Warum fesseln uns manche Geschichten und andere nicht? Es ist vor allem wichtig, die Szenen klug auszuwählen, effektvoll zu kombinieren und präzise zuzuschneiden …
Wir hatten früher, als ich noch Kind war, ein Premierenanrecht beim Brandenburger Stadttheater. Das waren zwölf Vorstellungen (Schauspiel, Oper, Operette oder Ballett) und zwei Konzerte nach Wahl. Vorteile waren ein günstiger Preis und ein gewisser Zwang, am Sonnabend Abend auch bei mäßig ausgeprägter Energie den Hintern vom Sofa zu heben, sich fein zu machen und sich gemessenen Schrittes zum örtlichen Kulturtempel zu begeben. Schließlich waren die Karten ja bezahlt …
Eher nachteilig war, dass ich damals auch jede Menge schmalzige Operetten übergeholfen bekam, denn die liebte das hiesige eher schlichte Publikum nun einmal von ganzem Herzen. Warum ich das erzähle? Mir geht eine Liedzeile nicht aus dem Kopf: „Es kommt auf die Sekunde an, bei einer schönen Frau …“Und ich sehe immer noch den schmierigen kleinen Bulgaren mit den hohen Absätzen vor mir, wie er mit der ganz speziellen Grazie der Dicken über die Bühne stolzierte und hingebungsvoll sang. Oh ja, die Tenöre am Brandenburger Stadttheater waren ein Kapitel für sich …
Es kommt auf die Sekunde an … weiß der Geier aus welcher staubigen Mottenkiste diese Binsenweisheit stammt aber ihre Plattheit ändert nichts daran, dass sie irgendwie stimmt. Für alles gibt es den einzig richtigen Zeitpunkt … jedenfalls, wenn es um kapriziöse Geschöpfe geht und das können auch erfundene Lebewesen sein. Eine Geschichte funktioniert nur, wenn man die richtigen Momente erwischt. Wenn man so will, ist das eine Art Zickigkeit des Stoffs und/oder der Figuren …
Tja … was ist nun ein richtiger Moment?
1. Immer auf der Lauer
Da gibt es zunächst die subjektive Komponente. Ein Autor muss seine Figuren ständig belauern, um die eher seltenen Augenblicke der Klarheit mitzuerleben. Wann ist eine Szene überhaupt reif für die Tastatur oder ein Blatt im Notizbuch? Wenn man nicht in einer gewaltigen Flut aus unnützen Informationsschnipseln ersticken will, heißt es aufpassen. Anfangs fluktuieren die Inhalte, Worte … Bilder. Alles scheint ziellos und beliebig auswechselbar zu sein. Aber dann bilden sich allmählich Informationskerne, bestimmte Sequenzen tauchen immer wieder auf … und es entsteht ein deutliches Bild oder eine Art Videoclip. Das gilt es festzuhalten!
Ja, ich weiß, dass andere Autoren ganz erfolgreich mit Datenbanken, Notizbüchern, festen Strukturen und einer rigiden Planung arbeiten … und ja, auch ich weiß schon lange vorher, wer den großen Krieg am Ende gewinnen wird … aber alles Übrige.
Ich ahne oft nicht einmal, wer sich in wen verlieben wird … oder wer jemanden, der auf der Abschussliste steht, umbringen darf. Und das kann ganze Handlungsstränge so sehr durcheinander bringen, dass ich sie bis zum Anfang aufräufeln und neu schreiben muss. Es kann ja durchaus sein, dass es viel effektiver ist, mit einem Exposee zu arbeiten. Aber leider krepieren meine Figuren, wenn ich sie auf diese Weise zwischenlagere. Ich kann es nicht ändern: Der erste Entwurf ist bei mir immer eine Art Life-Mitschnitt. Danach geht es nur noch um technische Details … Satzbau, Sprache … Licht und Schatten.
Für einen Augenblick der Klarheit gibt es jedes Mal nur ein schmales Zeitfenster. Wenn ich das verpasse, geht die betreffende Variante der Geschichte verloren und ich muss geduldig auf eine neue Gelegenheit warten. Ich kann die Geschichte zwar immer noch weiter schreiben, aber sie wechselt in ein Paralleluniversum mit anderen Chancen und Katastrophen. Der Leser merkt das zum Glück nicht, weil er die Wegkreuzung des Schicksals in meinem Kopf nicht miterlebt hat …
Was ich gar nicht drauf habe, ist mich einfach hinsetzen und schreiben … egal ob mit oder ohne festgelegten Plan. Ich arbeite ja fast nur mit denen da draußen … und die haben leider ihren eigenen Dickkopf. „Es kommt auf die Sekunde an, bei einem … na gut, „reim dich oder ich zerhack dir die Kommode“ muss jetzt wirklich nicht sein.
2. Die andere Subjektivität
Die da draußen flüstern und streiten fast jede freie Minute in mir. Sie träumen, umarmen sich, kämpfen miteinander … aber sie tun auch so banale Dinge wie essen, in der Nase bohren, sich an- und ausziehen oder kratzen … nicht alles ist so wichtig, dass es die Leser wissen möchten. Nicht alles muss man genau beobachten und dokumentieren. Auch da kommt es auf die Sekunde an. Wann stecken meine Charaktere in einer Schlüsselszene, die ich bei Strafe des Untergangs aufzeichnen muss? Welche Informationen sind wichtig, aber nur für mich und meine Leute bestimmt? Und was lasse ich beim Schreiben einfach wie Musik im Hintergrund laufen?
Die Auswahl und der präzise Zuschnitt der Szenen gehören zu den wichtigsten Arbeiten eines Autors. Nur blutige Anfänger glauben, dass sie ein Geschehen nur chronologisch abzuspulen brauchen, um einen Roman, eine Erzählung oder eine Shortstory zustande zu bringen. Am ehesten funktioniert das noch bei Kindermärchen … und da macht es in gewisser Hinsicht Sinn, weil kleine Kinder mit schnellen Szenenwechseln schlechter als Erwachsene zurechtkommen. Sie mögen es „immer schön der Reihe nach‘ und manche lieben sogar Wiederholungen. Kinder werden nicht so schnell ungeduldig, weil sie noch über Dinge staunen können, die uns „Großen‘ selbstverständlich sind. Für Kinder ist die ganze Welt neu und aufregend. Zeit spielt nicht wirklich eine Rolle, weil man sich in diesem Alter noch nicht vorstellen kann, dass das Leben irgendwann vorbei ist. Ich habe festgestellt, dass ich mit den Jahren immer ablehnender auf langweilige Passagen reagiere. Es hat wohl auch damit zu tun, dass man die Begrenztheit seiner Existenz immer stärker wahrnimmt … „Zeitverschwendung‘ ist jetzt viel mehr als nur eine Floskel,
Ihr denkt vielleicht: „Okay! Dann beschränke ich mich halt auf jene Szenen, wo ordentlich was los ist … Jump and Run und vielleicht noch ein bisschen Sex und ein paar witzige Sprüche. Damit kann ich gar nichts falsch machen.
Ob es auf die Weise tatsächlich gelingt, auch reifere Leser zu fesseln? Eher nicht, denn die Vorliebe für Dauergeballer, endlose Verfolgungsjagden und spielfilmfüllende Karatekämpfe ist noch ganz und gar kindlich. „Ich habe alle Zeit der Welt und ich mag Action. Meinetwegen kann es ewig so weitergehen …“
Es ist halt immer noch das alte Märchenprinzip: Der jüngste Prinz erlegt den siebenten Drachen und das wird mit akkurat den gleichen Worten wie bei Untier eins bis sechs beschrieben … wie das Schwert auf den schuppigen Hals niedersaust, das Blut spritzt und der eklige Kopf in hohem Bogen durch die Gegend fliegt.
Ich fand schon als Zehnjährige, dass ein Drachen vollständig genügt. Ich hätte viel lieber mehr über den einen erfahren und darüber, was die Leute mit dem Riesenkadaver gemacht haben, ob die Prinzessin ihren Eltern verzeihen konnte, dass sie sie zum Wohl des Staates verfüttern wollten und warum die verdammten Drachen so scharf auf Jungfrauen sind … wo das doch bei einem einfachen Frühstück keine Rolle spielen dürfte. Ich habe ziemlich früh angefangen, Bücher für Erwachsene zu lesen. Und es dauerte mehr als ein Jahrzehnt, bis ich Märchen wieder interessant fand.
3. Action! Action! Action!
Auf mich wirken Actionfilme meist ziemlich öde. Wahrscheinlich bin ich viel zu unsportlich, um all die kräftezehrenden Hiebe, Sprünge und Autorasereien richtig würdigen zu können. Ich denke nur an „Krieg der Welten“: Es knallt und zischt, Tom Cruise rennt eingedreckt über die Leinwand … und das ist so ziemlich alles, worum es geht. Langweilig!
Warum wirkt das so auf mich? Ich vermute, die Ursache ist eine Ungleichbehandlung der berühmten W-Fragen (Wer? Was? Wann? Wo? Wie? Warum?). In Actionszenen ist soviel los, dass gar keine Zeit bleibt, darüber nachzudenken, warum all die Fäuste und Autos durch die Luft fliegen. Da werden nur auf die Schnelle ein paar Klischees hingerotzt und die Hatz geht weiter. Es ist eine Art Naturgesetz: Je mehr die Actionszenen überwiegen um so spärlicher werden die Hintergrundinformationen. Die Geschichte gerät dünn und blass, die Figuren werden nur noch von den Schauspielern zusammengehalten. Na gut, wenn die einigermaßen cool sind, kann das Ganze trotzdem noch einen gewissen Unterhaltungswert haben. Aber Geist und Seele des Lesers bleiben irgendwie hungrig. Ich weiß nicht, wie Actionfans auf Dauer damit klarkommen … ob sie wirklich so anspruchslos sind.
Ins Alltagsleben übertragen muss man sich das nämlich so vorstellen: Da keilen sich ein paar Leute, die man nur flüchtig vom Sehen her kennt, mitten auf der Straße wie die Verrückten und keinen interessiert, wie es dazu kommen konnte. Gewiss, einige tragen auffällige Frisuren, Buttons oder merkwürdige Schnürsenkel … aber warum sie das machen, weiß auch niemand genau.
„Äh ja, dem Glatzköpfigen sein Vater ist arbeitslos. Da muss er doch Wut auf all die Asylanten haben!“
„Und die Kanaken machen sich dauernd an unsere Weiber ran! Haut sie!“
„Und warum haben sie den Vater des einen Jungen entlassen? Warum wird der andere vom blanken Sexualneid aufgefressen? Wer ist tatsächlich schuld an der Misere … der Armut und der unsäglichen Primitivität dieser Kerle?“
„Wen interessiert das schon? Guck mal, das war ein echter Karatehieb!“
„Ja, die Kakerlake ist jetzt reif fürs Krankenhaus!“
„Juhu! Was für ein meisterhafter Schlag!“
Keiner kann mir einreden, dass so ein Verhalten normal ist! Das wäre ja so deprimierend, dass ich schnellstens bei einer logischeren und friedlicheren Spezies Asyl beantragen müsste … nein, ich mag keine Kunstprodukte, bei denen die ganze Zeit geprügelt, gerast und geblutet wird. Ähnlich stupide wirkt nur noch pausenloses Gerammel,
Heißt das, dass ich grundsätzlich gegen Actionszenen bin? Oh nein … aber bitte nicht pur! Nicht ohne sie gründlich vorzubereiten … nicht ohne den dazu gehörenden Konflikt präzise zu entwerfen und ihn auf logische Weise eskalieren zu lassen. Das, was vorher in den Köpfen vorgeht, ist genauso wichtig wie das physische Endprodukt der mentalen Prozesse. Sparsam verwendet und gut platziert sorgen Actionszenen für Spannung und einen kräftigen Schuss Realismus … denn die Kehrseite ist, dass Geschichten, in denen nur geredet und gedacht wird auch ganz schön langweilig sein können …
4. Wegkreuzungen des Schicksals
Eine Wegkreuzung des Schicksals kann mit aufdringlicher Deutlichkeit beschildert sein. Der Wanderer steht davor und grübelt: „Gehe ich nun nach links oder rechts, wähle ich dieses Übel oder jenes … welche Verheißung ist am verlockendsten?“
Ja, es gibt auch in der Realität solche offensichtlich entscheidenden Augenblicke: Berufswahl, Heirat, Kinder. Oft sind es auch typische, plötzlich auftretende Krisensituationen: ein gesellschaftlicher Umbruch, Krankheit, der Verrat eines Partners oder Freundes, eine schwierige Liebe, eine neue Chance. Wie wir uns dann verhalten, wird durch viele Faktoren bestimmt: Erziehung, Werte, Kraft und den Mut zur freien Entscheidung …
Die Motivation sagt viel über eine Person aus. Selbst an offensichtlichen Wegkreuzungen braucht der Leser die Vorgeschichte, um das Verhalten des Helden würdigen, verabscheuen oder verständnisvoll belächeln zu können. Es ist wichtig, den gezeigten Ausschnitt nicht zu eng zu wählen … aber auch nicht zu weit auszuholen. Die Frage ist jedes Mal: „Hat der Sachverhalt oder die Szene wirklich Einfluss auf die Entscheidung?“
Es gibt neben den offensichtlichen Kreuzungspunkten auch andere unauffälligere Momente, die den Gang der Dinge nachhaltig beeinflussen können: ein unbedachtes Wort, ein winziger Verrat, eine versehentliche Kränkung …
Plötzlich bewegt sich die Handlung nur noch durch die Macht der Trägheit weiter in die geplante Richtung. Jetzt genügt der kleinste Anlass, um eine Kehrtwendung zu bewirken, eine Katastrophe oder einen bisher unmöglichen Sieg. In der Realität merken wir nur manchmal im Nachhinein, wann der entscheidende, alles verändernde Moment war. Meist wundern wir uns lediglich über die unerwarteten Kapriolen des Lebens … nennen es Zufall, obwohl wir die Weichen vor langer Zeit selbst gestellt haben.
Es ist ein Privileg der Autoren von Trivialliteratur, ihre Helden aus heiterem Himmel mit Zufällen aller Art zu bombardieren und sie auf diese Weise durch die Geschichte zu hetzen. Wenn wirklich nichts anderes dahinter steckt, kann alles auch beliebigen Leuten passieren. Es könnte jedermanns Geschichte sein, was es dem Leser leichter macht, sich damit zu identifizieren … allerdings nur über den kleinsten gemeinsamen Nenner: Ich bin ein Mensch und als solcher ein unschuldiger Spielball des Zufalls. Wie unrealistisch und im Grunde auch ziemlich uninteressant!
Im Gegensatz zum Normalbürger, der sich meist in der Froschperspektive befindet und das Gelände nur ein paar Zentimeter weit überblicken kann, gleicht der Autor einem Vogel, der sowohl hoch über dem Geschehen kreisen, als es auch aus nächster Nähe beäugen und daran herumpicken kann. Er erkennt Wegkreuzungen des Schicksals und weiß, wie viel Freiheitsgrade sein Charakter zu jedem beliebigen Zeitpunkt hat. Das kann er dem Leser sofort mitteilen oder die Information zurückhalten … notfalls bis zum großen Showdown. Ärgerlich ist nur, wenn er dem armen Kerl seine Weisheit gänzlich vorenthält.
Oder wenn der unbedarfte Schöpfer einer Geschichte tollpatschig und schusselig durchs Gebüsch wuselt und nicht einmal den Versuch unternimmt, sich über die Ebene zu erheben um die großen Zusammenhänge zu erkunden … oder wenn er gar nicht fliegen kann, weil der niedrige Himmel seiner Welt aus Pappe besteht … genau wie der Rest der Kulissen.
5. Direkt oder indirekt erzählen?
Ein ehrgeiziger, aber noch ziemlich unerfahrener Autor fand es besonders clever, ein Bombenattentat auf der Brücke eines Raumschiffs nicht direkt zu schildern, sondern die Informationen darüber in einen ziemlich trockenen Logbucheintrag zu packen. Ich verstehe sehr gut, warum er das getan hat: Es wollte etwas Neues ausprobieren und seiner Geschichte ein wenig Raffinesse verleihen … ich zweifle nur daran, dass es in diesem speziellen Fall gut war, auf knallige Action zu verzichten. Diese Frage kann leider nicht allgemein gültig beantwortet werden … allzu vielfältig sind die Möglichkeiten und Gefahren dieses Stilmittels.
Indirekte Schilderungen verfremden die Situation, erzeugen Kühle und Abstand. Manchmal braucht man das, um die Aufmerksamkeit des Lesers für andere Aspekte der Geschichte zu schärfen … ihn von seinen Bauchgefühlen weg zu einer kritischen und logischen Sichtweise zu führen. Allerdings macht das nur Sinn, wenn tatsächlich Inhalte mit einem gewissen Tiefsinn vorhanden sind. Eine schlichte Abenteuergeschichte mit solchen stilistischen Finessen aufmotzen zu wollen, ist wenig hilfreich. Die Spannung wird gnadenlos abgewürgt und der Leser bekommt als Ersatz dafür eine konventionelle Story, über die es eigentlich nicht lohnt, lange nachzudenken.
Ich neige eher dazu, solche Schlüsselszenen direkt zu erzählen. Mit den richtigen Einzelheiten bringen sie die Geschichte kräftig in Schwung … sodass sich der Rest fast von selbst abspult. Auch wenn ich Action für kein Allheilmittel halte, so kann sie doch eine wichtige Würze für eine abenteuerliche Geschichte sein.
Es gibt noch andere Gründe, auf die direkte Darstellung mancher Szenen zu verzichten. Es kann zum Beispiel wichtig für die Aufrechterhaltung der Spannung sein, bestimmte Informationen zurückzuhalten. So hat der Leser … falls er nicht zu den garstigen Typen gehört, die den Schluss zuerst lesen … das Vergnügen lange herumzurätseln, wer der Täter war und was im Einzelnen passiert ist. Gerade Krimis bedienen sich oft dieses Konzepts und ob man das Geheimnis dann durch eine dürre Notiz, die immer noch Spielraum zum Spekulieren lässt, oder eine knallige Szene am Schluss auflöst, hängt von der Art der Geschichte und dem persönlichen Geschmack des Autors ab.
Wenn alle Rahmenbedingungen stimmen, können auch Mischungen aus purer Information (fiktive E-Mails, Zeitungsausschnitte, Vernehmungsprotokolle usw.) und erzählter Handlung effektvoll sein. Einige der berühmtesten amerikanischen Autoren von True Crimes bedienen sich sehr erfolgreich dieses Musters. Ihr könnt mir glauben, dass das Gutachten eines Psychiaters oder ein Vernehmungsprotokoll unter Umständen viel gruseliger als eine noch so kunstvoll konzipierte Szene wirken kann. Gut recherchierte fiktive Dokumente können auch eine fantastische Geschichte enorm aufwerten. Mir fällt gerade kein Beispiel ein aber probiert hat das sicher schon jemand. Die Möglichkeiten sind viel zu verlockend.
6. Typische Macken von Echtzeitformaten
Echtzeitformate sind momentan recht erfolgreich … man denke nur an die amerikanische Actionserie 24 … und das scheint all meine schönen Theorien zu widerlegen. Das Echtzeitprinzip wird als bahnbrechende Neuerung gepriesen. Vierundzwanzig Stunden auf dem Bildschirm entsprechen genau der gleichen Zeitspanne in einer fiktiven Realität. Nein, es gibt angeblich keine Schnitte und künstlerischen Mätzchen mehr … basta!
Als wenn der bewusste Verzicht auf Gestaltung eine Errungenschaft sein könnte! Solche Spielereien tauchen ab und zu wie Schachtelteufel auf, verursachen eine Weile tüchtig Lärm und werden genauso schnell wieder verworfen. „Blair Witch Project“ hat beim ersten Film recht gut funktioniert, danach war das Konzept nicht mehr neu, das Staunen des Publikums verflüchtigte sich und die Macken des Formats lagen offen zutage.
Bei der ersten Staffel von 24 hatte ich tatsächlich den Eindruck von Echtzeit. Es gab beinahe schmerzhaft spannende Folgen und solche, in denen fast nichts passierte … jedenfalls nichts, was die Geschichte sonderlich vorangebracht hätte. Da war tatsächlich ein Hauch von jenem Pappnashorn zu spüren, in dem sich die Biologen versteckt halten und darauf lauern, dass sich draußen in der Savanne was tut. Ja, die verdammten Biester grasen und misten die meiste Zeit gemütlich vor sich hin und nur selten schleicht sich ein Löwe an oder zwei Bullen streiten sich um die Weibchen. Der Nachteil der Staffel war, dass die „Grasen- und Mistenfolgen“ so langweilig waren, dass vermutlich etliche Zuschauer frustriert aufgegeben haben.
Nur so kann ich mir diese Kehrtwendung erklären: Inzwischen haben wir die vierte Staffel der Serie und die Macher haben dafür gesorgt, dass jede Folge mit Action satt voll gepackt ist. Ja sicher, das ist immer noch sehr spannend aber es fühlt sich nicht mehr wie Echtzeit an. Der pseudodokumentarische Charakter wurde erfolgreich … wenn auch vermutlich unabsichtlich … vollständig eliminiert. 24 ist zu einer Mogelpackung verkommen, bei der eine Katastrophe hektisch die nächste jagt … was völlig unwahrscheinlich wirkt.
Ein realistischer Nebeneffekt dieser völlig unrealistischen Wuselei ist, dass die Charaktere immer mehr abstumpfen. Es ist schon klar: Wer jede zweite Folge jemanden foltern muss, um ihm hoch wichtige Informationen zu entreißen, macht sich irgendwann nichts mehr draus. In der vierten Staffel muss sogar jeder Mitarbeiter der Antiterroreinheit CTU damit rechnen, beim leisesten Verdacht auf Verrat routinemäßig von den eigenen Kollegen gequält zu werden. Ich frage mich, wer unter solchen Umständen arbeiten möchte …
Nein, das Echtzeitformat ist genauso gescheitert, wie die wackelnde Handkamera und die fehlende Regie beim „Blair Witch Project“ . Unsere Vorfahren haben solche … in unserem Fall künstliche … Konzeptionslosigkeit schon vor vielen Jahrhunderten überwunden. Man kann Szenen eben doch nicht wahllos aneinander reihen.
Nein, der richtige Moment ist eine unverzichtbare Errungenschaft … es kommt tatsächlich auf die Sekunde an … auf das richtige Wort, eine wichtige Berührung, den entscheidenden Moment des Kampfes … und auf Augenblicke der Einsicht, des Triumphes, der Reue und Wandlung. Auf alle Arten von Wegkreuzungen, Höhepunkten und Niederlagen …
Fazit:
Für einen Autor kommt es zweifach auf den richtigen Augenblick an. Zeitfenster der Klarheit bezüglich einer Geschichte und ihrer Charaktere müssen so schnell wie möglich umgesetzt werden. Andererseits ist es wichtig, die Szenen klug auszuwählen, effektvoll zu kombinieren und präzise zuzuschneiden. So genannte Echtzeitformate haben ihre Macken und können letztendlich eine sorgfältige Komposition nicht ersetzen.
© 2006 by Anneliese Wipperling
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