Weihnachtsüberraschung

Ich bin die Letzte im Büro, wie üblich. Draußen ist es längst dunkel, leise rieselt der Schnee, überzuckert Berlin. Meine Sternenlichterkette taucht den Raum in ein warmes goldenes Licht. Die Wände täuschen einen winterlichen Tannenwald vor, mit ein paar flackernden Gaslaternen wie in Narnia.

Andorianische Holografie-Technik. Wir Menschen hätten wohl auch längt so tolle Technologie, wenn wir uns nicht im letzten Jahrhundert mit Atomwaffen in die Steinzeit zurückgebombt hätten.

Seufzend wende ich meinen Blick vom Computer ab, beobachte stattdessen das Winterwunderland da draußen und mein Adventsgesteck, wo mittlerweile vier Kerzen brennen. Gestern war vierter Advent. Morgen ist mein letzter Arbeitstag in diesem Jahr. Theoretisch. Wenn ich mir den Stapel auf meinem Schreibtisch ansehe, kann ich wahrscheinlich froh sein, wenn ich an Heiligabend vor 20:00 Uhr hier wegkomme.

Annabelle, meine süße kleine Tochter weiß wahrscheinlich nicht mehr, wer ich bin. Sie ist mit ihrem Vater auf der USS Melbourne, Lichtjahre weit weg. Ich sehe die beiden erst Weihnachten wieder.

Seit meine engste Mitarbeiter, eine insektoide Xindi namens Kharassa, die Erde verlassen und ihre Stellvertreterin Hardra das Kulturressort übernommen hat, schmeiße ich den Laden hier praktisch allein. Das ganze verdammte Pressereferat der verdammten mitteleuropäischen Sektorverwaltung.  Klar, es gibt Unterreferenten, Redakteure und Sachbearbeiter und ich delegiere, was ich delegieren kann … trotzdem habe ich ein bisschen Angst, die Bewohner der Erde müssen morgen ohne ihr täglich Föderations-Propaganda-Klatschblatt auskommen. Inzwischen habe ich wenigstens einen Chefredakteur eingestellt, aber der kann erst im Januar anfangen. Außerdem fehlt mir immer noch ein Stellvertreter.

Ein Kratzen an der Tür lenkt mich ab. Die Türhälften geben einen Spalt frei, durch den sich Hardra quetscht. Zwischen den Zähnen trägt sie einen Stapel Briefe und PADDs, die sie laut maunzend auf meinen Schreibtisch fallen lässt. Ihr peitschender Schwanz kommt dabei dem Adventsgesteck gefährlich nahe.

“Pass auf, Hardra, die Kerzen!”

Die Humili im Körper einer schneeweißen Birmakatze springt erschrocken zurück.

“Ich dachte, ich  bringe dir deine Post, bevor dein Fach endgültig überquillt, Melissa”, erklärt sie, blinzelt kokett und reibt dabei ihr Köpfchen an meinem Ärmel. Toll, noch mehr Katzenhaare auf meinem schwarzen Pullover.

“Danke. Vielleicht solltest du dir nächstes Mal einen Brieftauben-Avatar zulegen”, antworte ich mit einem halben Lächeln.

Ehrlich gesagt, habe ich überhaupt keine Lust, meine Post anzugucken. Die heutigen fünfhundert Memos haben schon gereicht. Es waren jede Menge Forderungen von Journalisten, Beschwerden der Kirche und eine anonyme Morddrohung dabei. Darüber sollte ich wahrscheinlich froh sein, normalerweise sind es mindestens zwei oder drei. Diese Fanatiker von Terra Prime hassen zwar die Föderation und Außerirdische wie die Pest – doch offenbar werden selbst sie um Weihnachten sentimental.

Hardra, die knuffige weiße Katze, die in Wirklichkeit ein dreihundert Jahre altes Alien ist, macht sich auf meinem Schreibtisch so breit, dass kein Quadratzentimeter Platz für meine Akten bleibt, und schaut mich aus großen goldenen Augen superschlau an.

„Das ist wohl die Rache dafür, dass wir dich mit Dosenfutter von ‚Happy Cat‘ gefüttert und Miezie genannt haben.“

„Mau!“ gibt Hardra provozierend zurück.

Die Humili sind keine Mitglieder der Föderation. Alliierte, ja – aber ein uraltes Volk, das lieber sein eigenes Süppchen kocht. In Wirklichkeit haben sie riesige Gehirne und verkümmerte, kaulquappenartige Körper und beschäftigen sich den ganzen Tag mit Philosophie, Quantenmechanik und ähnlichen abgehobenen Dingen. Normalerweise können sie sich ohne ihre Roboter-Ammen noch nicht einmal alleine den Hintern abwischen – also schlüpfen sie in Avatar-Körper, wenn sie sich mal ein bisschen bewegen wollen oder Undercover arbeiten. Kurz nach Zefram Chochranes Aufbruch mit der Phoenix sind sie auf unseren damals noch total kaputten Planeten aufmerksam geworden, etwa fünfzig Jahre später kamen sie auf die glorreiche Idee, soziologische Studien an den Menschen durchzuführen, indem sie sich als Haustiere tarnen. Stellt euch mal vor, die anmutige Rassekatze, die ihr euch aus dem Tierheim geholt habt, die euch schon hunderte Male unter die Bettdecke gekrochen und euch auf dem Klo beobachtet hat, fängt plötzlich an zu sprechen und entpuppt sich als Wesen vom anderen Ende der Galaxis!

Aber ich will nicht undankbar sein. Immerhin verdanke ich dieser „Katze“ meinen jetzigen Job. Und Thalno, natürlich. Thalno war einer der letzte Vulkanischen Protektoren der Erde, vor unserem Beitritt zur Föderation. Der mit Abstand beliebteste und sympathischste. Später fanden wir heraus, warum er so anders ist als die übrigen Vulkanier: Er gehört einer geschützten Minderheit an, die sich Turuska nennt. So eine Art Ureinwohner der südlichen Wüste, die trotz ihrer Achtung für die Lehren Suraks zu ihren Gefühlen und ihrer Sexualität stehen, ja sogar offen schwul sein dürfen. Jedenfalls ist es Thalno, denn er lebt mit Denheb, dem ehemaligen Ministerpräsidenten des Mitteleuropäischen Sektors zusammen.

 

“Hardra, wie soll ich denn jetzt arbeiten?”, seufze ich. “Ehrlich, dein Avatar färbt langsam ab, du wirst alle Tage kätzischer. Die beiden Pelzmonster meiner Mutter haben so was auch drauf. Meistens schubbern sie sich am Touchscreen und machen Katzenbuckel, damit man sie knuddelt, bis sie Ruhe geben …”

“Dann knuddel mich! Du brauchst eine Pause”, meint Hardra und kugelt demonstrativ auf meinem Schreibtisch herum. Ein Stapel bedruckter Folien segelt zu Boden und verteilt sich auf dem halben Teppich.

“Och Mann, Hardra!”, schimpfe ich. Meine Faust kracht so heftig auf die Tischplatte, dass die Humili  mit riesigen Augen und gesträubtem Fell hochfährt. “Das war alles für die Zeitung! Jetzt darf ich wieder sortieren, was in welche Ausgabe kommt. Ich hab ja auch keine anderen Hobbys! Ach, es ist zum Kotzen! Ich arbeite nur noch gegen die Uhr, habe nicht mal Zeit, aufs Klo zu gehen …” Vor Frust steigen mir die Tränen in die Augen, Hardra blickt mich leicht zerknirscht an, dann springt sie auf meinen Schoß und kuschelt sich in meinen Arm. “Tut mir Leid”, schnurrt sie.

“Schon gut”, murmele ich.

“Ich könnte dir helfen”, meint die Humili.

“Danke”, antworte ich aufrichtig und streichle ihr seidenweiches Fell. Sie haart schon wieder und mein Pullover ist jetzt mehr grau als schwarz. Diese Humili-Avatare sind fast ein bisschen zu naturalistisch.

“Es war schon genug Arbeit, die Zeitung zu machen”, setze ich mein Lamento fort. “Aber ich kapiere mit jedem Tag mehr, was Kharassa hier wirklich geleistet hat! Sie ist zurück in den Xindi-Sektor abgeschwirrt, weil sie dachte, sie wäre hier nutzlos, nachdem du-weißt-schon-was passiert ist. Ich würde am liebsten in das nächste Raumschiff steigen und ihr persönlich sagen, wie sehr sie sich geirrt hat … wie sehr sie hier gebraucht wird.”

Hardra nickt. “Sie übernahm bereitwillig die härteste Arbeit ohne zu Brummen. Aber von menschlichen Gefühlen oder Public Relations hatte sie keine Ahnung. Sie war als Arbeiterin geboren – und wie fast alle Xindi-Insektoiden erfüllt sie ihre vorherbestimmte Rolle perfekt, aber sie ist darin gefangen.”

“Da ist was dran”, stimme ich ihr zu.

Draußen schneit es immer stärker, eine Kerze ist bereits runter gebrannt.

“Laut Wetterbericht gibt es weiße Weihnachten in ganz Deutschland”, versucht mich Hardra aufzuheitern.

“Schön”, gebe ich ohne große Begeisterung zurück. Als Kind hätte ich mich über weiße Weihnachten halb tot gefreut, aber nun muss ich wohl dankbar sein, wenn ich an den Feiertagen irgendwas Weißes sehe, das nicht aus Papier besteht.

“Ich könnte Chris umbringen – wenn er nicht schon tot wäre!”, rutscht es mir heraus.

Hardra blickt überrascht auf. “Wie kommst du jetzt ausgerechnet auf deinen Ex?”

“Weil er mit seinem Affentheater um Annabelle dafür gesorgt hat, dass Denheb und Kharassa beide das Handtuch geworfen haben – und ich fast in Arbeit ersaufe! Nur weil er es nicht ertragen konnte, dass ich ihn verlassen und ein Kind von einem Außerirdischen bekommen habe! Dabei ist Ioannis genetisch gesehen auch ein Mensch, nur dass seine Vorfahren vor Tausenden von Jahren aus dem alten Griechenland verschleppt wurden, von Energiewesen, die sich als Götter ausgegeben haben, oder so”, rede ich mich in Rage. “Chris hat immer davon gefaselt, dass er der Welt seinen Stempel aufdrücken will, dieser größenwahnsinnige Hohlkörper … Herzlichen Glückwunsch, nun hast du es geschafft, mein Lieber! Die Medien haben tagelang breit getreten, wie zwei Wölfe ihm die Kehle aufgerissen haben – und ich habe mich gefragt: Sind die wirklich so vernagelt oder blenden sie absichtlich aus, dass mein aufgeblasener Ex selber schuld war? Das kommt davon, wenn man sich von Terra Prime einlullen lässt, ein Attentat auf einen vulkanischen Botschafter einfädelt – und dabei vergisst, dass der gute Mann zwei zahme Wölfe als Leibwächter hat.“

„In der Tat“, meint Hardra verächtlich. „Chris hat es verdient.“

„Und als wäre das nicht genug, denkt sich Terra Prime jede Woche neue Todesarten für mich aus, sogar Ioannis wurde von einem Mob auf offener Straße verdroschen … danach hab ich ihn bekniet, mit Annabelle auf die Melbourne zurückzukehren, wo er in Sicherheit ist“, heule ich weiter. „Die beiden fehlen mir wahnsinnig … und um dem ganzen Scheiß die Krone aufzusetzen, glaubt Kharassa nun, sie wäre ihrem Job nicht gewachsen. Dabei hat sie sich die größte Mühe gegeben – aber egal, was sie gesagt oder getan hat, es war alles verkehrt. Schließlich blieb ihr nichts Anderes übrig, als zu gehen – aber nicht, weil sie Mist gebaut hat, sondern weil sie eine Insektoide ist und drei Viertel der Menschheit eine Insektenphobie hat. So eine gottverdammte Scheiße …”

“Kharassa wird das nicht so tragisch nehmen. Es geht Insektoiden weniger um Selbstverwirklichung und Karriere, sondern darum, sich in der Gemeinschaft nützlich zu machen”, gibt Hardra zu bedenken. “Außerdem wurde Chris von Thalnos Wölfen tot gebissen. Ich finde, das ist Strafe genug.“

„Er hat es doch gar nicht richtig mitgekriegt”, halte ich grimmig dagegen.

“Jetzt redest du fast wie Denheb”, meint die Humili besorgt.

“Denheb hat öfter mal Recht”, kontere ich hart.

“Wir sollten Christian Hardenbergs nicht allzu wertvollen Geist in Frieden ruhen lassen, Melissa”, versucht mich Hardra zu beschwichtigen. “Schließlich ist Weihnachten.”

“Was verstehst du schon von Weihnachten?”

“Ich habe zahlreiche Christbäume von stillosem Schmuck befreit, seit ich eine Katze bin”, kontert die Humili.

Ich muss unfreiwillig lachen. “Nummer siebzehn in meinem Adventskalender.”

Der Föderations-Kurier bietet im Dezember jeden Tag ein Türchen, was sich durch Berührung der Folie öffnet, dahinter verbirgt sich eine kleine Animation im Stil der Jaquie-Lawson-Ecards. Natürlich mit interstellarem Flair: Verliebte Andorianer im Winterwald für die Zehn, Tanzende Tannari und Leuchtfischlein, die im Meer die Form eines Tannenbaumes bilden, für die Eins. Avianische Weihnachtsengel für die Sechs. Humili, die in Wichtel-Avatare schlüpfen, für die Zwölf … Die Technik, die dahinter steckt, ist eine der letzten Innovationen von Kharassa.

Ich frage mich, wie die Menschen ein “Krabbeltier” hassen können, das einen Adventskalender programmiert. Aber das ist nicht mein einziges Problem …

“Verdammt, wenn mir bis morgen nichts für die Vierundzwanzig einfällt, blamiere ich mich auf die Knochen!”, murmele ich frustriert.

Hardra zwinkert. “Soviel ich weiß, geht es bei Weihnachten um die Geburt eines durch künstliche Befruchtung erzeugten Hybridbabys. Gab es nicht kürzlich eins auf Vulkan?”

Ich muss grinsen. “Naja, wenn alle Stränge reißen, spielen Ioannis, Annabelle und ich Heilige Familie. Die Xindi zirpen Silent Night …”

“Weihnachtslieder zirpende Insektoide hattest du schon in Nummer fünfzehn.”

“Ja, du hast recht”, lenke ich ein. “Ach, verdammt … Davon kriegt man echt graue Haare! Heute Morgen im Spiegel hab ich schon wieder ein paar gefunden.” Nun zerfließe ich schon ebenso in Selbstmitleid wie meine ehemalige Chefin an der Uni Potsdam: Mariana, die Miesmuschel.

“Falls dein Körper vorzeitig verschleißt, können wir dir vielleicht einen Avatar bauen”, schlägt die Humili vor.

“Ich dachte, das wäre nicht so einfach”, erwidere ich grinsend.

Hardra blinzelt nur geheimnisvoll.

“Vielleicht mache ich ja ein Gewinnspiel: Jeder, der die richtige Antwort schickt, kriegt einen Plüsch-Tellariten frei Haus”, überlege ich. “Oder ein gratis Kalender mit 3D-Landschaftsaufnahmen von allen Welten der Föderation …”

“Klingt nicht schlecht. Ich wäre für den Kalender”, meint die Humili.

“Ja, vielleicht mache ich das.“ Aus einer Laune heraus küsse ich Hardra zwischen die Ohren.

Sie blickt mich verdutzt an.

“Entschuldigung, wenn du so auf meinem Schoß liegst und schnurrst, vergesse ich manchmal, dass du keine Miez bist.”

“Selbst ich vergesse das manchmal”, erwidert die ehrwürdige Ressortleiterin für Bildung, Wissenschaft und Kultur. Dann wandert ihr Blick zu dem unordentlichen Haufen Papier auf meinem Schreibtisch. “Willst du deine Post nicht anschauen?”

Unwillig brummend greife ich den ganzen Packen und blättere ihn lustlos durch. Das Meiste ist Gott sei Dank nur Umlauf. Diverse Bekanntmachungen des neuen Föderationspräsidenten – ein Andorianer namens Shan’dras. Ein paar Weihnachtskarten sind auch dabei. Eine Einladung von meinen ehemaligen Kollegen der Uni Potsdam zur Weihnachtsfeier am 21.12., um 13:00 Uhr. “Mist, das ist ja schon morgen! Wie soll ich das auf die Reihe kriegen?”

“Wenn dir so viel daran liegt, könnte ich ausnahmsweise den Schreibtisch für Dich wärmen. Ich schicke bei Zeiten einen Piloten, der dich wieder abholt.”

“Danke, Hardra!”

Ein silberfarbener Umschlag fällt mir in die Hände und aus dem Nichts beschleicht mich ein ungutes Gefühl. Briefbomben und ähnliche “nette” Überraschungen von Terra Prime werden zwar meistens von der Sicherheit abgefangen – trotzdem ist der persönlichen Referentin unserer andorianischen Gesundheits-Senatorin Ulan’jah schon mal eine ätzende Flüssigkeit über die Hände gelaufen, als sie einen Brief aufmachte, der angeblich von einer alten Schulfreundin stammte. Ihre Schreie waren über den ganzen Flur zu hören. Nicht zu fassen, dass es so kurze Zeit nach Gründung der Föderation, zehn Jahre nach dem Jungfernflug von Captain Archers Enterprise und über hundert Jahre nach dem Ende des Dritten Weltkriegs noch solche fremdenfeindlichen Arschlöcher gibt! Die Ärzte konnten zwar dafür sorgen, dass die arme Frau keine Schäden zurückbehalten hat – dennoch muss ich so eine Bescherung nicht haben. Schon gar nicht vier Tage vor Heiligabend!

Mein Name steht in sauberer Schreibschrift auf dem Umschlag, ich drehe ihn zögerlich herum, vielleicht steht irgendwo ein Absender …

Ja, ich habe ihn gefunden. Aber der Kloß in meinem Hals wird nicht kleiner – im Gegenteil. Gerhard Hardenberg und Karin Schröder. Mein Ex-Schwiegervater und seine neue Lebensgefährtin.

“Was wollen die denn von mir?”, platze ich heraus.

“Frohe Weihnachten wünschen?”, vermutet Hardra.

“Nachdem Gerd mir wahrscheinlich die Schuld gibt, dass zwei Lausitzwölfe seinen Sohn als Hundeknochen missbraucht haben?” Meine Augen werden schmal. “Ich kann wahrscheinlich froh sein, wenn da keine Säure drin ist, die mir die Finger zerfrisst!”

“Sei nicht so paranoid”, meint Hardra. “Wieso bist du dir überhaupt so sicher, dass dein Schwiegervater dir die Schuld an Christians Tod gibt?”

Ich denke einen Moment nach. Eigentlich hat sie Recht, Gerd und ich haben seit dieser schrecklichen Sache noch nicht einmal miteinander gesprochen.

“Was meinst du, soll ich’s aufmachen?”

“Die Entscheidung kann ich dir nicht abnehmen”, erwidert Hardra.

“Also schön …” Ich atme tief durch, lege einen Briefbeschwerer auf das Ding, damit ich es nicht anfassen muss, und halte einen guten Meter Abstand, während ich das Kuvert mit meinem Taschenmesser aufschlitze.

Wir warten mit angehaltenem Atem, ob irgendwas in die Luft fliegt oder Löcher in die Schreibtischplatte frisst. Sekundenlang passiert nichts dergleichen. Hardras Ohren sind aufmerksam nach vorn geklappt, ihre Schwanzspitze wackelt unaufhörlich. Über der virtuellen Landschaft an den Wänden geht der Mond auf. Draußen ist er längst aufgegangen.

Hardra hat Recht, ich sollte nicht so paranoid sein. Gerd ist ein doch ein ganz harmloser Kerl, um nicht zu sagen: ein Weichei. Falls dieser Brief nicht gefaked ist …

Als nach zehn Minuten immer noch nichts in die Luft geflogen ist, greife in beherzt in den Umschlag und ziehe eine Karte heraus. Tatsächlich, eine ganz klassische Weihnachtskarte mit Christbaumkugeln in Golddruck.

Ich klappe sie auf und lese in Karins geschwungener Handschrift:

 

“Liebe Melissa, wir wünschen Dir und Deiner Familie ein frohes, besinnliches Weihnachtsfest und einen guten Rutsch ins neue Jahr. Viel Glück mit deiner neuen Liebe und ganz viel Kraft für deine verantwortungsvolle Arbeit. Bleib gesund und kümmere dich gut um dein kleines Mädchen.

 

Karin und Gerd.

 

Mir wird ganz warm ums Herz. Da habe ich das Schlimmste vermutet, obwohl die Beiden mir längst verziehen haben. Vielleicht hat Hardra sogar Recht und sie haben mich nie für Chris’ Tod verantwortlich gemacht. Der Schnee, die Kerzen und Lichterketten scheinen in diesem Moment heller zu strahlen … Bis ich das “P.S.” unter den beiden Namen lese – so winzig, dass man fast ein Lupe braucht, denn auf der Karte ist kaum noch Platz.

 

P.S.: Unsere Molly liegt mit schwerem Nierenversagen in der Potsdamer Tierklinik. Die Chancen stehen sehr schlecht. Falls du dich von ihr verabschieden möchtest, ist hier unsere Telefonnummer …

 

Nein, Scheiße, dass darf nicht wahr sein … nicht Molly!

Eine einzelne Träne kullert auf das Papier. Hardra schmiegt sich an mich. “Ich weiß, du hattest diese Katze sehr gern”, sagt sie mitfühlend.

“Karin und Gerd sind oft in den Urlaub gefahren, dann haben sie Molly zu uns gebracht”, erzähle ich mit erstickter Stimme. “Jedes Mal hätte ich sie am liebsten behalten. So eine wundervolle Miez …”

Bilder tauchen auf … eine rosa Katzennase, die vorsichtig unterm Bett hervorlugt … ein schwarzweißes Kätzchen mit einem putzigen schwarzen Fleck am Kinn, schnurrend zwischen mir und Chris … Molly, die beim Geruch von Käsefüßen in Ekstase gerät und mit gierigem Blick auf den Frühstückstisch springt, als wir den Esrom auspacken …

Die Umgebung verschwimmt in Tränen. Wegen Chris habe ich nicht halb so geflennt … Natürlich war ich geschockt, aber ich habe keine einzige Träne vergossen. Bin ich deshalb ein schlechter Mensch? Oder fange ich wie Denheb an, die Menschen zu verachten? Nein, eigentlich komme ich mit den meisten von ihnen prima aus – trotzdem sind mir Katzen näher.

Molly wird sterben. Der traurige Höhepunkt dieses ohnehin beschissenen Tages.

“Könnt ihr da nichts machen, mit eurer supertollen Föderationsmedizin oder Alien-Technik?”, frage ich Hardra, schroffer als beabsichtigt.

“Wir können leider nicht überall sein”, erwidert die Humili sanft. “Aber wenn wir es irgendwie einrichten können, sehen wir morgen in der Tierklinik vorbei.”

“Danke”, schniefe ich und schalte entschlossen den Computer aus.

Ich habe die Nase voll und jetzt kann ich mich erst recht nicht mehr konzentrieren.

 

 

Molly starb in den frühen Morgenstunden des 21. Dezember.

Gerd rief mich mit tränenerstickter Stimme im Büro an und natürlich verging mir jede Lust auf eine Weihnachtsfeier an der Uni Potsdam.

Aber meine Kollegen haben nicht locker gelassen, bis ich mich breitschlagen ließ und selbst zu dem Schluss kam, dass ich eine Auszeit brauche. Sie waren so überzeugend, als ginge es nicht um Kaffee und Plätzchen, sondern um eine Frage der planetaren Sicherheit.

Hardra ist vor Weihnachten nicht wieder im Büro aufgetaucht. Als ich nach ihr fragte, taten alle äußerst geheimnisvoll.

Die letzten drei Tage sind irgendwie vorbei gerauscht: Weihnachtskaffee, Glühwein, Weihnachtsgrüße, Kerzenlicht, selbst gebackene Plätzchen, ein letzter Besuch auf dem Weihnachtsmarkt und jede Menge Arbeit. Ich musste meinen Urlaub in den Januar verschieben.

Aber es hat gut getan, meine ehemaligen Kollegen wiederzusehen. Eine merkwürdige Reise in die Vergangenheit ganz ohne Zeitreise-Technologie. Der alte Konferenzraum sieht noch genauso aus wie damals – nur dass er viel zu klein geworden ist. Es saßen gleich fünf neue Kollegen mit am Tisch, davon gehören vier zur Abteilung Forschungsförderung und erledigen dort den Job, den Mariana und ich früher zu zweit stemmen mussten. Nun sorgen die Zuwendungen der Föderation dafür, dass die Hochschulen endlich angemessen ausgestattet sind und genug Personal einstellen können.

Die Feier selbst rief Erinnerungen an einfachere Zeiten wach. Zeiten, in denen chaotische Wissenschaftler und Antragsfristen unsere größte Sorge waren. Mariana ging es wohl ebenso, denn sie starrte mit sentimentalem Blick in die flackernden Kerzenflammen, die sich dutzendfach in den roten Kugeln der Adventsdeko widerspiegelten.

Selbst die Kugeln waren noch die gleichen wie vor drei Jahren.

Wie in alten Zeiten hat jeder etwas für die Feier mitgebracht: Selbstgebackene Plätzchen oder Kuchen, Weihnachtsgeschichten, Weihnachtsgedichte, Weihnachtsmusik.

Ich erzählte von einer jungen Frau, die kurz vor dem Fest der Liebe in die Galaxie ausgezogen ist und auf dem weit entfernten Planeten Tannar, dem jüngsten Kandidaten für den Beitritt zur Föderation, wenige Tage vor Heiligabend, ihr größtes Geschenk bekommen hat: Ein kleines Mädchen namens Annabelle. Ich erzählte von einem Tannenbaum, in dem statt Kugeln kleine Krakenwesen in allen Farben des Regenbogens hingen, während ihre Eltern zu Mahelia Jackson’s Christmas Gospels im Meer tanzten.

Zum Backen hatte ich leider keine Zeit, dafür tischte Mariana Plätzchen für Zwei auf. Ein andorianisches Rezept, verfeinert mit Zimt und Orangen-Aroma. Alle stürzten sich begeistert auf die Dinger und die Miesmuschel hat ihren Erfolg sichtlich genossen.

Früher hat sie meistens versucht, sich vor der Kollektivseeligkeit zu drücken, aber diesmal schien sie sich riesig darauf zu freuen. Obwohl ihr sichtlich flau im Magen war, als sie in meinen Gleiter gestiegen ist.

“Ich hoffe, Sie können besser fliegen als Autofahren”, meinte sie mit blassen Gesicht.

“Fliegen ist einfacher, glauben Sie mir”, antwortete ich.

Es gibt weitaus weniger Idioten in der Luft, als auf der Straße.

 

Friede auf Erden … Heute kann man sich beinahe vorstellen, dass es so etwas gibt.

Aber die weiße, Lichterkettenverzierte Idylle täuscht – das weiß niemand besser als wir Mitarbeiter der Föderationsregierung auf der Erde.

Das von meinem Ex-Mann geplante Attentat auf Thalno ist erst wenige Wochen her. Thalno wurde in letzter Minute gerettet, musste aber von einem Mentaltechniker auf Vulkan behandelt werden. Sein Lebensgefährte Denheb hat den Job als Ministerpräsident von Mitteleuropa hingeschmissen, weil er es endgültig satt hat, Menschen zu regieren.

Vor zwei Tagen sind Thalno, Denheb und die beiden Wölfe in ihr idyllisches Häuschen am Rande des Gördenwaldes zurückgekehrt. Dort wollen sie heute feiern, dass die Familie wieder vereint ist: Thalnos und Denhebs Freunde, Meine Mutter Amanda, ihre Hausärztin Elena, ihr Nachbar Knut, die andorianische Senatorin Ulan’jah, ich … Auch Ioannis kommt zurück – mit Annabelle! Thalno hat sogar den Quantenphysiker Nagi von Tannar eingeladen. Und Hardra.

Vielleicht hat er ja eine Ahnung, wo Letztere steckt.

Voll guter Laune pfeife ich “Jingle Bells”, als ich zum letzten Mal in diesem Jahr den Computer herunterfahre, das Licht ausschalte und die Fenster versiegeln lasse. Das wird supergeil, ein wahres Familientreffen – an Heiligabend!

Kaum zu glauben, dass heute schon so weit ist! Vielleicht, weil ich früher nie an diesem Tag arbeiten musste.

Einzelne Schneeflocken tanzen in der Dämmerung, als ich gegen 16:00 Uhr endlich das Büro verlasse. Hinter den wenigen hell erleuchteten Fenstern unseres Hauptquartiers sitzen nur noch Außerirdische. Mariana, die Miesmuschel, hat sich etwa eine Stunde vor mir in die Weihnachtsferien verabschiedet, frohes Fest und guten Rutsch gewünscht und mich sogar einen Moment an ihren synthetischen Pelzmantel gedrückt.

Meine Füße versinken bis zu den Knöcheln im Schnee, als ich mich zu meinem Gleiter durchkämpfe. Zum Glück hat das Ding Frontscheibenheizung – Eiskratzen hätte mir jetzt noch gefehlt!

Während die Triebwerke jede Menge Schnee aufwirbeln und das Shuttle über den Weihnachtsmarkt am Alexanderplatz hinweg gleitet, verfolgt von staunenden Kinderaugen, und sich immer höher in den Himmel erhebt, läuft über die Comm-Anlage “Driving Home for Christmas“. Wie passend.

Bevor ich den nächsten Gang einschalte, checke noch einmal, ob ich alle Geschenke und den Christbaumschmuck eingepackt habe. Ich traue höchstens noch Elena zu, dass sie an so etwas denkt. Meiner Mutter nicht – und den Aliens schon gar nicht. Dabei hat Thalno im Garten so eine schöne große Tanne …

Fünf Minuten später habe ich das Lichtermeer Berlins hinter mir gelassen. Potsdam kuschelt sich an die westliche Stadtgrenze und wird binnen einer Minute überflogen. Die märkischen Felder und Wälder ziehen unter mir vorbei. Als ich Brandenburg erreiche und mein Gleiter auf der Suche nach einem Parkplatz über dem Waldcafé kreist, fühle ich mich beinahe in meine Kindheit zurück versetzt.

 

 

Daheim.

Ich lande auf einer Waldlichtung im jungfräulichen Schnee, stampfe ein paar Meter durch den verschneiten Wald, meine Füße finden trotz der Dunkelheit wie von selbst zu Thalnos Haus.

Daheim. Meine Mutter hängt schon am Fenster und wartet voller Ungeduld. Als sie mich sieht, läuft sie in ihrem weißen Mantel vor die Tür, schließt mich strahlend in die Arme. “Schön, dass du endlich da bist, meine Kleine! Kommst am besten gleich mit – wir feiern im Garten.”

“Bei dem Wetter?”, hake ich skeptisch nach. „Da brauchen wir aber viel Glühwein!“

“Wir müssen doch nicht arme Lebern kaputt saufen, wenn es Kraftfelder gibt”, belehrt mich Amanda mit einem wissenden Lächeln.

“Ja, die Föderation hat schon was für sich.”

Meine Mutter lacht. “Elena und Bogdan kämpfen da draußen mit einer elend langen Lichterkette und verheddern sich fast dahin. Vielleicht kannst du ihnen helfen, bevor Bogdan die Axt aus dem Keller holt und vor Frust die arme Tanne abhackt. Das muss nun wirklich nicht sein!”

“Klar”, antworte ich grinsend und präsentiere stolz die zwei großen Tüten voll Weihnachtsbaumschmuck.

“Dann walte deines Amtes, du Weihnachtsengel”, flachst meine Mutter.

Ich folge ihr vertrauensvoll in den Garten, stolpere dabei fast über eine schwarze Katze, die auf flinken Tätzchen vor unsere Füße rennt. Mona? Lisa?

Draußen erwartet mich die merkwürdigste Festtafel, die dieser Planet je gesehen hat.

Ein schimmerndes Kraftfeld umhüllt den Garten. Dicke Schneeflocken stoppen mitten in der Luft und schmelzen an der Energiebarriere. Innerhalb der unsichtbaren Glocke ist der Rasen grün und es herrschen mindestens zwanzig Grad Celsius. Außerhalb recken schneebedeckte Eichenskelette ihre kahlen Finger in den rosa schimmernden Abendhimmel.

Bogdan steht halb in eine Lichterkette gewickelt auf der Leiter und flucht, seine Frau Elena redet beschwichtigend auf ihn ein. Bulgarisch. Er muss wirklich kurz vorm Explodieren sein, wenn sie das nötig hat.

Knut – in seiner allgegenwärtigen Handwerkerlatzhose – beäugt die Lichterkette mit fragendem Blick und kratzt sich gedankenverloren am Kopf. Offenbar sucht er angestrengt nach einer praktischen Lösung für die Operation Knäuel.

“Ja ja, ich zieh mich gleich um”, grummelt er, als Elena missbilligend seinen Aufzug mustert.

Sie trägt natürlich ein elegantes blaugrünes Abendkleid.

Ein ausziehbarer Gartentisch ist mit selbstgebastelten Adventsgestecken und einer bunt bestickten Weihnachtstischdecke dekoriert. Das Zeug stammt wahrscheinlich alles von Elena. Aber ich sehe auch die alten, handbemalten Glaswindlichter meiner Mutter.

An einem Ende der Tafel thront Nagi, der krakenähnliche Tannari-Physiker, in seiner Funktionsschüssel. Seine Tentakeln bewegen sich anmutig zu Leonard Cohen‘s “Halleluhjah”, alle acht Stielaugen schunkeln fröhlich im Takt.

Am anderen Ende füttern Thalno und Denheb zwei Wölfe, drei Füchse und fünf Katzen mit einer Art graubraunen Nahrungswürfeln. Sieht nicht besonders lecker aus.

“Was gibt es eigentlich zu essen?”, frage ich meine Mutter. “Hoffentlich nicht nur Kaninchenfutter!” Immerhin sind wir hier bei braven Vulkaniern zu Gast.

“Das würde noch fehlen!”, grollt eine vertraute Stimme hinter mir.

“Old Dragon!”

Die drei Meter große Raubechse haut mir zur Begrüßung eine Pranke auf die Schulter und kaut dabei genüsslich auf einer ganzen Salami herum. Der richtige Name dieses Wohnzimmer-Godzillas lautet Zoraff, allerdings weiß niemand, wo er herkommt. Er hat mal irgendwas gegrummelt, was wie „Gorn“ klang … egal. Jedenfalls hat er sich von seinem Volk, das wohl nur Kämpfen und Fressen im Kopf hat, losgesagt, und unterrichtet mittlerweile Soziologie an der Uni Potsdam. Die Studenten lieben ihn und haben ihm den Spitznamen Old Dragon verpasst.

“Alles ganz ethisch aus Muskelzellen gezüchtet!”, erklärt Amanda.

“Feine Muskelzellen!”, nuschelt das alte Reptil, während es den letzten Bissen seiner Wurst herunter schluckt und sich gleich die nächste schnappt.

“Friss uns nicht alles weg!”, protestiere ich.

Old Dragon grinst nur und kaut.

 

 

“Wo ist eigentlich Ioannis?”, frage ich besorgt.

“Keine Sorge, Schätzchen. Selbstverständlich lässt er sich nicht nehmen, seine Liebste wiederzusehen! Er badet nur gerade das kleine Kulleraugenmonster.”

“Annabelle!” Die Sehnsucht, die mich plötzlich packt, ist übermächtig.

Da tritt Ioannis mit dem Kind auf dem Arm über die Schwelle und seine Augen strahlen, als er mich sieht.

Zuerst knutsche ich Annabelle von oben bis unten ab. Sie guckt einen Moment fast panisch – aber dann lächelt sie und ich fühle mich, als ob die Sonne aufgeht. Mitten in der finsteren Dezembernacht.

“Mami!”

“Ja, ich bin es, meine Süße”, raune ich glücklich und erleichtert.

Ich hatte wirklich Angst, sie erkennt mich nicht mehr, nach drei Wochen, die wir uns nur auf Videoschirmen gesehen haben.

Ioannis übergibt die Kleine ihrer strahlenden Oma, dann hebt er mich mühelos hoch, drückt er  mich so fest an sich und küsst mich so lange, dass mir fast die Luft wegbleibt.

“Ich hab dich vermisst!”, flüstert er.

“Ich dich auch”, gebe ich atemlos zurück. “Und Annabelle!”

“Wir bleiben hier”, erklärt er entschlossen.

“Aber … Terra Prime …”

“Ich lasse mir von diesem vulkanischen Kriegerbund, zu dem Thalno gehören soll, ein paar Tricks beibringen – und dann liegen diese Feiglinge nächstes Mal auf der Schnauze!”, kontert er mit finsterer Miene und präsentiert seinen prächtigen Bizeps.

Er trägt ein “traditionell naxianisches Festgewand” – eine Art bunten Schal, dekorativ um seinen halb nackten, durchtrainierten Körper drapiert.

“Ich bin so froh, ehrlich!”, antworte ich zwischen zwei Küssen. “Aber du musst versprechen, auf dich aufzupassen, okay!”

“Mach ich”, erwidert er ernst und streicht mir die letzten Schneeflocken aus dem Haar.

“Annabelle, an der Christbaumspitze wird nicht genagt!”, schimpft meine Mutter in diesem Moment.

Seufzend drehen wir uns beide um. “Nun hat sie endlich Zähne und glaubt, sie wäre ein Eichhörnchen”, meint Ioannis. “Du glaubst nicht, was sie in letzter Zeit alles benagt: Datenchips, Schlüssel, Nägel …“

“Eine kleine Eisenfresserin?”

“Wenn es nur Eisen wäre …” Ioannis’ Blick wandert zu unserer Tochter.

Da Amanda ihr die Christbaumspitze weggenommen hat, nagt sie jetzt an einem Tannenzweig. Oma ist prompt zur Stelle, um ihr das stachelige Grünzeug aus dem Mund zu nehmen – da wird die Kleine zum Glück von Kah’Layra abgelenkt.

Mit einem verzückten “Ei, ei …” krabbelt sie der Füchsin hinterher und streckt ihre winzigen Fingerchen nach dem prächtigen Schweif aus. Doch Kah’Layra hat für die kesse Menschenwelpe nur einen herablassenden Blick übrig.

 

Elena und Bogdan verabschieden sich leider viel zu früh, weil sie den Weihnachtsabend mit ihrem bulgarischen Clan feiern wollen. Thalno ist darüber leicht enttäuscht, schließlich hat er ein besonders leckeres vegetarisches Soufflé gekocht.

Amanda füllt ein paar Schüsseln mit „ethischer“ Wurst, die letzte wird ihr regelrecht von Old Dragon aus der Hand gerissen. „Gefällt mir, euer Weihnachten!“, schmatzt die alte Echse. „Ich bin sicher, dieses Fest überdauert länger als die obskure Religion, die es hervor gebracht hat.“

Er spült die Worte und die Wurst mit einem großen Schluck Wein herunter.

Der Weihnachtsbaum sieht wunderschön aus, ganz in Rot und Gold. Ich hänge die letzte Kugel an die Tanne, verbeuge mich aus Jux und und alle klatschen. Als Mona und Lisa eine Minute später im Baum sitzen, lachen alle. Selbst als die erste Kugel mit einem leisen „Ping“ auf den Tisch fällt, denn der Schmuck ist zum Glück nicht aus Glas.

Aus Thalnos Comm-Anlage schmettert „Merry Christmas Everyone“, Nagi packt mit zwei Fangarmen meine Schultern und wir wiegen uns gemeinsam im Takt.

„Ich hoffe, ich kann deinen neuen Freund hiermit ausstechen“, scherzt Ionnis und hält ein hübsch verschnürtes Geschenkpaket hoch. Dann blickt er sich leicht hilflos um und legt es schließlich unter Nagis Funktionsschüssel ab. Ein dunkelgrüner Tentakel tastet neugierig nach dem Papier.

„Na, eigentlich legt man Geschenke unter den Tannenbaum – aber die Farbe passt schon mal“, ziehe ich ihn auf.

Die Teller werden je nach Geschmack mit Thalnos Was-auch-immer, Old Dragons Wurst oder beidem gefüllt. Die Weingläser klirren, wir wünschen einander frohes Fest.

Ioannis und ich haben Annabelle vor einer halben Stunde ins Bettchen gebracht.

Hardra lässt sich immer noch nicht blicken.

„Sie ist auf dem Weg hierher. Nur noch ein paar Minuten“, sagt Thalno, der meine Gedanken aufgeschnappt hat.

 

 

Ein Weihnachtslied später klingelt es an der Tür, kurz darauf kommt der Herr des Hauses mit einer völlig unbekannten Frau in den Garten.

Die Fremde ist atemberaubend hübsch: kaffeebraune Haut, große dunkle Augen, schwarze Lockenmähne, Sanduhren-Figur. Thalno nimmt ihr den Mantel ab, darunter kommt ein pailettenbesetztes rotes Cocktailkleid zum Vorschein.

Sie sieht mich an und lächelt, als würde sie mich kennen. In einer Hand hält sie eine Geschenktüte, in der anderen eine Art … Katzentransportbehälter?

Schmunzelnd öffnet sie das Gittertürchen, eine weiße Birmakatze spaziert heraus und reibt sofort ihr Köpfchen an meinen Stiefeln. „Hardra!“

Doch die fremde Schönheit schüttelt den Kopf. „Ich bin Hardra.“

Bevor ich verarbeiten kann, was sie da sagt, springt der weiße Teppichtiger auf meinen Stuhl, schnuppert kurz am Essen und räkelt sich herausfordernd. „Mrrau!“

Fast wie Molly.

Ioannis achtet nicht auf die Katze. Die dunkelhäutige Frau nimmt seine ganze Aufmerksamkeit gefangen und er starrt sie an, als wäre sie eine griechische Göttin.

Ich wedel ein paar Mal mit der Hand vor seinen Augen. „Hallo, muss ich etwa eifersüchtig sein?“

„Wohl kaum“, belehrt mich die Frau, die behauptet, Hardra zu sein, und tauscht einen vielsagenden Blick mit Thalno.

„Hardra hat die ernsthafte Absicht, meiner Bruderschaft beizutreten, und ich freue mich sehr auf meine zukünftige Waffenschwester“, erklärt der Anführer mit einem kleinen Lächeln.

Wie zur Bestätigung stemmen die beiden Wölfe ihre Flanken gegen Hardras Kleid, lassen sich knuddeln und blicken treu zu ihr auf.

„Ich freue mich auch!“, sagt Denheb und stellt sich demonstrativ neben Thalno.

Hardra umarmt ihn und reibt ihre Wange genüsslich an seinem Kriegermantel. Fast erwarte ich, dass sie anfängt zu schnurren.

„Bruderschaft?“, wage ich nachzuhaken.

 

 

Thalno blickt mich an und lächelt leicht. „Du hast bestimmt schon von den Ah’Maral gehört – den Kriegern, die in dunkler Vorzeit die Zelte der Turuska verteidigt haben, als es Surak noch nicht gab und wir von Sklavenhändlern fast ausgerottet wurden …“

„Diese Ah’Maral gibt es noch?“

„Ja“, erwidert Thalno ernst. „Wir mögen Frieden haben, aber Frieden ist niemals von Dauer.“

„Und … du gehörst dazu?“

„Ich, Denheb … und demnächst auch Hardra.“

„Thalno ist der Anführer“, erklärt die dunkelhäutige Schönheit mit einem fast schmachtenden Lächeln.

Was für ein verrückter Tag! Aber Weihnachten ist die Zeit für Überraschungen.

„Wow … ich weiß nicht, was ich sagen soll!“, stammele ich. „Erst bist du tagelang verschwunden, Hardra, dann legst du hier einen Auftritt wie für den roten Teppich hin, siehst aus wie eine Schönheitskönigin… nur weil du Ah’Maral werden willst?“

„Nun ja … auch deshalb“, gibt Hardra ehrlich zu. „Aber ich dachte in erster Linie, da ich jetzt Ressortleiterin bin, brauche ich einen Körper, in dem ich ernst genommen werde.“

„Also hast du dich in eine Super-Sexbombe verwandelt?“

Meine Mutter beobachtet die Frau mit einem verzückten Lächeln, ganz nach dem Motto „Ein bisschen bi schadet nie.“ Gleichzeitig krault sie die Katze neben ihr auf dem Stuhl.

Die Katze … Ich blicke die dunkelhäutige Sexbombe scharf an. „Wenn du Hardra bist – wer ist dann das Pelztierchen, das mir meinen Platz geklaut hat?“

„Du weißt es“, erwidert die Humili ernst. Dann huscht ein Lächeln über ihr Gesicht. „Spätestens wenn ihr euren deftigsten Käse auspackt.“

Ich blicke in die Augen der weißen Katze – so vertraute Augen, und doch ganz anders als Hardras … „Molly?“

„Mrrrau!“, antwortet das Katzenwesen selbstbewusst.

Meine Augen werden feucht. „Wie kann das sein?“

„Der Transfer in meinen neuen Körper war schon lange geplant“, erklärt die Humili. „Aber irgendwie fiel es mir schwer, mich von der Katze zu trennen, die sieben Jahre lang ein Teil von mir war. Die neuen Avatare sind zwar naturalistischer als die alten, aber nicht ganz so haltbar. Zwei Jahre, vielleicht drei … Wenn sie von keiner Seele belebt werden. Aber dann hörte ich die traurige Geschichte von Molly und wusste, was zu tun war. Diese Katze verdient ein zweites Leben, ein rundherum schönes Leben – und du brauchst, wie mir scheint, eine Katze.“

Die Miez auf meinem Stuhl blickt mich an, als ob sie alles versteht.

„Sie versteht in der Tat sehr viel“, meint Thalno mit einem Lächeln.

„Molly …“ ich vergrabe meine Finger in ihrem weichen Pelz und sie schnurrt so laut, dass es sogar die Weihnachtsmusik übertönt.

„Das ist …“ Ich finde keine Worte und falle Hardra spontan um dem Hals. „Danke, danke, danke!“

„Ich weiß zwar, dass man keine Tiere verschenken soll, aber …“

„Es war Mollys Entscheidung“, vollendet Thalno Hardras Satz. „Das ist eine sehr kluge Katze, die genau weiß, was sie will – und sie möchte zu dir, Melissa. Das wollte sie schon, als sie noch bei dieser verdrehten Familie war – aber die haben sie natürlich nicht nach ihrer Meinung gefragt.“

Sie hat eine Meinung und sie will zu mir. Sie liebt mich. Ich wusste es, Molly!

„Was sagen denn Karin und Gerd dazu?“, hake ich vorsichtig nach.

„Sie sind einverstanden“, antwortete Hardra. „Thalno und ich haben persönlich mit ihnen gesprochen. So sehr sie sich freuen, dass die Mieze noch am Leben ist, sind sie wohl auch froh, dass ihre kostbare Ledercouch heil bleibt und dass sie nun frank und frei durch die Welt reisen können, ohne jemanden bitten zu müssen, auf ihre Katze aufzupassen.“ In ihrer Stimme schwingt leichte Verachtung mit.

„Ein Teil von mir kann die beiden Alten verstehen“, meint Thalno überraschender Weise. „Jedes Mal, wenn sie einen Katzensitter für Molly gebraucht haben, waren sie auf ihre missratenen Kinder angewiesen. Besonders, als Melissa nicht mehr da war. Der liebe Chris, der mit seinem Vater monatelang kein Wort gesprochen hat, weil er Karin nicht leiden konnte … bis es ihm letztendlich sogar gelungen ist, seinen Bruder gegen die arme Frau aufzuhetzen … Ich hätte keinen von der verlogenen Bande um irgendwas bitten wollen!“

Hardra lächelt. Als ehemalige Diplomatin freut sie sich natürlich immer, wenn eine Lösung gefunden wird, mit der alle Beteiligten glücklich sind.

„Dann sei willkommen, meine gute, alte Freundin!“ Ich nehme die Katze auf den Schoß, wo sie schnurrend liegen bleibt.

Thalno füllt Hardras Teller, die Humili bedankt sich und dann – Ich glaube, ich sehe  nicht richtig! – leckt sie mit einem genießerischen Blinzeln die Soße vom Soufflé.

Ioannis macht große Augen, Amanda und Knut können sich das Lachen kaum verkneifen, Ulan’jah lacht so laut, dass ihr Fühler wackeln, Nagi reckt die Stielaugen vor und Thalno schmunzelt.

„Entschuldigung, ich war sieben Jahre lang Katze und bin erst seit drei Tagen ein Mensch“, erklärt Hardra leicht verlegen.

„Und zuvor warst du dreihundert Jahre ein Lurch“, gebe ich grinsend zurück.

„Wohl eher eine Kaulquappe mit einem Körper, der kaum funktioniert hat“, entgegnet Hardra ernst. „Unser Volk ist auf einen Irrweg geraten und stirbt. So kann das auf keinen Fall weitergehen! Aber wir müssen erst herausfinden, welche Lebensweise in Zukunft für uns die richtige ist.“ Ihr Blick streift Thalno. „Auch ein Grund, weshalb ich Ah’Maral werden möchte.“

„Nicht, weil du von Thalno entzückt bist?“, kann ich mir  nicht verkneifen, zu kontern.

„Das gab natürlich den Ausschlag bei der Wahl der Bruderschaft“, kontert Hardra und alle lachen.

 

 

Inzwischen hat sich die Nacht wie eine schwere, schwarze Decke über den Gördenwald gelegt. Die Wolken lichten sich und einzelne Sterne blitzen auf. Eine schwache Stelle im Kraftfeld entlässt Kah’Layra in den Schnee. Die Kerzen am Weihnachtsbaum flackern, als wären sie echt.

Alles neu, alles anders.

Aber das beste Weihnachtsfest, seit ich denken kann!

Ich streichele Molly, die nur flüchtig das Köpfchen hebt und dann weiterpennt.

Wie sagte Shan‘Dras in seiner Weihnachtsansprache?

 

„Für die Menschen beginnt bald ein neues Jahr. Und ich wage, zu behaupten, dass für uns alle in diesem kommenden Menschenjahr ein neues Zeitalter beginnt …“

 

Nicht nur für die Menschheit. Auch für die Humili, wie es scheint.

Für die gesamte Föderation.

Und für eine kleine freche Katze beginnt jetzt ein neues, besseres Leben.

 

 

ENDE

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