DAMALS (1939-1945 und 1945-1953): Von Tätern, Mitläufern und Widerstandskämpfern

Wenn heute jemand sagt, dass nicht alle Nazis schlechte Menschen waren, wird er sofort in die rechtsextreme Ecke gestellt. Im schlimmsten Fall wird er medial hingerichtet.

Ein guter Mensch kann doch unmöglich so einer fiesen Ideologie verfallen!

Ein guter Mensch fällt nicht auf dumpfe Propaganda herein!

Ein guter Mensch leistet tapfer Widerstand und opfert sich ohne zu zögern für das Gute!

Wenn es denn so einfach wäre!

Nach der großen Wirtschaftskrise mit Massenarbeitslosigkeit und galoppierender Inflation wirkte Hitler auf viele verzweifelte Deutsche zunächst wie eine Lichtgestalt, wie ein Macher, der das Elend beendete und Arbeit und Wohlstand zurückbrachte.

Wir können uns heute gar nicht mehr vorstellen, wie groß damals die Not war. Viele Menschen verloren alles, was sie sich aufgebaut hatten: ihre Ersparnisse, ihre Wertgegenstände, ihre Häuser, ihre Karriere … ihre Hoffnung.

Das Geld war nichts mehr wert. Bei uns zu Hause lag lange ein einseitig bedruckter Geldschein aus jener Zeit herum. Da stand etwas von 1 Milliarde Mark drauf und Mama sagte, dass man dafür gerade mal ein Brot kaufen konnte.

Wenn es Lohn gab, musste er so schnell wie möglich ausgegeben werden denn am nächsten Tag war er womöglich nur noch die Hälfte wert.

Die Kriminalität war hoch.

Auch eigentlich bürgerliche, gut sozialisierte Leute drehten krumme Sachen um zu überleben. Mein Vater z.B. besorgte sich illegal ein Gewehr und wilderte in den Brandenburger Wäldern.

Da das Geld nichts mehr wert war, blühte der Tauschhandel. Ich mag gar nicht darüber nachdenken, was außer Rehbraten gegen Butter oder Brot noch alles getauscht wurde.

Die Friedlichen und Ehrenhaften hatten damals sehr schlechte Karten. Die Selbstmordrate unter ihnen war hoch.

Meine Großeltern väterlicherseits verloren den größten Teil ihres Vermögens. Mein Großvater mütterlicherseits hatte insofern Glück, dass er als Lokführer bei der Bahn verbeamtet war. So blieben ihm Arbeitslosigkeit und der Verlust des Eigenheims erspart. Die Familie hatte es trotzdem schwer.

In diesem Desaster fischten Kommunisten und Nationalsozialisten nach Anhängern und sie waren dabei ziemlich erfolgreich. Anfangs tolerierten sich beide Extreme sogar. Später gab es wüste Saalschlachten und auch Schießereien auf der Straße.

Mama hat mir erzählt, dass es in Leipzig ziemlich normal war, in fremden Hauseingängen Schutz zu suchen wenn die Polizei brüllte: „Straße frei! Es wird geschossen!“

Okay, dann kamen die Nazis an die Macht und kündigten den Versailler Vertrag auf. Das war auch so ein maßloses Konstrukt, um den besiegten Feind maximal zu demütigen und auszuplündern. Eine nette Keimzelle für Extremismus jeder Art und den nächsten Krieg.

Dass Hitler Krieg bedeuten würde, erkannten am Anfang leider die wenigsten. Die meisten freuten sich, endlich wieder eine Perspektive und Arbeit zu haben.

Ich schreibe das jetzt nicht, um irgendwas zu beschönigen, sondern damit die glücklichen Wohlstandsbürger von heute begreifen, dass es ziemlich leicht passieren kann, dass man den falschen Heilsbringern vertraut. Okay?

Allerdings werden auch Opfer ideologischer Gehirnwäsche irgendwann auf die Probe geste … und dann müssen sie sich entscheiden, ob sie weiter alles mitmachen oder ob es für sie rote Linien gibt.

Ob sie zu Bestien werden oder Menschen bleiben.

Ob sie zu lauen Mitläufern werden oder anfangen, selbst zu denken.

Ob sie gar bereit sind, gegen das Böse zu kämpfen.

Viele, die heute selbstgerecht über die Generationen ihrer Eltern und Großeltern urteilen, hätten sich vermutlich ebenfalls geirrt und versagt. Seien wir froh über jeden, dem es in schlimmen Zeiten gelang, Mensch zu bleiben.

Herbert Emmerlich, der erste Mann meiner Mutter, hatte einen Kollegen, der im selben Block wohnte. Die beiden trafen sich für gewöhnlich früh vor der Haustür und gingen zusammen zur Arbeit. Dabei wurde, wie es Männer gern tun, fleißig politisiert. Nur leider war Herbert Emmerlich ein überzeugter Antifaschist und sein guter Kumpel SA-Mitglied. Einer, der schon vor 1933 für die nationalsozialistische Sache brannte.

Mama hatte eine Heidenangst um ihren Mann und ihre Familie. Sie wusste zwar nicht von allen Gräueln aber ihr war schon klar, dass die Gespräche mit dem Nazi verheerende Folgen haben konnten.

„Mach dir keine Sorgen“, meinte ihr Mann jedes Mal. „Das ist zwar ein Nazi, aber auch ein netter und anständiger Kerl. Der tut uns nichts.“

Er hatte recht. Sie bekamen tatsächlich keinen Besuch von der Gestapo.

Inwiefern dieser Nachbar später seine Meinung geändert hat, weiß ich leider nicht. Auch nicht, wie er das Kriegsende und die neue Ordnung erlebt hat. Mama war da schon mit ihrem Kind nach Schlesien evakuiert und Herbert Emmerlich starb, wie ihr bereits wisst, kurz nach Kriegsende durch einen Unfall bei der Bergung von Blindgängern.

Viele ehemalige Anhänger oder Mitläufer der Nazis haben sich irgendwann in der DDR eingerichtet. Sofern sie keine Verbrechen begangen hatten ist dagegen nichts einzuwenden.

Zumal einige Strukturen beider Regime durchaus vergleichbar waren. Das mussten selbst meine kommunistischen Eltern zugeben. Allerdings waren die sehr stolz darauf, den Kommunismus nicht erst 1945 entdeckt zu haben.

Eine andere Faschistin wurde erst nach 1945 richtig gefährlich. Sie war Funktionärin des BDM gewesen und hatte möglicherweise einiges auf dem Kerbholz. Vielleicht auch nicht und sie hatte nur ihren ideologischen Mist zelebriert …

Wie dem auch sei, als die Russen Brandenburg einnahmen, bekam sie eine Heidenangst.

Zunächst schleimte sie sich bei den Siegern ein, schlief sogar mit der Besatzungsmacht … was ihr die tiefe Verachtung von Bekannten und Nachbarn einbrachte.

Irgendwie dachte sie dann wohl, sie müsse mehr liefern um sicher zu sein. Sie begann, wahllos Menschen beim KGB anzuschwärzen.

Die verschwanden dann für einige Zeit oder für immer. Erst in einen berüchtigten Keller und dann nach Sibirien. Das überlebten viele nicht. Alle wussten Bescheid und hatten Angst vor diese Frau.

Der Spuk hörte erst nach Stalins Tod auf.

Mama hat mir Jahre später die Dame gezeigt. Da war sie nur noch eine unauffällige und sehr geschwätzige Kittelschürzenoma. Ich konnte mir nie recht vorstellen, was die Russen an ihr gefunden hatten.

Solche Petzen hat es vermutlich unzählige gegeben. Niemand konnte sich zur Stalinzeit sicher fühlen. Auch kein Altkommunist.

Ich war damals noch ein Vorschulkind, aber ich erinnere mich noch gut daran, wie meine Mutter stundenlang reglos am Fenster stand und auf die Straße starrte wenn Papa nicht pünktlich nach Hause kam.

Er ging ab und zu nach Feierabend ein Bier trinken. Für ihn war es ein unschuldiges Vergnügen und eine Möglichkeit, gute alte Freunde zu treffen. Für Mama war es die Hölle.

© Amanda Landmann


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