Als die Elfenmalerin erwacht, ist ihre Welt grau. Kann sie die Farbe zurückbringen?
Fantasy-Geschichte von Gabriele Scharf
Die Welt war anders.
Nur merkte ich es nicht gleich.
Grau. Stellte ich fest. Ein kurzer Blick aus dem Fenster genügte dazu. Tief liegende Wolken vermischten sich mit dem Nebel, der über dem Moos lag. Traurig ließ die Birke vor meinem Haus ihre Äste nach unten hängen, als würde sie dieses Grau nicht mehr ertragen wollen.
Mit schlaftrunkenem Blick tapste ich ins Badezimmer. Ein flüchtiger Blick in den Spiegel. Grau und öde. Nichts Besonderes.
Mechanisch begann ich mein Morgenritual. Kaltes Wasser auf fröstelnder Haut. Eine Bürste, die widerspenstige Haare nicht bändigen konnte. Dabei schaute ich auch heute nicht mehr in den Spiegel. Er hatte im Laufe der Jahre Flecke bekommen. Immer noch von der Müdigkeit des vorangegangenen Tages befangen, streifte ich mir meinen Pullover über. Er war weder modisch, noch sonst irgendetwas, aber ich konnte mich nie von etwas trennen, was ich lieb gewonnen hatte.
Mein Morgenritual war noch nicht zu Ende. Es fehlte der Kaffee.
Ich habe noch niemals jemanden so sinnlich Kaffee trinken gesehen, wie die Jugendstildame auf meiner Kaffeedose. Altrosa Kleid mit grüner Umrankung.
Die Dose glitt aus meiner Hand und verschüttete den Inhalt auf den Küchenboden.
Schwarzgraues Gemisch gemahlenen Kaffees auf kaltem Steinboden.
Das Kleid der sinnlich Kaffee trinkenden Jugendstildame war nicht altrosa.
Ich starrte der rollenden Dose hinterher, bis sie vom Hin- und Herrollen endlich still dalag. So als wäre nichts geschehen.
Aber die Welt war anders.
Sie war Grau.
Vielleicht gibt es ja so etwas: über Nacht eintretende Farbblindheit. Und selbst wenn dies nur auf 1 Prozent der Weltbevölkerung zutreffen sollte. Bei meinem Glück in der Wahrscheinlichkeitsrechnung gehörte ich nicht zu dem ganzen Rest der 99 Prozent.
Oder aber … ich schaute aufmerksam aus dem Fenster … das Nebelgrau hat einen Weg gefunden, meine jetzt mit einer Beule versehene Kaffeedose einzufärben. Ich lachte auf.
Wieso ist leuchtet dann die Cattleya auf der Fensterbank nicht purpurrot, sondern bewegt sich hin zum Dunkelgrau? Wieso schaut mich der kleine Teddybär zwar mit kleinen schwarzen Augen, aber auch sonstwie grau an. In den Händen ein kleiner Brief. “Für meinen Schatz” , daneben ein kleines Herz. Ich wußte ganz genau, dass die Schrift mal blau war.
Plötzlich interessierten mich die Flecken am Spiegel nicht mehr. Aufmerksam sah ich mich an. Graue Augen. Kurze Erleichterung.
Sie waren selten grau, öfters blau und meistens grün.
Hilflos warf ich die Tür hinter mir zu. Das Badezimmer samt alten Spiegel entschwand meinem Blickfeld. Dafür Grau, Weiß, Schwarz, Grauschwarz, Weißgrau.
Schöne Isabella aus Kastilien, pack deine ganzen Utensilien und komm zurück zu mir nach Spanien. Du weißt doch, nur im schönen Lande der Toreros bist du dein Herzchen und noch mehr los…
Comedian Harmonists, schwarz-weiß im Frack. Sie sehen gut aus, auch in Grautönen.
Mein liebes Kind, du weißt ja, im schönen Lande der Toreros…
Sie sahen auch in Farbe gut aus, nur im Film waren es nicht die echten. Der Film ist jetzt auch schwarz-weiß. Der ganze Aufwand umsonst.
Drum komm zurück zu mir nach Spanien…
Klick. Die Fernbedienung landet schwungvoll auf der Couch.
Dort laß ich sie allein.
Kleine Gemeinden hübsch angeordnet um eine große Stadt sind Perfektionisten im Täuschen. Täuschungsmanöver Nummer eins ist St. Marien. Der Kirchturm blickt erhaben zu den mit träumerischer Hand ihn umkreisend hingebauten Häuser, die nicht einmal halb so hoch sind. Rote Ziegeldächer drängen sich dicht aneinander.
Täuschungsmanöver Nummer zwei sind enge Strassen und Gassen, die auf verschlungenen Wegen zu St. Marien führen. Vorher jedoch den Marktplatz kreuzen.
Täuschungsmanöver Nummer drei ist der kleine Marktplatz selber. Heimelig umgibt er sich mit Krämerläden, Supermarkt und die Praxis des allseits beliebten Hausarztes.
Wenn ein Fremder kommt – egal wann – tappt er in die Falle des ruhigen verschlafenen Gemeinwesens. Wenn er bemerkt, dass die Menschen hier genauso eilen wie in seiner fluchtartig verlassenen Stadt, ist es bereits zu spät. Dann kann er nicht mehr zurück. Hier ist es doch irgendwie übersichtlicher. Zumindest ist am Rande der kleinen Gemeinde noch Platz. Für Haus mit Garten und freie Sicht auf ein mit Birken umranktes Moos. Hier beginnt dann die letzte Täuschung. Für zehn Minuten kann man sich frei fühlen, frei von Streß, Abgasen und unwirschen Zeitgenossen.
Weitere fünf Minuten später findet man sich auf der Hauptstrasse wieder.
Ich bin auch geblieben.
Mindestens zweimal zehn Minuten am Tag fühle ich mich wie auf einen Ozean, dessen Ränder mit hängenden Birkenzweigen eingesäumt sind.
St. Marien’s Uhr schlug zehnmal. Ein weißgrauer runder Fleck mit schwarzen Zeigern, die irgendwann gestern golden in der Sonne glänzten.
Für ein paar Minuten übertönte der Glockenschlag selbst das kleine Gebimmel der sich öffneten Tür von “Hildegards Truhe”.
“Ah, unsere Künstlerin!” (Dabei hat sie bei mir nie ein Bild gekauft).
Hildegards kleine Füße bringen auch nur kleine Schritte zutage. Ich wunderte mich immer wieder, wie sie so schnell aus dem hinteren in den Verkaufsraum kommen konnte.
“Leider heute keine Aufträge.”, sie sah mich mit gespielter Traurigkeit an.
Die “Saison” hatte noch nicht begonnen. Die “Saison” fand nur in den Wintermonaten statt. In der “Saison” verdiente ich. Mit Mustern für Bordüren, alten Familienwappen auf Vielliebchengeschenken, Rosen in Windowcolor.
Einen kurzen Moment dachte ich daran, wie es wäre, wenn meine Kundschaft die nächste “Saison” nicht mehr erleben würde. Ich sah mich kurz um. Die Damen waren noch rüstig. Allerdings sah ich nur zwei, die sich vergeblich bemühten, ein altes Rezept für Kirschtraumtorte zusammenzubekommen. Dabei suchten sie in einem Berg von grauweiß bis schwarzgrauen Wollresten mit flinken Fingern.
“Deswegen komme ich heute nicht Frau Hildegard. Ich wollte…”
Meine Aufmerksamkeit wurde von der geschäftstüchtigen Frau Hildegard kurz abgelenkt, als eine der alten Damen erfreut rief: “Ja, die hier sind dick genug. Die dünnen Fäden taugen nicht viel. Meinen Sie nicht auch, meine Liebe.”
“Ja sicher, das ist noch Qualität.”, dabei faßte sie in ein schwarzgraues Bündel, um zu prüfen, daß die Wollfäden das hielten, was sie versprachen.
Ich spürte wie mein Mund sich automatisch öffnete und ebenso automatisch holte ich einmal tief Luft, um gleich darauf wieder zu Frau Hildegard zu sehen.
“Also, ich wollte…”
Was eigentlich? Suchend sah ich mich kurz um.
“Ich wollte … ich brauche einen Schal.”, schloß ich bestimmt den Satz, meine Augen auf die ordentlich zusammengelegten Schals gleich im Regal hinter der Verkaufstheke gerichtet.
“Welchen denn, mein Kind?”
Ich haßte es. Verkaufspflichtige Freundlichkeit gemischt mit einschmeichelnden verwandtschaftsträchtigen Charme.
Aber Hildegard konnte nichts dafür. Sie war so. Außer dem ganz sympathisch.
“Den gelben.”
Sie sah mich überrascht an.
“Geeeeelb?”, fragte sie gedehnt. In der nächsten Sekunde hatte sie sich wieder gefaßt. Sie mußte verkauften. Notfalls auch gelb.
“Kind, ich habe nur …”, sie drehte sich um und prüfte den Stapel der akribisch zusammengelegten Schals: “…Kaschmir, Schurwolle, Synthetik…”
Mir war plötzlich übel.
“… oder wie wäre es mit Mischgewebe?”, fragend-lächelnd sah sie mich an.
“Keinen gelben?”, fragte ich vorsichtshalber noch einmal nach.
Sie schüttelte unsicher den Kopf.
“Auch keinen… roten?”
Hildegards Augen blickten immer unsicherer.
Der Kloß in meiner Kehle wurde immer größer.
“Kaschmir kann ich sehr empfehlen, es wärmt wunderbar.”, Hildegards letzter Versuch mir einen Schal zu verkaufen.
Ich tat ihr den Gefallen, für die vergangene und die kommende Saison. Kaschmir, weder gelb noch rot, noch irgendwas. Weiches weißgraues Gemisch, dass sich schmeichelnd um meinen Hals legte, als wolle es sich für den Mangel an Farbe entschuldigen.
Ich kaufte noch im Krämerladen gleich neben “Hildegard’s Truhe” süße große graue Herbstäpfel, da es rot-gelbe nicht gab. Einen Strauss weißgrauer Herbstastern, denen das Violett fehlte, packte ich auch dazu. Zwischen Äpfeln und Herbstastern lag in meinem Korb eine neue schlicht-weiße Kaffeedose ohne sinnlich trinkende Jugendstildame im altrosa Kleid mit grüner Umrankung.
Das es bei dem 99prozentigen Rest der Weltbevölkerung über Nacht eintretende Farbblindheit gab, schloß ich dabei aus.
St. Marien kündete mit zwölf Schlägen die Mittagszeit an.
Die Äpfel schmeckten. Im Mund sahen sie nicht mehr grau aus, sie waren nur noch süß. Während ich mein Mittagessen kaute, blickte ich versonnen vor mich hin.
Ins Nirgendwo.
Der Blick brachte Gefahren mit sich.
Sie ist unaufmerksam. Sie ist naiv, mit Hang zur Romantik. Sie ist nicht gerade intelligent. Sie ist Malerin. Sind die nicht irgendwie alle so? Seit dieser Frage, die keine Antwort erwartete, blickte ich nur noch so, wenn ich allein war.
Im Nirgendwo tauchten Bilder auf.
Zwischen ersten und zweiten grauen Mittagsapfel.
Sommer. Der Marktplatz. Jeden zweiten Donnerstag im Monat Markttag mit lustig oder altmodischen Ständen. Große rote Äpfel neben Wiesenhonig. Schinken neben Schafskäse. Kleinkram neben Tonwaren. Alles in Farbe.
Ich konnte mich noch an ihre Augen erinnern. Alt und voller Weisheit. Sie sahen tief in meine. “Nehmen sie doch die Farben. Sie leuchten auch noch nach Jahren, wenn sie mit Gabenhand aufgetragen werden.” Sie lächelt auch noch, als ich ihr sagte, dass ich kein Geld mehr hätte nach Wiesenhonig und roten Äpfeln.
“Dann schenke ich sie ihnen.”
Sie hat mein Verlangen gesehen und lächelte immer noch im verschwörerischen Blick. Sie wußte um mein Zögern, einfach so Geschenke anzunehmen.
“Irgendwann werden sie damit malen. Etwas besonders. Das soll es sein.”
Mit diesem Versprechen war es leicht, den dunkelgrünen Metallkasten mit eingravierten verschlungenen Fäden anzunehmen. Ich sagte ihr Danke. Nicht laut, sondern tonlos.
Sie hat es verstanden. Aus dem Lächeln wurde ein Lachen. Und im Weggehen winkte sie mir noch einmal zu.
Ich aß den zweiten grauen Mittagsapfel nur zur Hälfte auf.
Das fünfte Fach in einer Stunde.
Noch hatte ich nicht gefunden, was ich suchte.
Nähgarn aufgesteckt auf einer langen Stopfnadel im Nadelkissen. Abgebrochene Bleistifte, von denen ich mich nicht trennen konnte. Sie zeichneten nicht mehr, aber dafür mochte ich sie. Sie hatten mir unzählige Bilder geschenkt.
Weißgrau bis schwarzgraue Wollreste im verschlungenen Bündel. Daneben ein kleiner Anhänger mit chinesischen Schriftzeichen, welches angeblich Liebe bedeuten soll. Eine kleine Bleistiftskizze.
Wann war das denn? Wie schlecht.
Eine zusammengeknüllte Papierkugel landete mit Schwung neben dem Papierkorb. Rudolf, das Rentier in Plüschtierform. Seine Mütze mit dem Schriftzug Coca Cola sah in dunkelgrau nicht gerade werbungsgemäß aus.
Rudolf kam zu mir in einer Popcorntüte. Lustig saß er obenauf, um mir den kommenden Film schmackhaft zu machen. Actiongeladene moderne Verfilmung von “Weihnachtsmann auf Abwegen”. Das Popcorn tröstete mich. Es war unglaublich gut. Ich sah Rudolf in die schwarzen Kugelaugen.
Jetzt wußte ich es wieder.
Während ich hastig aufstand, landete Rudolf wieder im fünften Fach.
Schnell ging ich zum Regal. Aufgereihte Abenteuer, Monumentalereignisse, Liebesgeschichten, philosophisch, romantisch, spannend, kitschig. Irgendwas hatten diese Videofilme, zum Beispiel die Eigenschaft, sie zu sammeln.
Schnell untersuchte ich das Regal. Zwischen “Vom Winde verweht” und “Alice im Wunderland” zog ich einen Metallkasten heraus, der exakt die selbe Größe wie die Videohüllen besaß. Deshalb hatte ich ihn dort eingeordnet.
Zufrieden lächelte ich. Wieder ein Beweis, das es geordnete Chaos gibt.
Zumindest ich fand alles wieder.
Irgendwann.
Verschlungene Fäden auf schwarzgrau. Sie tanzten vor meinen Augen. Setzten sich zusammen, flossen wieder auseinander. So wie Gedankenfetzen in meinem Kopf, die sich zusammensetzten und wieder auseinanderglitten.
Eine Welt in Grautönen.
Irgendwie gewöhnt man sich an alles.
Vielleicht hatte die Sonne eine andere Dimension erreicht. Oder es war in diesem Kraftwerk letzte Nacht der falsche Knopf gedrückt worden. Nicht der mit dem Prisma, sondern der graue gleich nebenan.
Die Welt funktionierte immer noch. Nur die Farbe fehlte.
Vielleicht war meine Welt nur durcheinandergekommen. Umgespult auf grau. Farbe als Einbildung, die ich nicht mehr wahrnahm. So ist es dann verschwunden: Gelb, Blau, Rot.
Ich hatte es nicht mehr beobachtet und nun existierte es nicht mehr.
Mit kleinsten Teilchen funktionierte das auch so. Sagt man.
Man sind Physiker. Einige behaupten etwas anderes.
Philosophen kommen nicht ganz nach. So wie ich.
In Gedanken sehe ich den mildtätigen Blick meines Physiklehrervaters auf mich ruhen.
Warum ausgerechnet Malerin? Wieso nicht Diplom-Physiker.
Wieso nicht Softwareentwickler mit abgebrochenen Physikstudium.
Wieso nicht einmal eine stolze eins in Mathematik. Aber dann ausgerechnet Malerin.
Wo ihr doch alle Türen offenstanden. Ein Seufzen.
Jetzt waren diese Türen zu und ich glücklich.
Bis heute. Jetzt waren die Farben verschwunden und ich beneidete Softwareentwickler mit oder ohne abgeschlossenem Physikstudium.
Ich öffnete den Metallkasten mit einem tiefen Atemzug. So als würden in meinem Atem noch Pigmente der gestrigen bunten Welt sein.
Die Farben, eingelassen in kleine Schalen, hatten Risse bekommen. Sie waren zu lange zu trocken. Zu lange ohne feuchten Pinsel, der sie berührte.
Farben. Gelb, Blau, Rot.
Farben.
Und jetzt?
Sollte ich die Welt anmalen damit?
Was sollte ich damit?
Ich war genauso schlau wie heute morgen, als die Welt über Nacht anders wurde. Da hörte ich es zum ersten Mal.
Genau in diesem Moment, als mir Farben in einer grauen Welt entgegenleuchteten hörte ich es. Ein glucksendes Kichern. Irgendwo.
Zu leise und zu schnell vorbei, als dass ich es richtig wahrnehmen konnte. Später würde ich mich erinnern, dass es genau dieser Moment war, als ich sie zum ersten Mal leise schelmisch lachen hörte.
Die Welt war kalt.
Zehn Uhr abends.
Dabei sah sie vollkommen normal aus. Zumindest auf der kleinen Terrasse, die der Mond silberschwach beleuchtete. Ich sah meinem Atem hinterher, der sich in der kalten dunklen Nachtluft auflöste.
Keine Sonne, keine Farben.
Morgen war die Sonne wieder da. Mein Gefühl sagte mir, dass es auch mit Sonne keine Farben geben würde.
Nur ein paar Gramm in einem vormals dunkelgrünen Metallkasten.
Ich zog die Schultern fröstelnd hoch.
Die Wärme des grau in grauen Zimmers schlug mir angenehm entgegen, als ich die Terrassentür wieder schloß. Mein Blick fiel auf die alte Kommode, die schon meiner Urgroßmutter zur Aufbewahrung von zärtlichen Briefe in duftender Wäsche diente. Vor sechs Stunden hatte sie eine neue Verzierung bekommen. Zwei verschlungene Lilien. Sie paßten gut zwischen die beiden Kupfergriffe, die genauso grau aussahen, wie die Lilien selber.
Der erste vergebliche Versuch.
Die Cattleya auf der Fensterbank hatte auf ihren dunkelgrauen Blütenblättern hellgraue Striche.
Der zweite vergebliche Versuch.
Traurig ließ sie ihre Blätter hängen. Eine Blüte war abgebrochen.
Auf meinem Schreibtisch leuchtete ein weißen Blatt Papier mit einem roten Farbklecks.
Der dritte vergebliche Versuch.
Diesmal war es die Form und nicht die Farbe.
Ich legte die Cattleyablüte auf einen kleinen Teller. Ein wenig Wasser als Entschuldigung dazu.
Den Kopf in die eine Hand gestützt und den Pinsel in der anderen wollte ich den Farben auf die Spur kommen. Ich tauchte den Pinsel in die gelbe und machte einen kleinen Punkt neben den großen roten Farbklecks.
Gelb. Eindeutig.
Ich wusch den Pinsel aus und tauchte ihn dann in die blaue Farbe.
Ein kühner blauer Strich, der sich mit dem gelb vermischte und grün, später auf roten Farbklecks violett leuchtete.
Mhm…
Ich hielt den Pinsel vor meinen Augen.
Grau.
Mhm… seltsam, sehr sel….
In die Stille und angestrengten Nachdenken über Gott und die Welt, respektive Farben, platzte mit einemal ein Prusten.
Ich drehte den Kopf herum.
Niemand da!
Dem noch verhaltenen Prusten folgte ein Kichern.
Ich schaute mich im Raum um.
Tief durchatmen.
Gut. Es könnte ja sein, das ich nicht farbenblind, sondern ein wenig… nun sagen wir mal überzogen bin. Weil verrückt wäre das falsche Wort.
Schau auf’s Papier, nicht im Raum umher.
“Ja, das wäre eine Alternative.”
Moment mal… ich redete mit eingebildeten Stimmen?
Langsam kam mir die Erkenntnis, das eine eins in Mathematik mich vor aufkeimenden Wahnsinn vielleicht errettet hätte. Oder das ich zumindest als Softwareentwickler mit abgebrochenen Physikstudium glücklicher dran wäre, auch wenn ich nur noch meinen Rechner lieben würde.
Blödsinn. Du bist Malerin, also male…
“Wer spricht da eigentlich mit mir?”
Na ich.
“Wer ich?”
Finde es heraus.
Ich beruhigte gegen 23 Uhr meine angeschlagenen Nerven mit nach Kühlschrank schmeckenden Käse und einer ganz großen Tasse Kaffee. Ich trank ihn mit kleinen Schlucken. Aber irgendwann war die Tasse leer.
Ich sah auf ihren Boden und zum ersten Mal verfluchte ich Filtertüten.
Ohne sie hätte ich wenigstens im Kaffeesatz nachlesen können, ob mich eine Zukunft in der psychiatrisch geschlossenen Anstalt oder als gefeierte Künstlerin erwarten würde.
Rechtzeitig fiel mir aber ein, dass ich nicht im Kaffeesatz lesen kann.
Nun gut!
Entschlossen stellte ich die Tasse auf die Spüle und begab mich wieder in das Zimmer zu einem mit bunten Klecksen verziertes Papier, welches auf meinem Zeichentisch auf mich wartete.
Nachdem ich eine halbe Stunde das Papier angestarrt hatte, tanzten bläulich-rote Flecken vor meinen Augen. Eigentlich wollte ich ja Farbe auf das Papier bringen und nicht als eingebildetes Etwas vor meinen Augen.
Ich sollte etwas malen.
Aber was?
Mein Blick ging zu dem Metallkasten, auf dem die verschlungenen Fäden zu tanzen schienen. Ich nahm ihn in die Hände und sah genauer darauf.
Es schien nicht nur so.
Sie tanzten wirklich!
Wieder atmete ich tief durch.
Gut.
Die Welt ist anders und ein wenig verrückt. So etwas soll es geben.
Ich mußte also zu Maßnahmen greifen, die genauso waren. Mir war es zwar ein wenig peinlich, aber schließlich sah keiner dabei zu. Und hören? Ein prüfender Blick zur Wand. Das Haus war noch mit guten alten Ziegeln gebaut.
Ich schüttelte den Kopf, strich eine Haarsträhne zurück und sah auf den Metallkasten vor mir.
“Kannst du mir sagen…”,
ich preßte die Lippen aufeinander. Irgendwie kindisch.
Irgendwann werden sie damit malen. Etwas besonders…
Die alte Frau auf dem Marktplatz. Sie war auch was besonderes. Ich hatte noch nie etwas umsonst bekommen.
“…was ich malen soll?”, der Rest des Satzes flüsterte ich fast.
Die Fäden fingen erneut an zu tanzen, glitten auseinander, schoben sich woanders wieder zusammen und ergaben plötzlich ein Bild.
Ich ließ den Kasten unsanft auf den Tisch fallen.
“Das kann ich nicht!”
Ich konnte es doch. Zumindest war ich mir nach ihren Augen fast sicher, dass ich es könnte. Gedanken, dass das Ganze doch verrückt ist – nicht sei – sondern wirklich ist, schob ich dabei beiseite.
Ihre Augen blitzten mich dabei schelmisch an.
Nach zwei Stunden Arbeit fing meine Hand an zu schmerzen. Als ich den Pinsel beiseite legen wollte, hörte ich wieder ihr Lachen.
Bitte mach weiter.
“Und warum? Ich kann doch morgen noch…”
Morgen ist es zu spät.
“Woher willst du das wissen?”
Ich weiss es einfach.
“Du gibst Antworten, die ich mir manchmal selber so gebe…”, grummelte ich vor mich hin. Als Antwort kam nur ein Lachen.
“Na gut… ich habe ja sonst nichts zu tun. Ich meine, wer setzt sich nachts nach Mitternacht hin und malt ein Bild. Noch dazu mit den einzigen Farben, die es weit und breit zu geben scheint. Noch dazu, wenn es eigentlich – nur mal angenommen – total irre ist…”
Als ich nach einer Stunde meinen Monolog beendet hatte, sah sie mich in ihrer zarten Schönheit an. Von einem weißen Blatt Papier. Hauchzarte Flügel umhüllten ihren kleinen Körper und ihre Augen blickten immer noch schelmisch.
Meine waren dagegen müde.
Ich wusch den Pinsel aus, sah noch einmal auf die kleine Elfe, das einzige, was farbig war in einer sonst trostlosen grauen Welt, drehte mich um, um ins Bett zu gehen.
Meine müde Hand klappte den Lichtschalter um. Beim Hinausgehen an der Tür hörte ich ein leises Geräusch.
Ich drehte mich nicht um.
Die Welt war anders.
Mein Morgenritual auch.
Und sie war nicht mehr da. Nur noch bunte Farbkleckse auf einem sonst weißen Blatt Papier. Woher habe ich das nur gewußt…
Lächelnd sah ich mich im Raum um. Mein Blick verfinsterte sich plötzlich. Oh nein… Urgroßmutter dürfte das nicht sehen! Ich holte einen feuchten Lappen und versuchte die violetten Lilien von der Kommode zu wischen.
Nachdem ich dieses Mißgeschick beseitigt hatte, fiel mein Blick auf die purpurrote Cattleya auf der Fensterbank. Ãœber Nacht hatte sie neue Knospen angesetzt.
Ich wollte ihr und mir einen Morgentrunk gönnen. Doch zum Kaffeeaufsetzen kam ich nicht, da ich dringend etwas erledigen mußte.
St. Marien’s Uhr schlug zehnmal.
Für ein paar Minuten übertönte der Glockenschlag selbst das kleine Gebimmel der sich öffneten Tür von “Hildegards Truhe”.
“Ah, unsere Künstlerin!”
“Guten Morgen, Hildegard… ähem, es ist mir zwar ein wenig peinlich, aber…”
“Oh je, mein Kind, das geht natürlich nicht!”
Ich konnte ihr nur beipflichten. Ein pinkfarbener Schal, der sogar das Leuchten der goldenen Zeiger von St. Marien in den Schatten stellte, war wirklich nichts für meine Garderobe.
© 2000 by Gabi Scharf
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