Trendsetter

Marusha ist Bestseller-Autorin. Sie schafft Trends. Sie ist Trend. Nun muss sie einen Trend erfinden, der ihren Planeten vor dem Untergang rettet …

SF-Kurzgeschichte von Gabriele Scharf

Das Volk der Isogenen ist eine etwas merkwürdige Spezies. Sie leben in Türmen, die bis in die Stratosphäre ihres Planeten reichen. Sie haben eine zehntausend Kilometer lange Brücke zwischen ihren beiden Kontinenten gebaut. Zusätzlich haben sie auch einen Tunnel gebaut, falls diese Brücke einmal unpassierbar sein sollte. Sie haben Apparaturen, die von angemessener Kleidung zu jeder Mondzeit bis hin zu Schokoladenchips alles produzieren können. Nur – keiner weiß genau, wie das alles wirklich funktioniert.
Wenn mich jemand fragen würde, warum die Brücke überhaupt noch steht, wüsste ich es nicht. Ich käme auch ins Nachdenken, warum wir in so hohen Türmen leben. Als ich geboren wurde, waren sie schon da. Meine Geburt war übrigens nicht ganz einfach. Ich wurde genau in der Mitte des Tunnels zwischen Nord- und Südkontinent geboren. Am Anfang machte mir das nicht viel aus. Marusha hingegen schon. Ihr Geburtsort war immer ein dunkler Punkt in ihrer Vita. Es gab noch andere dunkle Punkte in ihrem Leben, doch nach dreihundert Mondunter- und aufgängen, strahlte ihr Licht so hell wie der neue Stern am Himmel der Isogenen. Die Spezialisten nannten ihn “Supernova XCZ 035″. Aber wen interessierte das? Das Aufleuchten eines neuen Himmelskörpers wurde mit einer gigantischen Party gefeiert, die bei der nächsten Isogenumdrehung schon wieder vergessen war.
Dabei sind Isogenen nicht dumm. Nur vergesslich. Sie haben so viel Wissen, dass sie für jedes neue Wissen Spezialisten ausbilden. Wissenschaft ist bei den Spezialisten auf den Nordkontinent angesagt. Aber sie ist auf Isogen kein Trend.

Marusha ist Trend.
“Marusha! Liebes. Wir haben einen Termin!” Mein Agent. Schrecklich. Es ist gerade mal der zweite Mond aufgegangen. “Leg dir das Pinkfarbene an und komm mit!”
Ich zog die Decke über meinen Kopf. Er weiß doch, dass mir Pink nicht steht. Will ich aussehen wie ein langweiliger Ozean? Nein. “Juanita Rodriguez de Feirreira! Aufstehen!”
Vorsichtig lugte ich unter meiner Kuscheldecke hervor und sah ihn an. Der Kerl meint es ernst. So wie er dastand. Außerdem hat er mich Juanita genannt. Scheußlicher Name. Macht sich besonders schlecht über Bestsellern. Ohne Marusha wären es keine geworden.
“Raus hier! Los! Will mich anziehen”, schmollte ich.
Nach ein paar Minuten sah mich mein Agent an, als wäre ich wahnsinnig geworden.
“Grün?”
“Sicher!”
“Das liegt überhaupt nicht im Trend!”
“Stimmt!”
Er fand sich damit ab und redete auf dem langen Weg zu einem Termin über unser neues Buch.
“Unser?”, knurrte ich ihn an.
“Marusha. Diesmal ist es ein wenig anders. Du hast seit zehn Monden nichts mehr geschrieben. Ist dir das aufgefallen?”
“Hab’s vergessen.”
“Deine Leser nicht.”
Ich lächelte. Meinen Lesern hatte ich alles zu verdanken. Ich konnte Grün tragen, wenn Pink Trend war. Ich konnte unpatriotisch im Tunnel geboren worden sein und keinen interessierte es. Ob ich zu den Trendsettern auf den südlichen oder zu den Spezialisten auf den nördlichen Kontinent gehörte. Oh, großer Isogen! Wir fuhren nach Norden!
Zu den Spezialisten.
“Was hast du vor?”, fragte ich misstrauisch meinen Agenten. “Soll ich einem Vortrag über die Stammgene von Schlammwürmern lauschen, damit mir etwas einfällt?”
“Marusha, Marusha … wenn du wüsstest …”
Warum sind Fahrten nach Norden immer so langweilig?
Ich war reichlich verschnupft. Der Nordkontinent hatte eindeutig zu viele Wälder, zu viele Wiesen und so etwas Merkwürdiges wie Sümpfe. Obwohl ich Halbblutspezialist war, machte mir das nordkontinentale Klima zu schaffen. Selbst in ihren Türmen schwollen meine Schleimhäute nicht ab. Im Gegenteil.
“Küss die Hand, gnädige Frau”, begrüßte mich ein Spezialist.
Ich sah ihn mit tränenden Augen an, als er tatsächlich seinen Mund auf meinen Handrücken legen wollte.
“Hatschi!” Ich zog meine Hand weg und putzte mir die Nase. Er sah mich verschämt an. “Ich dachte, diese Art der Begrüßung ist gerade … Trend?”
Großer Isogen! Das war noch vor meiner Geburt. Doch ich blieb höflich.
“Nordkontinentale Allergie”, schniefte ich.
“Ah … Moment!”
Er klatschte fünfmal in die Hände. Danach roch es nach … nach … “Tostafarn und Hallblütenkraut in Verbindung mit heilendem Ozon”, half der Spezialist meine Erinnerung aufzufrischen.
Ich atmete tief durch und wartete auf ein erneutes Niesen. Aber es kam keines mehr. Genial.
“Wir haben nicht so oft Besuch vom Südkontinent”, entschuldigte er sich.
“Schon in Ordnung! Ich weiß gar nicht, warum ich überhaupt hier …”
“Marusha”, unterbrach mich mein Agent. “Darüber haben wir doch gesprochen: dein neues Buch!”
“Ah ja … richtig. Um was geht es da?”
Der Spezialist knetete verlegen seine Hände. “Sehen Sie, Marusha … Sie haben uns schon einmal geholfen, eine drohende Isogenkatastrophe abzuwehren.”
Ich hob die Hand. Der Spezialist und mein Agent sahen mich aufmerksam an. Ich sah in die Luft und erinnerte mich schneller, als ich es sonst tat: mein zweiundvierzigstes Buch. Damals stellten die Spezialisten fest, dass zu viele Güter von den Isogenen in ihren Türmen gelagert wurden, obwohl sie diese gar nicht brauchten. Das hatte fatale Folgen. Es waren kaum noch Ressourcen für die Apparate da. Außerdem drohten die Türme einzustürzen. Marusha schuf damals einen neuen Trend: Entrümpelung.
“Die Türme wären sicher nicht eingestürzt”, unterbrach der Spezialist meine Erinnerungen.
“Nicht?”
“Nein. Aber die Idee war gut!”
“Oh”, entfuhr es mir. Da musste ich etwas durcheinander gebracht haben.
“Es ist nicht leicht, mit nur pränatalem Lernen auszukommen”, fing jetzt der Spezialist an. “Aber wieso das denn? Wir Isogener lernen doch alles im Mutterleib, was wir später an Wissen brauchen”, widersprach ich ihm.
“Zumindest die Südkontinentaler”, fügte ich hinzu, als ich seinen Gesichtsausdruck sah.
“Marusha, soweit ich weiß, sind sie nicht nur Südkontinentaler. Sonst hätten Sie kaum so viele Ideen für Ihre Werke.”
“Wenn ich mich einmischen darf. Genau darum geht es doch heute”, riss mich der Agent aus einem wohligen Gefühl des angenommenen Lobes. “Richtig!”, sagte der Spezialist und klatschte einmal in die Hände. Vor uns fuhr eine durchscheinende Wand hoch, die ein wirklich spektakuläres Bild zeigte: das Isogensystem.
“Sehen Sie hier. Das ist unsere Isogenensonne. Das ist unser Isogenplanet. Dort ist der Isogenmond eins, Isogenmond zwei und Isogenmond drei”, fing der Spezialist an zu erklären.
Welch uninspirierende Namensgebung. “Und?”, fragte ich vorsichtig nach.
“Sehen Sie das hier”, sagte der Spezialist plötzlich sehr ernst.
Das Bild veränderte sich. Die Isogensonne blähte sich auf. Der Isogenplanet bekam eine rötliche Farbe. Sein pinkfarbener Ozean verschwand und man sah nur noch Narben ausgebrannter Zonen, welche die Oberfläche beherrschten. Ich musste unwillkürlich schlucken. Doch es wurde noch schlimmer. Immer weiter blähte sich die Isogenensonne auf und verschlang Isogen. Weg war er!
“Was ist das?”, fragte entsetzt mein Agent. Ich konnte nicht sprechen. Es war einfach zu grauenhaft!
“Können Sie sich an Supernova XCZ 035 erinnern?”
“Die tolle Party! Ja, natürlich. Ich habe damals … ähm … Entschuldigung.”
Der Spezialist sah mich jetzt sehr traurig an. “Pränatales Lernen”, sagte er nur.
Ich musste wieder schlucken.
“Sie dachten, ein neuer Stern wäre am Himmel. Dabei ist es ein sterbender Stern …”
Totenstille im Raum.
“Es ist auch das Schicksal unserer Sonne. Wenn die Wasserstoffvorräte im Inneren des Glutofens aufgebraucht sind, wird unser System genauso wie seine Sonne sterben.”
Ich brauchte dringend ein Taschentuch.
“Aber, aber, meine Liebe! Doch nicht gleich!”
“Nicht?”, schluchzte ich.
“Es wird kein plötzliches Ende sein!” Er reichte mir ein Taschentuch.
“Aber wieso, erzählen Sie mir dann das alles?”, fragte ich ihn, nachdem ich mir die Nase geputzt hatte.
“Unsere Sonne hat uns Milliarden Isogenumdrehungen treu und zuverlässig mit Energie versorgt. Jetzt haben wir festgestellt, dass sie nicht mehr lange leben wird.”
Ich schluchzte erneut auf. Von meinem Agenten hörte ich gar nichts mehr.
“Lange in unseren Maßstäben!”
“Spezialisten?”, fragte ich tapfer nach.
“Ja. Wir haben noch Zeit. Ein paar hunderttausend Isogenumdrehungen. Aber im Verlauf der kosmischen Zeit ist das nicht viel. Kaum ein Isogener beobachtet den isogenischen Himmel. Selbst viele Spezialisten schließen sich in ihren Laboratorien ein. Kurz gesagt: Es interessiert fast niemanden. Wir haben einfach Angst, dass es …”
“… vergessen wird!”, schloss ich seine Ausführungen.
Er nickte traurig.
Ich atmete tief durch. Ich hatte zwar keinen Patriotismus, weil ich nicht wusste, ob ich nun zum Süd- oder Nordkontinent gehörte. Aber ich würde Isogen retten! Natürlich nicht den Planeten.
Die Isogener!
Ich stand auf und verkündete feierlich: “Auch wenn wir eine merkwürdige Spezies sind …”
Der Spezialist und mein Agent sahen mich erwartungsvoll an.
Ich überlegte eine Weile. Dann wusste ich es: “… haben wir es verdient, länger zu leben, als unsere Sonne!”
Jetzt hatte selbst der Spezialist Tränen in den Augen.
“Ich werde alles tun, was mir möglich ist. Falsch! Ich werde die Isogener retten! Mit einem noch nie da gewesenen Trend!”
Welcher das sein sollte, wusste ich allerdings auch nicht. Mir fehlte der entscheidende Einstieg in das Isogenuntergangsdrama. Deshalb stieg ich auf. Ich fuhr mit dem Turbolift meinen Turm hinauf bis zur letzten Etage. Wenn man etwas beschreiben will, muss man es erleben. Und von hier oben dürfte der Blick auf den Himmel wohl kein Problem sein.
“Halt! Wo wollen Sie hin?”
Ich sah in die Richtung dieser seltsamen Frage. “Nach oben …”, sagte ich einem ältlichen Isogener, der neben den Ausgang des Turbolifts saß. Er machte eine abwehrende Geste und hatte Schwierigkeiten sich zu erheben.
“Nicht so! So können Sie nicht weitergehen.”
Ich sah an mir herunter. Nachttürkis. Angepasst an meine Recherchen, den isogenischen Himmel betreffend. Kam man hier nur mit Pink durch? Und wieso weitergehen? Das war definitiv das letzte Stockwerk, das der Turbolift ansteuern konnte.
“Sehen Sie. Sehen Sie”, dabei deutete er auf die noch offene Tür des Turbolifts. Ich sah hinein und dann fragend auf den ältlichen Isogener.
“Die Schubfächer. Gleich da links”, erklärte er ungeduldig.
Als ich ihn immer noch fragend ansah, schüttelte er den Kopf.
“Immer vergessen sie alles!”
“Was denn?”
“Die Luft ist da oben zu dünn”, fauchte er mich jetzt an. “Bauen Türme so hoch und vergessen die Luft zum Atmen!” Dabei packte er mich am Arm und zog mich vom Turbolift weg. Die rettende Tür vor Alterswahnsinn schloss sich. Ich sah ihr sehnsuchtsvoll hinterher, doch der Alte kannte keine Gnade. Er zog mich zur gegenüberliegenden Wand, an der ein Schrank stand. Mit einer Hand hielt er mich fest, mit der anderen öffnete er die Schranktür und zog eine Luftmaske hervor. “Da! Anlegen!”, befahl er barsch. Plötzlich erinnerte ich mich. Es war in der zwanzigsten Woche meiner pränatalen Existenz, als ich lernte, dass man nicht überall atmen konnte. “Hält der Turbolift deshalb hier?”, fragte ich ihn.
“Sie erinnert sich!”, entfuhr es ihm fassungslos. Er ließ meinen Arm los, trat ein paar Schritte zurück und betrachtete mich verzückt. “Ja!”, sagte er begeistert. “Und da geht es weiter”, fügte er noch an und zeigte auf die offene Tür neben der Wand mit dem Schrank. Zögernd ging ich zur Tür, sah um die Ecke und entdeckte Treppen, die nach oben führten.
“Luftmaske nicht vergessen!”, schrie er mir nach. Ich atmete noch einmal tief durch und legte dann die Maske an. Die Luft roch plötzlich ein wenig nach alten Schuhen und Deodorant. Trotzdem atmete ich tapfer weiter. So stieg ich die Treppen meines Turms hoch. Stieg und stieg und verfluchte das nachttürkisfarbene Gewand, das ich trug. Es war eindeutig nicht dazu geschaffen, meine Recherchen vor dem nächsten Mond zu beenden. Immer wieder verfingen sich meine Füße in dem weit schwingenden Stoff. Kurz dachte ich daran, was passieren würde, wenn die Luftmaske versagen würde. Die zwanzigste Woche meiner pränatalen Existenz war so überdeutlich vor mir, dass ich merklich schneller atmete. Ob der Alte mich retten würde? Mehr als zweifelhaft.
So erreichte ich den fast höchsten Punkt meines Turmes. Als ich die letzte Stufe erklomm, sah ich über mir den isogenischen Himmel in all seiner Pracht. Zwei von drei Monden erhellten ihn. So hell, dass ich die Augen zusammenkneifen musste, um Sterne erkennen zu können. Mhm.
Ich sah hinauf in die gläserne Konstruktion der Turmspitze, die von meinem Standpunkt aus mit dem isogenischen Himmel zu verschmelzen schien.
Nun ja …
Ich stieg wieder etliche Treppen hinunter, verfing mich im Stoff meines Gewandes und fiel die letzten Stufen hinunter. Ich war so in Schwung, dass ich durch die Tür bis vor die Füße des ältlichen Isogeners schlitterte, der jetzt wieder neben dem Turbolift saß.
“Wie war’s?”, fragte er mich.
Ich zog die Luftmaske herunter und sah nach oben.
“Ich weiß nicht so recht …”
“Nicht beeindruckend?”, fragte er weiter.
Ich stand auf und zupfte so lange an meinem Gewand, bis der Stoff wieder elegant nach unten fiel.
“Es war erhebend. Erleuchtend …”, versuchte ich mich in lyrischen Worten. “Aber …”
Die Türen des Turbolifts öffneten sich und ich ging hinein. “Was aber?”
Ich drehte mich um.
“Stellen Sie sich mal vor, das wird zum Trend”, orakelte ich.
“So viele Luftmasken habe ich nicht!”
“Eben.”
Dann schloss sich die Turbolifttür und ich fuhr wieder nach unten. Der entscheidende Einstieg in mein Isogenuntergangsdrama musste etwas anderes sein. Den nächsten Mond grübelte ich darüber, wie man die Isogener auf den Südkontinent dazu bringen könnte, sich für ihren Himmel zu begeistern. Noch schwieriger war es mit den Spezialisten auf den Nordkontinent. Im Süden war es gerade Trend, auf zwei Brettern unter den Füßen über das Wasser der angrenzenden Küsten zu schlittern. Merkwürdig.
Noch merkwürdiger die Isogener auf dem Nordkontinent. Unser Stern würde uns bald um die Ohren fliegen und die meisten Spezialisten beschäftigten sich immer noch mit Schlammwürmern oder Libellenlarven. Der Nordkontinent hatte eindeutig mehr Wälder. Fatal. Marusha musste einen Trend setzen, der so gewaltig war, dass selbst Spezialisten ihre Insekten vergessen würden. Die Isogener mussten freiwillig ihre Türme und Laboratorien verlassen, um den Himmel zu beobachten …
Moment.
Ich hab’s!
Außergewöhnliche Situationen verlangen drastische Maßnahmen. Ausreden lasse ich nicht gelten. Von wegen “ich habe die vierzigste Woche meiner pränatalen Existenz vergessen”.
Ich kaufte ein Teleskop.
“Danke, dass Sie sich für T798 entschieden haben. Das wichtigste Teil von T798 ist das ZF12. Es ist ein GA124 und sammelt das Licht in einem Brennpunkt. Dort entsteht am Ende von PX333 ein kleines, auf dem Kopf stehendes und seitenverkehrtes Bild …”
„Oh großer Isogen!’, dachte ich mir, als ich die Gebrauchsanleitung las. „Wer soll das denn verstehen?’
Um mich herum hatte ich die Einzelteile eines Teleskops gelegt, die ich vorher vorsichtig aus einer minimalistischen Kiste herausgeholt hatte. Schon da sank mein Mut. Die Einzelteile hatten Aufschriften wie FTH 209 und ZF12. Trotzdem machte ich mich ans Werk. Wie soll ich meinen Lesern die Begeisterung für Himmelsbeobachtung beibringen, wenn ich nicht mal ein Teleskop zusammenbauen kann?
Ich konnte es auch nicht.
Erst als ich einen kleinen Zettel fand, auf dem stand: “ZF12 = Objektiv, FTH 209 = Fokussiertubushalter, GA124 = Sammellinse …”
So sah die Sache doch schon ganz anders aus. Ich kratze die sinnlosen Aufschriften, die nur Spezialisten angebracht haben konnten von den Einzelteilen ab und schrieb die leicht verständlichen Worte wie zum Beispiel “Teleskoptubus” und “Taukappe” darauf.
Danach gelang es mir, das Teleskop zusammenzubauen. Ich brauchte dazu etwas mehr Zeit, als ich annahm. Als ich mein Werk vollendet sah, hatte ich doch tatsächlich Tränen in den Augen. Ich nahm ein Taschentuch, putzte mir die Nase und schrieb dem Verkäufer des Produktes T798. Seine Antwort kam prompt: Ich sei die erste Kundin, die anfragt, warum Teleskope nicht in einen Stück geliefert werden könnten. Er baue schon seit vierhundert Monden Teleskope. Da sie so gut wie niemand kaufen würde, hatte er sie alle auseinander genommen und in kleine Kisten verpackt, weil in seinem Turm kein Platz mehr war. Ich nickte ergriffen, als ich seine Antwort las. Traurig so etwas. Da haben wir schon so hohe Türme. Übrigens störten sie meine Himmelsbeobachtungen. Egal, wo ich das Teleskop aufstellen wollte, ich fand kein nach der Beschreibung zufolge “entferntes, markantes Ziel”, wonach ich es ausrichten konnte. Ich lief den ganzen Tag durch unsere Turmbauten und entschloss mich dann, zur Küste zu fahren. Ich ließ den Gleiter vor der Brücke, die zum Nordkontinent führte, abbiegen und eine Weile fahren. Danach stieg ich aus und hatte ein entferntes, markantes Ziel. Wenn etwas markant war auf Isogen, dann diese Brücke. Immerhin meinten die Spezialisten, man könne sie vom All aus sehen, wenn man auf Isogen heruntersehen würde. Nur sahen Isogener nicht hinauf.
Das würde sich jetzt ändern!
Nachts beobachtete ich unsere Monde und dachte mir Namen für sie aus. Einen nannte ich Mond. Den anderen Luna. Ich fand das großartig. Für den Dritten fiel mir vorerst nichts ein. Ich konnte sogar die Sterne beobachten. Weil ich gerade so schön in Schwung war, nahm ich die Sternenkarte des Spezialisten und schrieb sie um. Aus XC 035 wurde zum Beispiel “Sterbender Stern”. Am Tag beobachtete ich unsere Sonne. Dabei fielen mir Schreckensszenarien ein, welche die meines zweiundvierzigsten Romans bei weitem übertrafen. Sollte ich meine Leser wirklich so schockieren? Ach was. Sie würden es überleben. Unsere Sonne starb. Das war dramatisch. Nicht der eventuell in die falsche Kehle geratene Schokoladenchip eines Lesers.
So brachte ich Tag und Nacht an einem verlassenen Küstenabschnitt des Südkontinents zu und begann mich wie mein einsamer Held zu fühlen, der den isogenischen Himmel beobachtete. Dabei ließ ich mich direkt am Strand mit allem versorgen, was ich brauchte. Ich schickte meinen Gleiter zu den Türmen und er kam immer voll gepackt zurück. Den Apparaten sei dank.
Nach zwei Monden kehrte ich erschöpft zu meinem Turm zurück und drückte meinen Agenten eine Datendisk in die Hände.
“Marusha!”, sagte er ergriffen. “Nach fünfzehn Monden …” Dann gingen ihm die Worte aus und ich ins Bett.
“Ah, Señora Juanita!”
Ist er nicht freundlich. Der noch einzige Verkäufer im Randturm links hinten. Sicher könnte ich mir alles von meiner behaglichen Ruhestatt aus kaufen. Aber wieso sollte ich? In einem altmodischen Laden herumzustöbern machte mehr Spaß. Außerdem gab es hier keine abrufbaren Datendisks, sondern echte Bücher.
Ich weiß, ich weiß. Es ist definitiv nostalgisch. Rohstoffvergeudung. Gefährlich für unser Isogenklima. Da wir seit Jahrtausenden so dachten, gab es aber auch genügend Mondwälder. So richtig schön in Pink. Dieses machte sich wiederum als Buchform noch reizender, als wenn wir über eine endlose Brücke fuhren und einen langweiligen Ozean dabei betrachten mussten.
“Ich hoffe, Sie wollen kein Teleskop?”, riss mich der noch letzte wahrhafte Verkäufer von nostalgischen Dingen aus meinen Gedanken.
“Wie bitte?”
Der Verkäufer hatte ein so breites Grinsen, dass ich genau wusste, er hatte nicht nur Umsatz gemacht. Er hatte sogar sehr viel Umsatz gemacht. Sofort war ich wieder hell wach. Ich hatte einige Tage – gut es waren zehn – unter meiner Kuscheldecke zugebracht und mich immer noch wie mein einsam himmelsbeobachtender Protagonist gefühlt. Jetzt fühlte ich mich wieder wie Marusha. Oder eher wie –
” Señora Juanita, dank Marusha habe ich unverkäufliche Ware an die Isogener gebracht.” Dabei rollte er das “R” so sehr, dass ich befürchtete, er würde sich beim nächsten Wort daran verschlucken.
“Ach!”
“Ja, ja, ja! Sehen Sie dort hinten. Ich hoffe, das neue Buch von Marusha wird nicht zum Ladenhüter. Ha, ha, ha!”
Was gibt es da denn zum Lachen?
Ich sah auf den noch recht umfangreichen Stapel meines neuen Romans. Sonst war da kein Stapel. Ich hatte immer vorbestellen müssen. Und jetzt das!
Unverschämtheit.
Dabei hatte ich mir so viel Mühe gegeben und jetzt waren Teleskope im Trend. Das muss man sich mal vorstellen.
Mit Teleskopen musste man sich abmühen. Verstehen, wie es geht. Bei all unserer Vergesslichkeit. Bei all unserer Spezialisierung auf Schlammwürmer und deren Stammgene. Nordkontinentaler wie Südkontinentaler ließen sich von einer unscheinbaren Datendisk vorlesen. Kauften sie nicht als Buchform, sondern lieber Teleskope, um den Himmel über Isogen zu beobachten. Wer weiß, wo das noch enden würde.
Marusha aber grinste. Sie hatte es mal wieder geschafft. Sie hatte es wahr gemacht, die Isogener zu retten. Und dabei vergessen, dass man ihre Bücher auch vergessen konnte bei dem ganzen Isogenuntergangsdrama. Es kam aber noch schlimmer. Nach ein paar Monden fingen die Isogener an, Raumschiffe zu bauen. Alles aus ihren Türmen in diese Schiffe zu packen und ihren Planeten zu verlassen.
Ich fand, dass meine Leser nun wirklich übertrieben. Wir hatten doch noch Zeit! Unsere Sonne würde erst in ein paar hunderttausend Isogenumdrehungen sterben. Nicht jetzt!
Jetzt, wo es so ziemlich langweilig auf Isogen wurde. Wo Marusha nach einiger Zeit feststellen musste, dass sie gerade das in ihrem letzten Roman vergessen hatte, zu schreiben.
Dafür hasste ich sie.

© 2005 by Gabi Scharf

 

 

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