reifen Eier in meinem Saft bade.“
„Du dringst nirgendwo ein?“
„Nein, höchstens mit meinen Augen. Das kann sehr intim und inspirierend sein. Sie
vermögen auch in tiefster Finsternis zu sehen und feinste Nuancen zu ertasten.“
Der Präsident fühlte sich hin und her gerissen.
Manchmal reagierte die Krakenschnecke beinahe wie ein Mann von der Erde – dann wieder
war sie völlig fremdartig. Auf jeden Fall war es unlogisch, vor ihr Angst zu haben. Sie war ein
Seelenverwandter, eine Inkarnation reiner Männlichkeit, und absolut vertrauenswürdig.
Das regenwurmfarbige Wesen, offenbar ein Weibchen, hatte ihn möglicherweise
vergewaltigt.
Zumindest hatte es seine Augen überall hereingezwängt. Aber da das nicht zum eigentlichen
Geschlechtsakt gehörte, war es wohl aus menschlicher Sicht nur eine sehr üble Belästigung.
Nichts, was zwischen ihm und dem blaugrauen Männchen stehen musste.
Obwohl … die Wurmfarbige war auf irgendeine schräge Weise an ihm interessiert. Vielleicht
bot das männliche Krakenmonster sogar ein wenig Schutz vor ihr?
„Ich heiße Abraham Thomas Robins und bin der Präsident der Vereinigten Staaten von
Amerika“, sagte und dachte der Mensch feierlich. „Willkommen in der Umlaufbahn meines
Planeten. Verrätst du mir, worum es geht? Was euer Auftrag ist?“
„Ich heiße Padorak“, erklärte die Krakenschnecke nicht weniger bedeutungsschwanger. „Ich
bin ein offiziell zugelassener Befruchter vom Planeten Tannar und der Gefährte der
ehrenwerten Eiträgerin Ressah. In den nächsten Zeiteinheiten wird sich entscheiden, wie viel
wir dir verraten dürfen.“
In dem Moment kroch Ressah aus der Luke zum Wohntrakt.
„Ihr habt euch, während ich geschlafen habe, auf dieselbe Eipalette gelegt?“, fragte sie
verblüfft.
„Hmmmm“, summte Padorak zustimmend.
„Ich dachte, du magst keine Menschen!“
„Diesen hier schon. Komm, meine liebste Eiträgerin, ich vereinige noch eure
Gedankenmuster. Dann könnt ihr auch miteinander reden.“
„Tu das!“, befahl Ressah schroff. „Ich will wissen, was ihr zwei da ausbrütet.“
„Schickt ihr mich irgendwann zurück zu meiner Rosie?“, fragte der Mensch leise.
„Du bist offiziell tot und gen Himmel aufgefahren“, dachte die Eiträgerin herb. „Klär du ihn
über die Konsequenzen auf, Padorak.“
„Wir sind Zeitreisende“, sagte der Befruchter ernst. „Wir haben von der Administration der
Viertelgalaxis den Auftrag erhalten, das Problem Mensch zu lösen. Auf die eine oder andere
Weise. Erst wenn wir in unsere eigene Zeit zurückgekehrt sind, werden wir wissen, ob uns
das gelungen ist“
Da kroch die Angst wieder zurück in das Bewusstsein des Menschen: „Meine Spezies ist
offenbar weder beliebt noch angesehen. Was zum Teufel ist hier los?“
Der Präsident wagte es nicht, nach der Zukunft der Menschheit zu fragen. Noch nicht.
Fünf Tage vergingen.
Die meiste Zeit schlief der Präsident in einer gemütlichen, mit weichem Stoff ausgepolsterten
Babyschlafschüssel.
Ressah ließ ihn in Ruhe, nachdem er unter ihren Tentakeln vor Angst steif geworden war.
Sie verstand ihn und sie ärgerte sich über ihn. Das alles war ihr viel zu kompliziert und so
vertiefte sich die Eiträgerin lieber in die Daten von der Erde, entdeckte eine neue Seifenoper
und einen spektakulären Film über den Freiheitskampf blauer Außerirdischer, ein echtes
Meisterwerk, das die ganze Wahrheit über die Verbrechen der Menschheit aufdeckte.
Das konnte doch unmöglich von einer dieser bösartigen Kreaturen stammen! Vielleicht
waren noch andere Spezies der Viertelgalaxie in die Vergangenheit gereist, um das Gewissen
der vierbeinigen Pest da unten aufzurütteln?
„Wir sollten Kontakt aufnehmen“, überlegte die Eiträgerin. „Da unten wartet ein Freund …
egal ob es ein krakeliger kleiner Vierfüßer oder ein verborgenes Wesen von unserer Art ist.“
Sie lag die ganze Nacht wach in ihrer Schüssel und grübelte.
Am nächsten Tag stieß sie auf einen Informationsschnipsel, wo Menschen unter Anleitung
eines schwarz gekleideten weißhaarigen Mannes pathetische Lieder sangen.
Der Mensch erklärte seinen Schülern, oder was immer die waren, wortreich die Welt.
Tönte laut und mit verzücktem Gesichtsausdruck von „Gott in der Höhe und den Menschen
ein Wohlgefallen“.
„Die haben uns doch hoffentlich nicht entdeckt!“, überlegte Ressah in einem Anfall von
Panik. „Was machen wir, wenn die Menschen mit ihren winzigen zerbrechlichen Shuttles
starten? Wenn sie zu uns kommen und Antworten verlangen oder uns mit Fusionsbomben
auslöschen wollen? Ja, ihr Administratoren und Beschützer: Das alles hier habt ihr nicht
geplant!“
Obwohl die Worte des schwarz gewandeten Mannes verführerisch süß und friedlich klangen,
flößte ihr diese Singestunde Furcht und Abscheu ein.
Vierfüßern, die zu Hause Bleispritzen und andere gefährliche Gegenstände horteten, standen
solche freundlichen Lieder nicht zu!
„Wie kann man nur so verlogen sein! Müssten die nicht eigentlich brav wie
Weinbergschnecken ihren Salat nagen und ihre Nächsten bei jeder Gelegenheit liebevoll
tentakeln? Dürfen Räuber und Mörder zu so einem sanften Gott singen? Zu einem, den sie
selbst vor Äonen an einen Baumstamm genagelt und gemütlich zugesehen haben, wie er
qualvoll krepiert ist? Wie geht das? Frieden sei Gott in der Höhe! Und dann überfallen die
unseren Planeten und fressen unsere Eier?“
Ressah war sich auf einmal nicht sicher, dass der Mann da unten mit Gott ein technisch und
zivilisatorisch überlegenes Wesen meinte … einen Besucher aus dem All. Womöglich
verstanden die Menschen darunter keine Macht der Vernunft sondern etwas ganz und gar
Unvernünftiges?
„Gepriesen sei Sankt Abraham!“, sang der Vierfüßer mit den weißen Haaren auf dem
Bildschirm. „Du hast uns den Weg ins Himmelreich gezeigt. Du sitzt auf einem güldenen
Thron an der Seite des allmächtigen Vaters. Du bist der Erbe Jesu, unser neuer Herr!
Gepriesen sei Sankt Abraham. Seine Weisheit leuchtet wie der Stern von Bethlehem, seine
Gedanken sind erhaben und klar wie Bergkristall. Sankt Abraham! Sankt Abraham! Sieh
unsere Leiden und steh uns bei.“
„Padorak muss sich das auch ansehen“, überlegte Ressah. „Er kann doch nicht die ganze Zeit
an unserem Gast herumtentakeln!“
Padorak kümmerte sich seit fünf Tagen um den Präsidenten, weil der offensichtlich eine
Heidenangst vor Ressahs Ungestüm und Macht hatte.
Er stellte nach Anweisung des Computers Mahlzeiten für ihn zusammen, verabreichten ihm
einen milchigen, schwach fruchtig schmeckenden Saft mit wertvollen Aufbaustoffen und
legte auf seinen nackten zitternden Bauch heilende Saugpflanzen aus dem südlichen
Wumarameer seines Heimatplaneten.
Dreimal täglich nahm er dem Menschen sein funkelndes Gewand, sammelte die
Saugpflanzen ab, verstaute sie in einem Wasserglas … und dann tentakelte er ihn mit
Respekt, Sorgfalt und maßvoller Leidenschaft, was Gedanken, Stoffwechsel und Kreislauf
ordentlich in Schwung brachte.
Langsam ging es Robins besser.
Irgendwann waren die Schmerzen und die Schwäche vollständig verschwunden.
Er hatte keine Lust mehr, den ganzen Tag nutzlos herumzuliegen.
„Sieh dich ruhig im Schiff um, aber lass bitte die zugeschlossenen Türen in Ruhe, denn
dahinter könnte es gefährlich werden, und versprich mir, keine der Apparaturen anzufassen“,
sagte Padorak zu dem Menschen.
Der ließ sich das nicht zweimal sagen.
Er ergänzte seine Toga durch eine Art Sandalen, ungeschickt zurechtgeschnittene
Plastikstücke, die er mit Kabeln an seinen nackten Füßen festband, und er sicherte die offene
Seite seiner Toga mit merkwürdigerweise auch bei den Tannari üblichen Krokodilklemmen.
Neugierig wanderte er durch blanke Korridore, betrachtete unverständliche Zeichenkolonnen
auf Displays und manchmal auch bunte Bilder von fernen Welten.
Er fror trotz der unzulänglichen Kleidung niemals, denn zum Glück war es im gesamten
Raumschiff der Tannari feucht und warm wie im brasilianischen Urwald.
Der Befruchter nannte den Präsidenten inzwischen freundschaftlich Abe … und das so oft wie
möglich, denn er war von menschlichen Kosenamen fasziniert.
Abe seinerseits wagte es manchmal, Padorak respektlos „mein Schneck“ zu nennen, was
dieser kommentarlos akzeptierte.
Es waren Stunden voll glückseliger Verantwortungslosigkeit, Reisen in die Kindheit, wo es
wichtiger war, unter jeden Stein zu gucken, als über die Zukunft nachzudenken.
„Heute noch nicht“, dachten beide scheu. „Heute genießen wir unsere unglaubliche
Freundschaft. Lasst uns jeden Augenblick auskosten, denn was die Zukunft für uns
bereithält …“
Es war Ressah, die die glücklichen Befruchter machtvoll zur Konferenz rief.
„Komm zu mir, Abe“, dachte Padorak traurig. „Ich bin zwar nicht scharf darauf, mir dieses
Material über die Verbrechen der Menschheit noch einmal anzuschauen, aber es ist meine
heilige Pflicht, dir beizustehen. Komm mit in meine Schüssel. Ich werde dir meine Wärme
schenken, dich festhalten und trösten, wenn es richtig schlimm wird. Denk immer daran,
dass ich nicht dein Feind bin.“
Ressah dimmte das Licht und dann huschten die ersten grausamen Bilder über den Monitor.
Die Vorführung war endlich vorbei.
„Gott sei Dank!“, dachte der Präsident. „Das hätte ich keine fünf Minuten länger
ausgehalten!“
Er fühlte, dass sein Gesicht vor Scham brannte.
Ihm war speiübel.
Tiefe Trauer fraß an seiner Seele.
Das also war aus der Menschheit geworden: eine Ansammlung heimatloser marodierender
Banden unter der Führung allmächtiger skrupelloser Warlords.
Vergeblich hatten die Griechen die Demokratie erfunden!
Völlig umsonst hatte Karl Marx über eine gerechte klassenlose Gesellschaft nachgedacht!
Und ganz sinnlos hatte Jesus Christus am Kreuz sein Blut und sein Leben gegeben, um die
Menschheit zu retten!
Die wüsten Bilder hatten sich für immer tief in Robins Gedächtnis gegraben.
Menschen, die mit ihren riesigen Panzern über fremde Welten rollten und alles
niederwalzten, was sich ihnen in den Weg stellte.
Menschen, die Treibjagden auf intelligente Hufträger machten, die sie schlachteten, ihnen
die Haut abzogen und ihr Fleisch über offenem Feuer am Spieß rösteten.
Menschen, die mit Flammenwerfern gegen singende Blumen vorgingen.
Menschen, die fremde Humanoide mit Stromstößen folterten und ihre Frauen schändeten.
Menschen, die mit Fusionsbomben die Bevölkerungen ganzer Städte ausrotteten.
Menschen, die Verbrechen verübten, die so schamlos und grausam waren, dass der
Präsident versuchte, sie sofort in die Tiefen seines Unterbewusstseins zu stoßen, was ihm nur
unvollkommen gelang. Es ging nicht anders, wenn er diese Schmach überleben wollte.
Menschen!
Mörder und Diebe!
Soziopathen und Sadisten!
Geisteskranke aller Art!
Verwackelte Aufnahmen zeigten einen Stoßtrupp mit dreckverschmierten Gesichtern, der auf
Tannar ein Haus des Lebens stürmte. Zufällig anwesende Tannari wurden mit Laserstrahlen in
Stücke geschnitten, die Eier auf den Paletten in orangefarbene Plastiksäcke abgefüllt.
Johlende Soldaten öffneten den toten Befruchtern die Hauttaschen unter den Mündern,
zerrten ihre armen schlaffen Protzwürmer hervor, hackten sie ab und ließen sie grunzend
und kichernd wie Lassos in der Luft kreisen.
„Hej!“, schrie einer. „Die haben vielleicht Endloslümmel! Ihre Weiber müssen interessante
Löcher haben. Das muss doch wie eine Fahrt mit der U-Bahn sein. Huiiijjj huiiijjj!“
„Wir hätten die Biester nicht alle zerschnippeln dürfen“, meinte ein Mensch mit grobem
Gesicht und trüben Augen. „Jetzt würde ich gar zu gern ein bisschen forschen.“
„Draußen laufen noch genug davon herum. Manche haben sogar eine ganz handliche Größe.
Fangen wir uns ein paar davon.“
Wenig später zerrte der Mob drei kleine Krakenschnecken in das besetzte Gebäude. Sie
banden sie an den Gestellen für die Eier fest. Einer holte ein Messer heraus …
Von da an hatte der Präsident weggeschaut.
Er hörte nur das unartikulierte Fauchen und Zischen der malträtierten Kinder.
Einen Moment lang war er heilfroh, dass die Apparate der Tannari keine Gefühle und
Gedanken aufzeichnen konnten und dass die armen kleinen Kinder stumm waren.
Dann erfüllte ihn siedend heiße Scham wegen seiner Feigheit.
„Ja, die Schlüpflinge starben langsam und qualvoll“, erinnerte sich Padorak. „Und unsere Eier
haben diese Bestien tatsächlich gebraten und gefressen. Es gab sogar kurze Zeit einen
Versandhandel mit Tannarieiern. Aber der verschwand, als unsere Eiträgerinnen zu verhüten
begannen, genauso schnell, wie er gekommen war.“
Die Aufzeichnungen häuften Scheußlichkeit auf Scheußlichkeit.
Wieso nur war der Tannari immer noch so nett zu ihm?
Was bewog ihn, den Feind in seine Tentakel zu nehmen, um ihn leise schmatzend zu trösten?
„Ich möchte kein Mensch sein!“, seufzte Robins unglücklich. „Könnt ihr mich nicht
umoperieren, damit ich dieses Gesicht und diese Hände nicht mehr sehen muss? Das ist es
doch, was sie in den Science Fiction-Filmen immer machen: Wegoperieren, was man nicht
mehr ertragen kann.“
„Unsere Wissenschaftler sind davon überzeugt, dass dein Tod diese schreckliche Zeitlinie
eingeleitet hat.“ Auch Ressahs himmelblaue Stielaugen waren voll Mitgefühl. „Deshalb sind
wir hier. Aber es ist alles schiefgegangen. Die Menschen haben unser Eingreifen bemerkt und
nun werden sie Außerirdische erst recht hassen.“
„Wir können die Zeit immer noch zurückdrehen“, überlegte der Befruchter. „Aber das würde
ich nur sehr ungern tun. Dann müssten wir nämlich alle zurück in die Zeitschleife und Abe
müsste wieder sterben … jedes Mal ein bisschen anders. Ich kann ihn, nun, wo ich ihn so gut
kenne, nicht mehr in den Tod schicken.“
„Das haben wir doch nie gemacht“, summten Ressahs Gedanken leise. „Wir haben immer
versucht, den Auserwählten zu retten, und schließlich könnten wir auch irgendwann Glück
haben und den Mörder rechtzeitig unschädlich machen.“
„Dann würde bei der nächsten passenden Gelegenheit ein anderer kommen“, grollte
Padorak. „Abe, warum hassen die dich eigentlich so?“
„Weil ich versuche, einige meiner Wahlversprechen zu halten, obwohl das in den seltensten
Fällen gelingt. Diese Gesellschaft ist wie Treibsand. Der Geldadel und die
Geheimgesellschaften lassen alles, was ihnen nicht passt, scheitern. Beweisen kann ich das
leider nicht aber ich hatte oft das Gefühl, dass jemand neben mir steht und meine Hände
festhält … oder mich würgt, wenn ich sprechen will. Mein Leibarzt hielt das für
psychosomatische Beschwerden. Vielleicht haben sie den auch gekauft.“
Der Präsident verstummte mit verkniffenem Gesicht.
Er dachte über seine hässlichen Erfahrungen der letzten drei Jahre nach.
Nach einer Weile schüttelte er heftig den Kopf.
„Ich bin mir sicher, dass ich nichts erreicht habe, was mich zum Auserwählten macht und
dass ich nie eine Chance haben werde, mehr als jetzt zu erreichen. Eure Wissenschaftler
müssen sich irren.“
„Machst du dich da nicht zu klein? Du bist der Regent des mächtigsten Reichs der Erde!“
„Ach, Bruder! Ihr kennt doch auch Sachzwänge und Steine unter dem Gleitfuß. Auch bei euch
ist es schwer, an den Machtverhältnissen etwas zu ändern. Nein, ich war nur ein bisschen
unbequem und das reichte wahrscheinlich, um mich weghaben zu wollen.“
„Du gabst den Vielen Hoffnung“, widersprach Ressah weich. „Euren Jesus haben sie doch
auch nur wegen ein paar freundlicher Sprüche umgebracht.“
„Ich bin nicht so größenwahnsinnig, mich mit Jesus Christus zu vergleichen … und die Leute
in Amerika und Europa tun das sicher auch nicht. Es ist nicht zu verstehen.“
Auf dem Bildschirm war inzwischen wieder das amerikanische Fernsehen der momentanen
Aufenthaltszeit zu sehen: eine Nachrichtensendung.
Ein Rudel Journalisten hatte sich in der Winterkälte am Ort des Geschehens versammelt.
„Unser Präsident ist entführt worden“, schrie eine ältere Reporterin mit wild abstehenden lila
Haaren. „Wir haben es nicht nur mit Terroristen aller Art zu tun … nein, da schickt uns die
Vorsehung auch noch eine feindliche Alieninvasion.“
„Sie hatten bestimmt nicht viel von Robins“, knurrte ein bulliger Mann. „Der war doch schon
beinahe hinüber, als sie ihn weggeholt haben.“
„Vielleicht haben sie unseren jungen Präsidenten nach Avalon gebracht und dort geheilt“,
meinte ein blondes Mädchen verträumt. „Was für eine hinreißend romantische Geschichte!“
„Meine Liebe, du liest zu viele Fantasygeschichten“, lästerte der bullige Journalist.
„Und du schaust dir zu oft die Astroshow an“, setzte die Frau mit den lila Haaren noch eins
drauf.
„Ihr vergesst den wunderschönen goldenen Heiligenschein“, widersprach das Mädchen
tapfer. „Lass doch wenigstens einmal euren Zynismus beiseite! Überall auf der Welt wird die
Himmelfahrt des Präsidenten diskutiert.“
„Ja, von den üblichen Schwachköpfen. Von Teenagern und Verrückten, die schon seit der
Vorwahl die Wände ihrer hormongesättigten Höhlen mit Postern von diesem Greenhorn
Abraham Thomas Robins vollkleistern. Wahrscheinlich finden sie ihn sexy.“
Plötzlich funkelten sich der Bullige und die zarte Blondine streitlustig an.
In der Menge rumorte es heftig.
Dann redeten alle durcheinander.
„Was für ein Blödsinn! Das alles war bestimmt nur eine optische Täuschung.“
„Sag jetzt bloß nicht, ein Wetterballon!“
„Nein, das sah aus wie ein echter Beamvorgang.“
„Ach so ist das. Da oben fliegt gerade die Enterprise und rettet die Zukunft.“
„Hallo, Captain Kirk!”
“Hallo, Scotty! Beam us up!”
“Wir können es hier unten nicht mehr aushalten!”
„Rette uns, Scotty! Bitte!“
„Jedenfalls ist unser hochverehrter Präsident weg.”
„Beziehungsweise seine Leiche.“
„Und keiner versteht das.“
Ein langhaariger Typ mit schlabberiger Kleidung mischte sich mit wichtiger Miene ein: „Der
Dalai Lama hat verkündet, dass dies ein Zeichen wäre und dass die Menschheit die letzten
Worte des Präsidenten tief verinnerlichen muss. Dass sie ihn zu einem Bodhisattwa machen.“
Jemand grinste müde: „Und der Heilige Vater in Rom lässt gerade Robins Seligsprechung
prüfen …“
Plötzlich schnellte ein Tentakel Padoraks vor und leitete einen Transfer ein.
„Ich rieche die Keimzellen des Wandels. Wir müssen sofort zurück in unsere Zeit … und du
kommst mit Abe. Ich glaube, du bist ein lebender Kausalknoten.“
Es war unnatürlich still im Cockpit des Tannarischiffs. Die graue Erdenstadt, in der Robins so
oft gestorben war, explodierte bunt schillernd wie ein Feuerwerkskörper. An ihrer statt
waberten gleißend bunte fraktale Muster über den Bildschirm: die visualisierten
Denkprozesse des Rechners.
Padorak hatte keine Zeit mehr für den kleinen Vierfüßler, der neben ihm in der
Funktionsschüssel hockte. Alle vier Vordertentakel tanzten auf der Tastatur, während sich
zwei der hinteren Tentakel mit aller Kraft gegen eine rote, senkrecht stehende tischgroße
Platte unter dem Monitor pressten.
„Achtung! Festhalten!“, dröhnten die Gedanken des Befruchters in Robins Kopf. „Der
Übergang!“
Der Präsident klammerte sich an einen der blauen Fangarme seines Freundes, grub vor lauter
Aufregung sogar seine Fingernägel in das weiche Fleisch.
Das Schiff vibrierte, während es sich härtete und verformte. Zu einer Speerspitze wurde, die
die Membran zum ältesten bekannten Paralleluniversum durchstoßen konnte.
Zu einem Universum in dem Raum und Zeit schon lange keine Bedeutung mehr hatten.
Zu einem eiskalten ausgebrannten Kosmos, der auf seine allerletzte Kontraktion wartete.
Auf ein rasend schnelles Schrumpfen: den Rücksturz in die Dimensionslosigkeit vor einem
neuen Urknall.
Das Tannarischiff spie unaufhörlich paradoxe Photonen aus, hüllte sich darin ein wie in eine
goldene Rüstung.
Plötzlich war die Raumzeitmembran vor ihnen und das Schiff raste mit
Höchstgeschwindigkeit auf sie zu. Durchstieß sie mit ohrenbetäubendem Kreischen.
Der Präsident spürte, wie sein Herz gegen die Rippen hämmerte.
Blutschlieren trübten seine Augen.
Er war abwechselnd leicht wie eine Feder und schwer wie ein Bleiklumpen.
Ängstlich wie eine Maus und tapfer wie ein Ritter von Artus´ Tafelrunde.
Dann waren sie in einem Kosmos ohne Sterne, im finsteren Inneren eines gigantischen leeren
Uterus.
In absoluter Kälte.
Fast erstarrt.
Jetzt bewegten sich die Tentakel des Befruchters nur noch im Schneckentempo über die
Tastatur. Jeder Knopfdruck kostete ihn unsägliche Anstrengung.
Auch seine Gedanken waren halb erfroren und träge.
„Rüüüükstuuurz iiins dreeeiuundzwaanziiigsteee teee Jaaah Jaaaahrhuundeeert!“
Der Präsident verstand, dass Padorak die menschliche Zeitrechnung ihm zuliebe gewählt
hatte. Auch seine Gedanken krochen langsam und formlos wie Amöben auf einem
Objektträger.
„Jaaaa, meeein Freeeuund, miiiir iiist soooo kaaaalt. Rüüüückstuuuurz!“
Das Schiff würgte quälend langsam die erforderlichen paradoxen Photonen aus und es brüllte
mit tiefer Stimme, beinahe im Infraschallbereich.
Die Schwerkraftwellen brandeten noch heftiger als beim ersten Mal über die Zeitreisenden.
Die Augen des Präsidenten bluteten. Er war praktisch blind.
Auch die Stielaugen der Tannari waren mit milchigem Körpersaft verklebt.
Es dauerte ungefähr eine halbe Stunde, bis alle wieder sehen konnten.
Durch ein Bullauge des Schiffes konnten sie ein Stück der Erde erkennen.
Einer Erde, die blau und weiß strahlte, als hätte es nie eine Industrialisierung gegeben. Die
Atmosphäre war so klar und rein, dass man Wälder und Städte leicht erkennen konnte.
„Amerika! San Francisco!“, flüsterte Robins ergriffen. „Die Golden Gate Bridge! Der Ozean!“
Etwas wischte mit grauer Hand über den Bildschirm des Rechners. Seine bunten Denkmuster
verschwanden.
An ihrer Stelle lächelte eine asiatische Frau in einer silbrigen Uniform vom Monitor.
„Ich rufe das tannarische Zeitschiff! Hier ist die Raumflotte der Liga friedlicher Welten! Sie
befinden sich im Orbit des Planeten Erde. Willkommen in unserer Zeit! Willkommen zu
Hause!“
San Francisco, dreiundzwanzigstes Jahrhundert. Die Nacht war warm und sanft und sie
glitzerte wie die Krone eines Königs aus barbarischer Zeit. In den Fenstern der Wohnhäuser
schimmerte warmes Licht, auf Dächern und über Türen flimmerten und kreisten
Leuchtreklamen. Am nachtblauen Himmel tummelten sich bunte Flyer, und ab und zu
funkelte in dem Gewimmel ein Stern, dem es gelungen war, mit der Kraft seines atomaren
Feuers all das Menschenwerk zu überstrahlen. Tief über dem Meer schwamm ein schmaler
Halbmond. Ein silbernes Elbenboot auf dem Weg in die Anderswelt.
Der ehemalige Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika und seine beiden Retter
hatten es sich in einem kleinen Strandcafé bequem gemacht. Robins in einem gemütlichen
Rattansessel, Ressah und Padorak in liebevoll verzierten Funktionsschüsseln mit salzigem
Wasser aus der Bucht.
Die beiden Männer hatten Literkrüge mit goldgelbem schaumigem Bier vor sich stehen,
während die Eiträgerin sich lässig einem Glas Orangensaft widmete. Ab und zu steckte sie
einen ihrer Vordertentakel in die süße Flüssigkeit und leckte ihn anschließend genüsslich ab.
Niemand beachtete die beiden Außenweltler, denn die Menschen waren inzwischen an die
absonderlichsten Geschöpfe gewöhnt: Katzenartige, Hufträger, Insektoide, nackte Engel und
natürlich die allseits verehrten Krakenschnecken, die den heiligen Abraham gerettet und in
die Neuzeit gebracht hatten.
Auch auf Robins achtete niemand, denn dem war es gelungen, das Gesicht zu verbergen, als
er hereinhuschte und schnell im Schatten einer Palme Platz nahm. Dem Kellner hatte er
verstohlen einen größeren Schein in die Hand gedrückt.
„Wenn Sie mich nicht verraten, bekommen Sie ein persönliches Autogramm“, hatte er ihm
zugeflüstert und der junge Mann hatte begeistert genickt.
All die Fremden aus dem All und die verschiedenen Völker der Erde woben einen
Klangteppich, der eine eigenartige Intimität schuf.
Padorak umklammerte mit den Scheinfingern eines Vordertentakels den Henkel seines
Bierkruges und schüttete ein paar Tropfen Flüssigkeit in sein furchterregendes Maul.
„Ein merkwürdiges Zeug ist das … ziemlich bitter … und so etwas trinkt ihr Menschen
freiwillig?“
„Nimm dir lieber einen Saft, der schmeckt köstlich“, empfahl Ressah. „Dein Bier kannst du
unserem Freund Abe geben.“
„Klar doch“, antwortete der auf ihre Gedanken. „So ein Bierchen ist viel zu schade zum
Wegschütten.“
Nachdem der Befruchter von dem eifrig herbeiwuselnden Kellner ein für ihn
schmackhafteres Getränk erhalten hatte, schauten alle drei eine Weile dem lebhaften
Treiben auf der Strandpromenade zu und dachten an die von ihnen eliminierte Zeitlinie.
„Das Meer wäre jetzt vermutlich eine tote stinkende Brühe“, überlegte Ressah. „Dieser nette
Ort eine verwitterte Ruine, in der nur noch ein paar hartschalige, strahlenresistente Insekten
herumkriechen und sich gegenseitig fressen … und die heimatlosen Menschen würden
immer noch mit ihren riesigen Mutterschiffen und ihren Heerscharen wendiger Jäger auf
Beutezug sein. Wir haben das einzig Richtige getan, auch wenn es ein paar unangenehme
Nebeneffekte gibt.“
„Du meinst die Einflüsse gewisser Aliens auf unsere Gesellschaft? Zum Beispiel die
Abschaffung des Matriarchats auf Tannar?“, erkundigte sich Padorak.
„Nun ja …“
„Ihr Eiträgerinnen werdet doch immer noch sehr verehrt“, meinte Robins versöhnlich. „Und
dass die Befruchter nun ein wenig mehr Achtung genießen, kann euch doch nicht wirklich
stören. Padorak ist ein großartiger Kerl! Ich mag ihn sehr.“
Der so gelobte wedelte verlegen mit seinen Stielaugen.
„Niemand leidet an den Veränderungen, niemand muss sich seiner Geschichte schämen.
Alles ist gut, weil wir die Einzigen sind, die von der alten Zeitlinie wissen. Für die Heutigen ist
das hier einfach nur ihr ganz normales Leben.“
„Glück durch Zufall“, murmelte Robins halblaut. „Oder auch ein klassisches Zeitparadoxon.
Wenn euch nicht soviel schief gegangen wäre, hätte sich die Menschheit nicht geändert. Ich
wäre nie zur religiösen Ikone aufgeblasen worden, es gäbe keinen heiligen Abraham … und
meine Artgenossen würden immer noch Tannarieier fressen. Mir ist das alles ziemlich
unheimlich. Die machen ein Gewese um mich, obwohl ich rein gar nichts geleistet habe.
Selbst Rosies und meine Nachkommen stehen vor mir stramm.“
„Ach Abe“, widersprach Padorak liebevoll. „Glaub nicht, dass jeder die böse Zeitlinie hätte
ändern können. Derjenige musste nämlich prominent sein, engagiert, guten Willens, ein
bisschen naiv und sehr anständig. Er musste die Kraft und die Leidenschaft aufbringen, um im
entscheidenden Augenblick die richtigen Worte zu finden und sie mit letzter Kraft
herauszuschreien. Statt eines neuen Heilands hätte auch leicht ein neuer Satan entstehen
können.“
Der ehemalige Präsident sah seinen außerirdischen Freund mit großen Augen an. Von der
Seite hatte er seine merkwürdige Leidensgeschichte noch nie gesehen.
„Ich sagte …“, grübelte er.
Ressah mit ihrem perfekten Gedächtnis half ihm.
„Du sagtest damals sinngemäß: ‚Ich wollte immer nur Frieden und Freiheit! Für Amerika und
für die ganze Welt! Frieden den Christen und Moslems! Frieden den Hindus und Juden!
Frieden den Erleuchteten und den Gottlosen! Frieden den Arbeitern, den Bauern und den
Fischern auf hoher See! Frieden dem Land und dem Fluss und Frieden dem ewigen Eis!
Frieden allen Menschen und allen Außerirdischen! Gottes Frieden dem ganzen Kosmos …’ du
hast tatsächlich wie ein Heiland gesprochen.“
„Abe, ich sehe das ganz genauso“, ergänzte Padorak respektvoll. „Allein hätten wir es nie
geschafft.“
Der lächelte ihm still mit den Augen zu.
Nur drei Lebewesen im ganzen Universum kannten die Tiefe des Abgrundes, dem die
Menschheit gerade noch entkommen war.
Für alle anderen war Sankt Abraham nur ein guter Präsident, der zum Märtyrer wurde und
den Gott in seiner unendlichen Gnade zu sich geholt hatte.
Der einzig wahre Gott.
Eine krude Mischung aus Jehova, Allah, Wakan Tanka und einem abstrakten Weltgeist, der
über den Wassern des Urmeeres oder irgendwo zwischen den Sternen waberte.
Ein übermütiges Grinsen huschte über das Gesicht des ehemaligen Präsidenten.
„Gut, dass der alte Kerl sich endlich eingemischt hat. Das wurde aber auch Zeit!“
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