DAMALS (1939-1945): Was es bedeutet, mit Lebensmittelmarken einzukaufen

Wahrscheinlich kann sich heute niemand mehr vorstellen, was es bedeutet, mit Lebensmittelmarken einzukaufen.

Es heißt, dass du nicht einfach auswählen kannst, was du haben möchtest, sondern dein Essen und andere wichtige Gebrauchsgüter zugeteilt bekommst.

Du gehst mit deinem Einkaufszettel in den Laden und gibst ihn zusammen mit einer Karte der Verkäuferin. Auf der Karte sind viele kleine Rechtecke aufgedruckt. Sie sind mit Warennamen wie Butter, Fleisch, Kartoffeln, Mehl oder Seife beschriftet. Jedes Kästchen steht für eine Standardmenge.

Die Verkäuferin nimmt eine Schere und schneidet aus deiner Karte, was du bestellt hast und wirft die Schnipsel weg. Dann packt sie deinen Einkauf ein und du darfst bezahlen und ihn nach Hause tragen.

Wenn du nicht gut wirtschaftest, kannst du am Ende des Monats nichts mehr kaufen. Es ist dein Problem, wie du dann die Familie satt kriegst. Da gibt es dann verschiedene Optionen: Betteln, Klauen, Angeln, Wildern, Pilze suchen …

Über mehr mag ich nicht nachdenken.

Ob es im ersten Weltkrieg Lebensmittelmarken gab, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass Essen sehr knapp war und meine Großeltern deshalb zu Freizeitlandwirten mutiert sind. Mein Großvater war Lokführer und die Bahn erlaubte ihren Mitarbeitern, das Gelände neben den Gleisen zu beackern. So hatten sie Korn, Gemüse, Schweine und Ziegen. Die Kinder waren satt und die Verwandtschaft kam regelmäßig um sich durchzufuttern.

Meine Oma meinte Jahre später, das wäre so eine entsetzliche Plackerei gewesen, dass sie, wenn sie nochmal die Wahl gehabt hätte, sich auch lieber irgendwo durchgeschnorrt hätte. All diese entfernten Cousinen, Patentanten und Busenfreunde wären schließlich nicht verhungert.

Im zweiten Weltkrieg gab es Lebensmittelmarken.

Die waren sehr unterschiedlich ausgestattet. Männer bekamen mehr als Frauen und Kinder, sogenannte Schwerarbeiter mehr als Bürokraten. Ob die wenigen Juden oder Halbjuden, die noch nicht im KZ gelandet waren, wenigstens eine Hungerration zugeteilt bekamen, weiß ich nicht. Polnischen Zwangsarbeitern billigte man nur sehr spärliche Rationen zu … und das völlig unabhängig davon, wie schwer sie schuften mussten.

Mama und ihr erster Mann waren dienstverpflichtet und arbeiteten zunächst bei den Arado Flugzeugwerken im Konstruktionsbüro. Das war ein kriegswichtiger Betrieb und wurde entsprechend bewertet.

Als meine Mutter schwanger wurde, musste sie nicht mehr arbeiten und rutschte sofort in eine noch bessere Versorgungskategorie. Werdende Mütter waren heilig. Schließlich brauchte Deutschland neue Soldaten und Soldatenmütter. Den beiden ging es also eine Zeitlang einigermaßen gut. Bis der Luftkrieg begann …

Mama verschloss trotzdem nicht die Augen vor der Not anderer. Da war ein junger Pole der regelmäßig um Essen bettelte weil er von dem, was ihm die Nazis zubilligten, nicht satt werden konnte. Meine Mutter gab ihm ab und zu eine Schmalzstulle.

Dann hatte sie eine gefährliche Idee.

Diese Lebensmittelkarten mit der Monatsration waren alle gleich groß, nur mit unterschiedlich vielen Kästchen bedruckt. Das heißt, es gab Freiflächen aus dem richtigen Papier für solche Dokumente. Mama war ja studierte Malerin und Grafikerin und sie beherrschte ihr Handwerk! So konnte sie die freien Flächen mit zusätzlichen Kästchen für Fleisch, Brot und Butter füllen. Endlich konnte sie dem hungrigen Polen wirklich helfen!

Ihrem Mann standen vor Angst die Haare zu Berge: „Wenn die uns erwischen kommen wir ins KZ! Bitte hör auf damit!“

Mama meinte nur: „Ich bin gut. Das merken die nie.“

Sie wurde tatsächlich nicht erwischt.

Allerdings war sie wohl nicht die einzige Fälscherin denn irgendwann gab es keine freien Flächen auf den Lebensmittelkarten mehr. Da wurde alles, was keine Kästchen enthielt, mit dicken schwarzen Kreuzen bedruckt. Der arme Pole musste sich wieder mit Schmalzstullen begnügen.

Als Mama mir das erzählt hat, fragte ich sie: „Hattest du keine Angst, dass der junge Mann mit den gefälschten Marken erwischt und sofort erschossen wird?“

„Nein“, meinte sie ganz cool. „Dem habe ich doch echte Lebensmittelmarken geschenkt.“

Wow!

Ich hoffe, Mama hat damals ein bisschen Frieden zwischen den Völkern gesät. Dieser namenlose junge Mann hat bestimmt verinnerlicht, dass nicht alle Deutschen schlecht sind. Obwohl er das enorme Risiko, das hinter dieser Aktion steckte, wahrscheinlich nicht ermessen konnte.

Lebensmittelmarken gab es übrigens noch als ich Kind war. Ich sehe immer noch die Verkäuferin mit ihrer Schere hantieren. Es dauerte lange, bis es alles in ausreichendem Maße gab und manche Mangelwaren (z.B. die berüchtigten Bananen) wurden bis zum Schluss nur in begrenzter Menge abgegeben.

Der Mensch hat nun mal in Mangelsituationen einen gnadenlosen Hang zum Hamstern. Ich schließe mich da selber nicht aus. Inzwischen sind es solche Lappalien wie Kochsalzlösung zum Inhalieren …

© Amanda Landmann


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