DAMALS (1945 – ….): Die Saat des Hasses

Reden wir über Gefühle. Über Hass zum Beispiel.

Heute kann „Hass und Hetze“ ein Straftatbestand sein. Aber wie soll ein Mensch empfinden, dem man seine Freiheit, seine Heimat, seine Identität und seine Liebsten genommen hat? Natürlich fühlt er heiße oder eiskalte Wut, den Wunsch, es dem Feind mit gleicher Münze heimzuzahlen.

Natürlich wird er mit drastischen Worten und Taten reagieren.

Dabei ist es egal, ob ein Verbrecher sein Leben zerstört hat, fremde Soldaten sein Land überfallen haben oder ein feiger Gegner Bomben auf Zivilisten regnen lässt.

Selbstverständlich haben die Menschen in den Bunkern und Luftschutzkellern die Amerikaner gehasst.

Auch jene, die keine Anhänger Hitlers waren.

Ebenso selbstverständlich haben die Russen die Deutschen gehasst. Schließlich wurde ihr Land von der Wehrmacht angegriffen, obwohl es einen Nichtangriffspakt gab, den Hitler und Stalin unterzeichnet hatten.

„Was beschwert ihr euch“, sagten einige, die ein wenig Deutsch konnten. „Was meint ihr, was eure Soldaten mit unseren Frauen gemacht haben? Ihre Kinder sind schon so groß.“

Und dann zeigten sie mit der Hand eine Stelle oberhalb des Knies.

Ja, Hass ist giftig.

Unvernünftig.

Destruktiv.

Aber man kann ihn nicht verbieten.

Das einzige, was gegen Hass hilft, ist, ihn nicht zu verursachen. Dem Nächsten mit Respekt und Mitgefühl zu begegnen und Gerechtigkeit gegen jedermann zu üben.

„Wer Wind sät wird Sturm ernten“, sagt der Volksmund.

Wir Deutsche haben Sturm gesät und … nur leider trifft es hinterher oft die Falschen.

Da gab es Kommunisten, die fleißig Russisch gelernt haben, um die Befreier in ihrer Muttersprache ansprechen zu können. Viele von ihnen wurden nach den ersten Worten erschossen, weil man sie für Spione hielt. Vielleicht auch, weil man es als Beschmutzen der russischen Sprache empfand.

Dieser Hass hat tiefe Spuren in deutsche Familien gegraben.

Spuren, die auch spätere Generation beeinflusst haben. In meinem Betrieb (eine Forschungseinrichtung der Deutschen Reichsbahn) war es üblich, dass alle Kollegen Mitglied in der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft waren. Das hatte Einfluss auf die Bewertung des gesamten Arbeitskollektivs. Fast alle fügten sich, manchmal gespielt übereifrig, manchmal lautlos murrend.

Nur eine Laborantin weigerte sich standhaft: „Ich kann das nicht. Die Russen haben meine Mutter vergewaltigt.“

Das war ein deutlicher Kratzer im sozialistischen Lack und es gab Punktabzüge bei der Bewertung. Mehr passierte nicht. Trotzdem waren die Mitläufer ärgerlich weil es für alle ein paar DDR-Mark weniger Jahresendprämie gab.

Wie sehr zerstörerischer Hass schaden kann, könnt ihr an meiner eigenen Familiengeschichte erkennen.

Meine Mutter heiratete während der Nazizeit einen Studienkollegen, einen sehr begabten Maler. Er war ihr Vorbild, ihr Seelengefährte, ihre große Liebe. Sie hatten zusammen eine Tochter, meine Halbschwester Eva. Sie brauchten eine Sondergenehmigung, um ihr diesen jüdischen Namen geben zu können. Keine Ahnung, wie sie das gedreht haben. Evas waren sehr selten in diesem Jahrgang.

Töchter systemtreuer Eltern hießen damals Ingetraut, Brunhilde oder Edelgard.

Weder meiner Mutter noch ihrem Mann gelang es nach Abschluss des Meisterstudiums Mitglied im Künstlerverband zu werden. Sie arbeiteten als Technische Zeichner … zuletzt bei den Arado Flugzeugwerken.

Herbert Emmerlich, der erste Ehemann meiner Mutter, stammte aus einer kinderreichen Arbeiterfamilie. Wahrscheinlich war unzureichende Ernährung ein Grund für seine gesundheitlichen Probleme. Er war nicht kriegsdiensttauglich, was irgendwie trotz allem ein Glück für die beiden war.

Als Mama 1942 zum ersten Mal Mutter wurde, musste sie nicht mehr arbeiten gehen. Die kleine Familie wurde nach Schlesien evakuiert wo es eine Siedlung eigens für die Arado-Leute gab.

Mama lebte dort mit ihrem Kind und ihr Mann blieb die Woche über in der ausgeräumten Brandenburger Wohnung und besuchte seine Familie regelmäßig am Wochenende.

Als die Front näher rückte musste Mama fliehen.

Sie konnte nur einen Koffer mit dem Nötigsten und ihr Kind mitnehmen. Die Bahn fuhr noch, alles war gut organisiert … aber vor Dresden blieb der Zug stehen. Die Alliierten hatten die Stadt wenige Stunden zuvor plattgemacht. Wäre sie nur einen Zug eher (den sie eigentlich nehmen wollte) gefahren … sie wäre mitten in das Inferno geraten und mich würde es wahrscheinlich nicht geben.

Manchmal ist es gut, zu verschlafen.

Mama kam mit einiger Verspätung in Brandenburg an und traf ihren geliebten Mann wieder. Sie hatten nur ihr Kind und eine beinahe leere Wohnung, denn der Hausrat und die Möbel waren in Schlesien geblieben. Aber immerhin ging es ihnen besser als vielen anderen. Zunächst …

Herbert Emmerlich wollte helfen, die Welt wieder ein wenig bewohnbarer zu machen und meldete sich freiwillig zu Säubern der Wälder von Minen und Blindgängern. Das wurde von den Russen organisiert. Sie stellten auch einen Lastwagen und Werkzeug. Die meisten Männer in dem Trupp waren übrigens nicht freiwillig dabei sondern auf der Straße weggefangen und für diese gefährliche Arbeit rekrutiert worden.

Sollten doch die Krauts ihren Mist selbst wieder wegräumen.

Mama hatte jedes mal Angst, wenn ihr Mann zu seiner neuen Arbeit ging und sie hatte recht mit ihren Befürchtungen. Der LKW fuhr auf eine Mine, es gab eine heftige Explosion … und nur ein Mann überlebte schwerverletzt: Herbert Emmerlich.

Sie brachten ihn in ein russisches Lazarett.

Er hatte sehr viel Blut verloren, kämpfte um sein Leben … und verlor. Warum? Eine Blutspende hätte ihn retten können, aber kein Russe war bereit, das für einen verdammen Deutschen zu tun.

Mama hat mir erzählt, dass sie es aus der Ferne spüren konnte, wie ihr Mann starb. Sie musste plötzlich weinen und konnte nicht mehr damit aufhören. Nun war sie doch noch Witwe geworden, allein mit einem Kleinkind.

Es gibt auf einem Brandenburger Friedhof eine Ehrentafel für die Männer, die bei dieser Explosion gestorben sind. Darauf stehen alle Namen. Einer ist falsch geschrieben. Da steht nämlich: Herbert Emmerich. Ja, der Name Emmerich ist häufiger, aber ich finde, sie hätten sich ein bisschen mehr Mühe geben können.

Meiner Mutter war es egal. Sie meinte, ein Protest würde ihr ihren Mann nicht zurückbringen.

Sie kam nie über diesen Verlust hinweg.

Er warf einen schwarzen Schatten auf unser aller Leben.

Ohne Partner musste Mama arbeiten gehen um für sich und ihr Kind zu sorgen. Sie fand eine Stelle als Sekretärin beim Büro der KPD des Stadtteils Görden. Die kleine Eva blieb tagsüber allein in der leeren Wohnung zurück. Eine schlimme Situation für ein 3-jähriges Kind. Es hat sie vermutlich nachhaltig geprägt.

Im Parteibüro lernten sich meine Eltern kennen. Papa war damals Anfang Vierzig, sah gut aus, war Sekretär für Organisation, ebenfalls verwitwet und somit rein objektiv eine sehr gute Partie.

Wir können es uns heute nicht mehr vorstellen aber er hätte vermutlich fast jede kriegen können.

Es herrschte ein gewaltiger Frauenüberschuss und um die wenigen ungebundenen und unversehrten Männer wurde heftig gekämpft.

Papa hat meine Mutter gewählt … und das hat beiden nicht gut getan.

Mama war der Meinung, dass man auf einen Toten nicht eifersüchtig sein könne. Sie sprach viel über ihren ersten Mann und erzog uns Kinder dazu, ihn zu lieben und zu verehren. Ihr war nicht bewusst, was sie alles damit kaputtgemacht hat.

Wie sehr sie sich doch geirrt hat! Ein toter strahlender Held … eine tote große Liebe … ein toter bedeutender Künstler … gibt es eine schlimmere Konkurrenz?

Wie soll ein ganz normaler Mann daneben bestehen?

Wie soll er damit klarkommen, dass er daneben so blass aussieht?

Ein Toter kann sich nicht mehr irren, keine Fehler mehr machen, nicht mehr schwach oder feige sein. Er ist allmächtig.

Ja. Wir Kinder sind mit dem Gedenken an diesen einzigartigen Mann aufgewachsen und Papa … er schrumpfte auch in unseren Augen.

Mit der Vereinigung von KPD und SPD zur SED wurden die Karten neu gemischt. Das Parteibüro auf dem Görden wurde aufgelöst. Es gab in Brandenburg nur noch eine Kreisleitung, die paritätisch aus Genossen beider Parteien gebildet wurde.

Für Papa gab es keinen einflussreichen Platz.

Er arbeitete wieder bei Brennabor und war nichts besonderes mehr.

Das schmerzte doppelt, denn da gab es ja in der Erinnerung seiner Frau diesen ganz einzigartigen Mann gegen den er keine Chance hatte.

Den er sich erfolglos kleinredete.

Papa war ein anständiger Mann. Er hat seine Frau und uns Kinder niemals geschlagen und er ist auch nicht fremdgegangen. Er hat diese deprimierende Situation irgendwie ausgehalten, den Frust in sich hineingefressen und wurde dabei immer mürrischer.

Wenn er von der Arbeit heimkam, hat er oft zielstrebig nach einem Anlass zum Meckern gesucht.

Nein, wir haben uns nicht auf ihn gefreut.

Eigentlich war er nur in angetrunkenem Zustand nett.

Mama hörte schon bald auf, zu malen.

Als sie es nach Papas Tod wieder versucht hat, musste sie feststellen, dass ihre Inspiration völlig abgestorben war.

Sie hat dieses letzte Ölbild nie vollendet.

Was hat das alles mit uns Kindern gemacht?

Es war wie schleichendes Gift in einem Kuchen.

Nach außen eine intakte Familie …

Meine Schwester war ein schwieriges Kind. Sie war extrem verschlossen, widerspenstig, eifersüchtig und zänkisch. Sie ignorierte konsequent gute Ratschläge und Verbote.

Die Situation zwischen uns Schwestern war irgendwie paradox.

Eva dachte, dass ich mehr geliebt würde weil das ja „mein richtiger Vater“ war … und ich vermutete, dass Mama ihre ältere Tochter mehr lieben würde weil sie ja von diesem Wunderwesen abstammte …

Es macht wenig Sinn, hier irgendwelche Schuld zu verteilen. Wir waren alle hilflos in unseren Rollen gefangen. Es waren schlechte Zeiten und es war damals nicht üblich, sich psychologische Hilfe zu suchen. Wahrscheinlich gab es die auch gar nicht. Die Nervenklinik auf dem Görden war mit Traumatisierten überfüllt.

Die Saat des Hasses war prächtig aufgegangen.

Ihr wollt wissen, wie es geendet hat?

Nun, meine Eltern blieben bis zu Papas Tod zusammen.

Meine Mutter bekam danach Arbeit beim Rat der Stadt.

Sie fand heraus, dass es gar nicht so schwer war, auf eigenen Beinen zu stehen.

Sie sagte: „Wenn ich gewusst hätte, dass das so leicht ist, hätte ich nicht so lange das Leben eines Stallkaninchens geführt.“

Meine Schwester entwickelte eine fatale Vorliebe für ältere Männer.

Sie war wohl immer noch unbewusst auf der Suche nach einer Vaterfigur.

Da die Sugardaddys meist verheiratet waren geriet sie immer wieder in Konflikte. Sie nahm sich mit 26 Jahren das Leben. Ihre Inszenierung als tragische Liebende war verstörend bizarr.

Hätte man sie retten können? Vielleicht. Obwohl es schwierig ist, jemandem zu helfen, der sich beharrlich weigert, ehrlich über seine Probleme zu sprechen.

Einen Tag nachdem die Polizei uns über ihren Tod informiert hatte brachte die Post uns einen witzigen Brief von ihr.

Ja, ich bleibe dabei: Es war wie ein absurdes Theaterstück.

Mama und ich haben den ganzen Mist irgendwie überlebt.

Wirklich gut ging es mir nicht.

Das Mobbing meiner Schwester und die lieblose Ehe meiner Eltern hatten mich ziemlich verunsichert. Es gab ein paar junge Männer, die sich für mich interessiert haben, aber ich habe jedes mal, bevor es ernst werden konnte, die Flucht ergriffen.

Dann habe ich mich (vermutlich absichtlich) in einen unerreichbaren Mann verliebt … und Jahre später ein Kind von einem Urlaubsflirt bekommen.

Das war ein Glück für mich und auch für Mama.

Sie spendierte ihren Kollegen ein Sektfrühstück wegen der Geburt ihrer Enkelin.

Meine Tochter ist glücklich mit einem anständigen und netten Mann aus Köln verheiratet und zufrieden mit ihrem Beruf.

Wie es scheint, haben wir den Krieg und das Gift des Hasses von 1945 endlich überwunden.

Die beiden hätten sich ohne den Fall der Mauer niemals kennengelernt.

Die Wiedervereinigung war nur möglich, weil der damalige Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow, sie zugelassen hat. Ein großmütiger Russe hat uns Deutschen die Verbrechen der Nazis verziehen und uns vertraut.

Und was hat der Westen daraus gemacht?

Denkt nach und entscheidet selbst!

Ich finde: „Nie wieder darf von deutschem Boden ein Krieg ausgehen!“

© Amanda Landmann


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