Alles nur geklaut?

Ihr kennt das wahrscheinlich auch: Ihr seid von irgendeiner Geschichte, einem Film oder einem Bild restlos begeistert und euer Gesprächspartner rümpft nur abfällig die Nase. „Das ist doch ein uralter Hut – vermodert und halb zerfallen! Dreieckskonflikt! Mann! Und dieses banale Bildchen erst.Das könnte glatt von XY sein – glaub mir, das ist alles nur geklaut.“
Tja, ihr kennt den XY nicht und könnt folglich nicht selbst vergleichen- und ihr schämt euch deswegen. Langsam beschleicht euch das ungute Gefühl, dass es da draußen gar keine neuen Geschichten mehr gibt, nur immer wieder aufs neue aufgewärmte uralte Schlurren.

„Wozu schreibe ich überhaupt?“ fragt ihr euch frustriert, während ein überwältigender Schmerz die fragile Welt in eurem Inneren abrupt zerbröseln lässt. „Wenn alles schon einmal da gewesen ist – schade um die ganze verfluchte Schufterei, die schlaflosen Nächte und die ewigen Dispute mit den selbstherrlichen Figuren in meinem Kopf. Sollen doch andere das Fahrrad zum tausendsten Mal erfinden! Ich schmeiß den ganzen Krempel hin!“
Andere Zeitgenossen haben sich diese Argumente längst zu Eigen gemacht und geraten in Goldgräberstimmung. „Wenn sich sowieso alle gegenseitig beklauen darf ich das schon lange. Dann gibt es gar kein geistiges Eigentum sondern nur Bausteine und Fetzen, die in einer frei zugänglichen Suppe schwimmen. Ich fische mir jetzt ein paar schöne fette Brocken heraus und zaubere daraus ein leckeres Pfannengericht. Der dumme Durchschnittsleser wird es schon fressen. Ich pfeife auf so genannte Urheberrechte, die sind doch das Papier nicht wert, auf dem das Copyright gedruckt ist.“
Wer hat nun recht? Der Kulturpessimist, für den alles schon zigmal da war, der dreiste Räuber – oder stimmt das alles nicht und es gibt da draußen immer noch genug Stoff für hunderte von Künstlergenerationen? Lebendige Kunst bis ans hoffentlich ferne Ende der Menschheit?
Wie so oft kann auch diese Frage nicht pauschal beantwortet werden und wenn man das Problem zergliedert, ist leider stellenweise nur ein „Jein“ möglich.

1. Grundkonflikte

Menschen …  und vermutlich auch Außerirdische oder Fabelwesen …  schlagen sich mit bestimmten Grundkonflikten herum, die aus den Besonderheitenihrer physischen und geistigen Existenz resultieren. Um manche Hürden kommt eben kein intelligentes lebendes Wesen herum.
Es gibt uralte und vermutlich beinahe flächendeckende Probleme: Zum Beispiel das beunruhigende Wissen um die eigene Endlichkeit, der leidenschaftliche Wunsch nach Befriedigung der biologischen Triebe – den Kampf um Fortpflanzungschancen, Nahrung, Wasser oder einen akzeptablen Rangordnungsplatz. Andere Konflikte sind typisch für bestimmte Altersgruppen, Berufe, Geschlechter und, und – und …
Selbstverständlich haben all diese Grundkonflikte bereits Eingang in Literatur, Theater und Film der Erde gefunden – und so gibt es jede Menge Dreiecksgeschichten, Romeo und Julia-Tragödien, Rangordnungskämpfe zwischen Vätern und Söhnen, Machtkämpfe zwischen Fürstenhäusern, tragische Geschichten von verratener Freundschaft, verlorenen Schlachten und unerfüllter Liebe.
Soll man nun über diese Themen überhaupt nicht mehr schreiben, obwohl die Menschheit solche Probleme vermutlich niemals wirklich überwinden wird? Obwohl das mit der Eitelkeit, der Eifersucht und den Qualen des Erwachsenwerdens nie vorbei sein wird? Sollen wir den Wunsch der Leser nach lebensnahen Geschichten ignorieren, sie an die alten Meister verweisen und nur noch nagelneue Stories über bisher gänzlich unbekannte Konflikte schreiben? Sollen wir gar krampfhaft neue Schwierigkeiten ersinnen, nur weil die alten so hoffnungslos abgegrast sind?
Natürlich kann man so etwas versuchen. Ich fürchte jedoch, dass sich die meisten Innovationen bei näherer Betrachtung auf den alten Neandertalerkram zurückführen lassen, der nur statt in Felle in Plastik und Kraftfelder gewickelt ist. Und wenn es ausnahmsweise wirklich gelingt, etwas nie da Gewesene zu erschaffen, könnte es so abgehoben und weltfremd sein, dass es niemanden außer dem ehrgeizigen Autor interessiert. Was soll der ganz normale Leser mit extrem verzwickten Neurosen anfangen – oder mit synthetischen Perversitäten, die in keine psychologische Theorie passen – oder Persönlichkeitsstrukturen, die ohne Rücksicht auf die Realität am Reißbrett erschaffen wurden? Lebt so etwas überhaupt?
Der Wunsch nach Originalität treibt zuweilen skurrile Blüten. Ich las einmal eine SF-Geschichte von einem sehr angesehenen Autor, bei der es um Wesen mit drei Geschlechtern ging, die als Kinder getrennt lebten und nichts über ihre Bestimmung wussten, irgendwann die Erlaubnis zur Vereinigung erhielten und dann aus drei Personen ein völlig neues Wesen bildeten. Ja, das klingt interessant und das war es sogar bis zu einem gewissen Grade …aber glaubt mir, die Kalamitäten dieser seltsamen Geschöpfe waren für einen schlichten humanoiden Leser wie mich nicht nachvollziehbar – und einiges deutet darauf hin, dass es dem armen Autor nicht viel besser ging. Das ganze merkwürdige Dasein dieser ziemlich abstrakten Wesen, ihr Wachsen, Grübeln und auch die erlösende Verschmelzung ließen mich aufemotionaler Ebene völlig kalt! Ich kann nicht einmal sagen, ob die Geschichte zu verrückt oder nicht verrückt genug war – es war ein wirklich Respekt einflößender und geistreicher Versuch, der am Ende leider nichts gebracht hat.
Mir ist klar, wie schwierig es für einen menschlichen Autor sein kann, die Konflikte von Kristallwesen, Staaten bildenden Polypen oder intelligenten Bakterienkolonien nachzuvollziehen. Adriana hat es einmal ganz erfolgreich mit Insekten versucht, aber zum Glück kannten sie wenigstens Männlein und Weiblein! Und hatten menschenähnliche Familienstrukturen. Durch diese Analogien lebten die Figuren und wer weiß, wenn sie noch fremdartigergewesen wären – es gehört wahrscheinlich mehr als Fantasie und Talent dazu, es dann noch halbwegs plausibel hinzukriegen.
Vielleicht werden wir Menschen irgendwann zwischen den Sternen reisen und tatsächlich extrem fremdartigen intelligenten Lebewesen begegnen. Dann können wir eventuell unseren Horizont ein wenig erweitern – falls wir diese Geschöpfe überhaupt bemerken und verstehen werden. Aber die haben sicher genug eigene Dichter und warten nicht gerade auf Literaten von der Erde, die ihnen ihre eigene Existenz erklären! Vielleicht sollten wir doch besser bei unseren eigenen Grundkonflikten bleiben.

2. Monster und Maschinen

Gegenwartsliteratur bedient sich der vorhandenen Umwelt und bei historischen Büchern muss man akribisch darauf achten, nicht in Konflikt mit den bekannten Fakten zu geraten. Ist nun die SF das Reich der absoluten Freiheit, wo der Autor endlich einmal hemmungslos auf die Kacke hauen darf? Wohl eher nicht.
SF sollte sich nämlich nicht zu weit von der Wissenschaft entfernen, sonst verliert sie ihren Anspruch auf Seriosität. Ein Raumschiffcaptain darf per Definition nicht zaubern und selbst ein Technomagier muss wenigstens andeutungsweise erklären können, wie seine Tricks funktionieren. Geht man vom aktuellen Stand der Wissenschaft aus, gibt es für bestimmte Probleme nur eine begrenzte Anzahl denkbarer Lösungen – und die werden dann mit Sicherheit von mehr als einem Autor genutzt. Niemand kann Wurmlöcher, Energiewaffen oder bestimmte Quanteneffekte für sich pachten – allenfalls die umgangssprachlichen Bezeichnungen dafür. Es ist wie ein Sechser im Lotto, auf eine bisher nicht genutzte Technik zu stoßen und es lässt sich kaum verhindern, dass die Idee ganz schnell von anderen kopiert wird. Ganz abgesehen davon, dass es unmöglich ist, alle relevanten Veröffentlichungen zu kennen und womöglich ein anderer vorher auf die gleiche Idee gekommen ist …manche SF-Ideen liegen einfach in der Luft.
Und die biologischen Grundmuster? Meine Heylaner haben …  wie die Vulkanier…  grünes Blut. Aber bevor jemand das für simplen Klau erklärt: Der Sauerstoff muss ja im Blut irgendwie transportiert werden und es sind nicht allzu viele stabile komplexe Moleküle bekannt, die sich dafür eignen. Hämoglobin ist möglicherweise die beste Lösung und falls man das Eisen durch Kupfer ersetzt – ja, dann erhält man etwas, was beinahe genauso gut funktioniert und grün aussieht. Die Erfinder von Star Trek haben das recherchiert, bevor Mr. Spock über den Bildschirm flimmern durfte. Gibt es ein Copyright auf bekannte biochemische Fakten?
Natürlich könnte man auch einfach wild herumspinnen und Lebewesen mit blauem oder goldenem Blut herumrennen lassen – das mit exotischen mehr oder weniger sinnlosen Beimengungen erklären – aber das wäre dann überhaupt nicht wissenschaftlich untermauert – da könnte man gleich über Zauberer, Drachen, Kobolde oder Einhörner schreiben- eher Fantasy als SF.
Dort sind die Freiheiten vermutlich etwas größer – obwohl es da auch Grenzen geben mag, übermächtige Vorbilder, uralte Sagen undbestimmte Lesegewohnheiten aus denen sich Standards entwickelt haben. Aber darüber wissen gestandene Fantasyautoren und -leser besser Bescheid als ich.
Jeder Autor eines fantastischen Genres muss sein fragiles Schiff zwischen Scylla (der Verwendung allzu bekannter Motive) und Charybdis (konstruierter und oft unverständlicher Fremdartigkeit) hindurchsteuern, um irgendwann die eigenenseligen Inseln zu erreichen. Und selbst da kann es ihm passieren, dass bereits fremde Siedler streitlustig ihre Sensen und Äxte schwingen: „Hau ab! Dieses Land ist schon bewohnt!“ Dann pfeifen plötzlich Kugeln dicht an seinen Ohren vorbei und er kann nur frustriert weitersegeln.¦
Ich persönlich meine, dass man bei den technischen und biologischen Einzelheiten nicht zu kleinlich sein sollte. Bei einer Geschichte mit guten Konflikten und Charakteren ist das ohnehin nur Hintergrundwissen oder schmückendes Beiwerk…
Bei der Soziologie fremder Spezies muss man ein wenig genauer differenzieren. Auch hier stehen uns wegen unserer begrenzten menschlichen Sichtweise nur wenige funktionierende Grundmuster zur Verfügung. Urgemeinschaft, Sklaverei, Feudalismus oder Kapitalismus – Theokratie, Diktatur oder Demokratie – das gnadenlose Primat von Logik, Gefühl oder Spiritualität – die Liebe zum Leben oder die Begeisterung für alles Tote: für Geschwindigkeit, Krieg, Zerstörung und die allmächtige gefühllose Maschinerie.
Der Autor entscheidet sich zumeist für eine der vielen sozialwissenschaftlichen oder psychologischen Theorien. Dennoch muss er die Einzelheiten seiner fiktiven Welten selbst auf mehr oder weniger schmerzhafte Weise gebären und die sollten schon sein geistiges Eigentum bleiben und ohne sein Einverständnis nicht von anderen benutzt werden. Ich denke da unter anderem an Besonderheiten der gesellschaftlichen Ordnung, fremdartige Gesetze, spezielle Bräuche und Rituale, Dichter, Schurken, Helden und heilige Bücher.
Übrigens ist ein Autor, der sich bedenkenlos an den Werken seiner Kollegen bedient, eigentlich gar keiner, denn er beweist damit nur seine geistige Impotenz. Er ist häufig eine ganz arme Sau mit einer dicken Profilneurose, die besser die Hufe von der Tastatur lassen und stattdessen Kohlköpfe mampfen sollte. Andererseits ist es kaum möglich, Einflüsse von außen völlig zu vermeiden, denn letztendlich wird unsere eigene Persönlichkeit in hohem Maße von unserer Lektüre …  und anderen Künsten …  geformt.
Ich bin jungen Autoren begegnet, die prinzipiell nur ihre eigenen Geschichtenlasen um sich ja nicht beeinflussen zu lassen. Aber die waren leider auch danach- keiner dieser Möchtegernerneuerer hat es auch nur bis zum bescheidenen regionalen Dichterfürsten gebracht …

3. Versehentliche Anleihen

Wie bereits oben angedeutet, liegen manche Themen in der Luft. Die gesellschaftliche Realität rückt bestimmte Fragen in den Mittelpunkt – Hartz IV hat sicherlich viele Menschen dazu veranlasst, gründlicher über die Sklaverei nachzudenken – und Autoren reagieren oft sehr sensibel auf solche Schwingungen im Bewusstsein ihres Volkes. In der SF gab es ganze Wellen von Technikeuphorie, kommunistischen Paradiesen, ökologischen Katastrophen, Supernovae, Atomkriegshorror, Asteroideneinschlägen – um nur einige Beispiele zu nennen. Ich glaube nicht, dass all diese Autoren vorsätzlich voneinander abgeschrieben haben- nein, jeder hat mit heiligem Ernst nach Antworten auf die dringendsten Probleme der Gegenwart gesucht. Dass dabei ganze Rudel ähnlicher Bücher entstanden sind, war nur ein bedauerlicher Nebeneffekt. Niemand muss sich später schämen, weil er irgendwann all sein Talent, seine Fantasie und seine Leidenschaftan einer gefährdeten geistigen Frontlinie ins Gefecht geführt hat- ganz im Gegenteil.
Ja, bestimmte Genres haben besonders feine Sensoren für die Probleme der Menschheit und die Politiker täten gut daran, mehr SF zu lesen!
Im Nachhinein ist es schwierig zu sagen, wer welchen Lösungsvorschlag zuerst aufgegriffen, wer ihn parallel erfunden, und wer ihn schlicht gestohlen hat.Ich bin fest davon überzeugt, dass viele Parallelen zwischen verschiedenen Autoren ungewollt entstehen. Insofern ärgern mich leichtfertige Beschuldigungen jedes Mal sehr – auch dann, wenn sie mich nicht persönlich betreffen. Fühlen diese Scharfrichter denn nicht das geistige Klima? Wissen sie nicht,wie ähnlich Menschen denken, fühlen und träumen können, wenn sie den gleichen Einflüssen von Wissenschaft, Technik, Kultur, Politikund Wirtschaft unterliegen? Marx sagte, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt und auch wenn man das nicht trivial als eindimensionales Gesetz sehen darf, wird niemand bestreiten, dass diese These einen bestimmten Wahrheitsgehalt hat.
Am ehesten kann man es bei drastischen Veränderungen im Leben von Einzelpersonen oder Völkern beobachten. Gesellschaftlicher Aufstieg oder Absturz, Hochzeit oder Scheidung, sichere Arbeit oder Schlange stehen in der Arbeitsagentur – plötzlich denken die Leute ganz anders als vorher. Daran können Freundschaftenund Familien zerbrechen, die Sitten verwahrlosen oder sogar Bürgerkriege aufflammen.
Es gibt noch etwas, was …  zumindest bei mir …  die aktive Suche nach Ideen im anderen Büchern weitgehend unterbindet: Wenn ich gerade mitten in einer Geschichte stecke, lese ich kaum mehr als die Tageszeitung. Ich bin viel zu beschäftigt, um mich der Gedankenwelt anderer zuwenden zu können. Eifrige Bildungsbürger finden dann den Umgang mit mir ziemlich frustrierend, weil ich all die brandneuen Highlights noch nicht kenne und auch nicht bereit bin, sie mir auf der Stelle zu kaufen oder zu borgen und meine heilige Lesepflicht zu tun. Sie verstehen es nicht: Es gibt eben Zeiten der Nahrungsaufnahme, Zeiten der Verdauung und – na ja, der Vergleich hinkt wohl doch ein wenig. Tut mir Leid.
Manchmal schlummern vage Erinnerungen an ein Buch oder einen Film irgendwo im Unterbewusstsein. Sie steigen im geeigneten Augenblick empor und der Autor hält sie irrtümlich für einen eigenen Einfall. Das ist tragisch, denn so ein unabsichtlicher Diebstahl kann auch dem gewissenhaftesten Menschen passieren. Schließlich ist es nicht zumutbar, vor jeder Szene den Bücherschrank oder die DVD Sammlung umzugraben und nachzuprüfen, ob etwas wirklich neu ist. Da wäre die Inspiration ganz schnell im Eimer – und hinterherlässt sich vieles nicht mehr ändern, ohne die Geschichte und ihre Figuren zu beschädigen.

4. Dreister Diebstahl

Dreister Diebstahl ist bei echten Literaten verpönt. Schließlich beweist man damit schwarz auf weiß, dass man es nicht mehr oder noch nicht drauf hat. Nur extrem schamlose Autoren klauen heute noch so, dass es offensichtlich ist. Manche Fanzineschreiber …  die sowieso in geborgten Welten leben …  legen wenig Wert auf geistiges Eigentum und so werden in der Szene ganze Passagen kopiert und in die eigene Geschichte eingebaut. Wenn alle sich so verhalten, ist nichts dagegen einzuwenden. Allerdings ist es um manche Autoren schade, weil sie mehr könnten, als in der Herde mitlaufen und sich gegenseitig die saftigsten Grasbüschel vor der Nase wegfressen.
Warum es trotzdem renommierte Autoren gibt, die gern fremde Literatur adaptieren ,ist mir ein Rätsel. Vielleicht steckt dahinter ein gewisses Allmachtsgefühl – geistiger Kolonialismus gegenüber fremden Kulturnationen, der Gedanke, absoluter Herrscher im Reich der Worte zu sein – die Vorstellung, dass das Werk anderer Dichter in jedem Fall verbesserungswürdig ist und alles, was die Hand des Meisters auch nur flüchtig berührt hat, selbstverständlich zum ureigenen Werk des Meisters mutiert.
Dabei ist es nicht allein der letzte Schliff, der den Wert eines Gedichts oder einer Geschichte ausmacht. Ich würde Goethe mehr schätzen, wenn er die Finger vom Heideröslein gelassen hätte! Seine Korrekturen an dem alten Volkslied waren ziemlich belanglos – ein ausgetauschtes Wort hier, eine leichte Verbesserung des Rhythmus dort. Verdammt, das hatte er doch garnicht nötig oder? Nein, ich verstehe es nicht …

5. Schamlose Ausbeutung

Ihr denkt, das gibt es nicht mehr? Dass die Zeiten vorbei sind, wo die Gedanken und Ideen einer Frau ebenso Eigentum ihres Partners sind, wie ihr Körper? Immerhin sind Frauen inzwischen im Literaturbetrieb fest etabliert.
Tatsächlich können Freundschaft und Liebe sich auch heute noch als üble Fallen für kreative Menschen erweisen. Vermutlich ist das ausbeuterische Verhalten inzwischen nicht mehr so geschlechtsspezifisch wie früher – aber es gibt immer noch ehrgeizige Mitmenschen, die eine Beziehung zu einem Künstler oder einer Künstlerin als möglichen Weg zum eigenen Erfolg sehen – natürlich nur, wenn derjenige noch weitgehend unbekannt ist. Da ich selbst schon Erfahrungen mit einem ausbeuterischen Partner gemacht habe, kenne ich einige der üblichen Dialoge:
„Ich verstehe nicht, was du gegen mein neues Gedicht hast! Ich habe doch darunter geschrieben, dass es nach einem Einfall von A. ist!“
„Schämst du dich denn gar nicht, einem zehnjährigen Kind die poetische Idee zu stehlen?“
„Wieso? Ich habe es doch drunter geschrieben – wie schon gesagt- und ich fand es halt ein bisschen holperig …“
„Das gibt dir immer noch nicht das Recht, ungefragt daran herumzufummeln!“
„Ich kann aber nicht anders!“
„Grrrr!“
Oder: „Lass uns doch zusammenarbeiten! Du lieferst einige Ideen und ich erledige das mit dem Feinschliff. Schließlich kenne ich mich mit Prosa besser aus.“
„Und tust hinterher so, als hättest du die Hauptarbeit erledigt. Nein danke!“
„Wir könnten auch einen Gedichtband zusammen schreiben. Dann steht drüber, was von dir ist – wo du doch so viel Wert darauf legst – aber das erste Gedicht auf dem Klappentext sollte von mir sein. Ich denke da an!“
„Dann will ich aber das letzte Wort haben!“
„Du bist ja ganz schön pingelig!“
„Grrrr!“
Ein anderer Streit: „Ich verstehe nicht, warum du nicht mit mir zusammenarbeitenwillst. Die Strugatzkis und die Steinmüllers sind damit ganz erfolgreich- ganz zu schweigen von diesen Schweden mit ihren tollen Krimis … Sjöwall und …“
„Ich lass mir aber nicht gern reinreden.“
„Trotzdem – wir könnten ein großartiges Team sein! Was meinst du, warum ich dich genommen habe!“
„Ach so! Das war also alles nur Berechnung? Vergiss es! Niemals!“
„Dann bist du aber nicht mehr meine Bezugsperson! Es ist ganz allein deine Schuld, wenn ich jetzt wieder an B. denken muss! Siehst du, was du angerichtet hast?“ (Heftiges Augenrollen)
„Grrrr!“
Ich kann nur jedem unbekannten Autor raten, sich vor Schmarotzern in acht zunehmen! Entgegen allen Beteuerungen haben solche Symbiosen sehr wenig mit Liebe oder Freundschaft zu tun. Wehret den Anfängen – und sucht euch Partner ,denen etwas daran liegt, dass ihr nach euren eigenen Gesetzen wachsen und möglicherweise bekannt werden könnt! In einer guten Beziehung vergreift sich keiner am geistigen Eigentum des anderen!

6. Vom Nutzen eines Komposthaufens

„Also, bis jetzt fand ich die ganze Diskussion nicht besonders hilfreich! Ich weiß immer noch nicht, welche Geschichten ich schreiben soll und wie ich jede Art Klau vermeiden kann.“
„Also erst einmal die schlechte Nachricht: Du kannst dich zwar um moralisch einwandfreies Verhalten bemühen und absichtlichen geistigen Diebstahl unterlassen- aber gegen die unabsichtliche Verwendung von so genannten Lesefrüchten gibt es leider keinen sicheren Schutz – es sei denn, du schaffst dir dafür einen Sklaven an, der das für dich überwacht, was auch nicht besonders ethisch wäre.“
„Und die gute Nachricht?“
„Du musst alles, was du liest und erlebst verarbeiten – wie ein Regenwurm, der welke Blätter frisst und gute Komposterde ausscheidet. Dann wird es ein Teil von dir selbst.“
„Das klingt kompliziert!“
„Ist es auch. Deshalb müssen Prosaautoren zumeist ein wenig länger als Lyriker reifen. Sie müssen beobachten, lernen, nachdenken, erleben, träumen und leiden – bis genug Humus vorhanden ist, auf dem dann die ersten eigenen Gewächse gedeihen können.“
„Können die nicht trotzdem irgendwie ähnlich …“
„Nein, jeder Mensch ist einzigartig. Je persönlicher deine Geschichte ist, um so weniger besteht die Gefahr, dass sie der eines anderen gleicht.“
„Also muss ich jetzt meine ganzen Küchenabfälle …“
„Genau! Alles, was irgendwie nahrhaft sein könnte, gehört auf deinen geistigen Komposthaufen. Und bitte nicht ekeln! Auch schlimme Erfahrungen können von Nutzen sein.“
„Und du meinst, meine Beobachtungen interessieren die Leute?“
„Wenn du ehrlich bist, fleißig sammelst und das Richtige anpflanzt …“
„Hmmm!“
Also ich habe ein ziemlich miserables Gedächtnis und konnte mir in derSchule niemals Formeln, Geschichtszahlen oder Zitate korrekt merken. Ich musste es irgendwie verstehen, um es bei Bedarf neu erfinden zu können – und wo das wegen mangelnder Logik nicht möglich war, fantasievolle Eselsbrücken bauen. Ganz offensichtlich war ich nicht nur eine fleißige Sammlerin sondern auch ein guter Regenwurm – es lebe die Verdauung!

Fazit:

Manche Geschichten handeln von Grundkonflikten intelligenter Lebewesen und werden deshalb von vielen Autoren aufgegriffen. Es ist keine Schande, dazu eine ganz persönliche Variante zu erfinden.
Auf wissenschaftliche Erkenntnisse und Theorien kann kein SF-Autor ein Copyright beanspruchen. Es ist ganz natürlich, dass die aktuellen technischen Visionen in vielen Geschichten unterschiedlicher Autoren auftauchen.
Versehentliche Anleihen sind eher Unfälle als Verbrechen. Man sollte sie verzeihen – oder sich freuen, weil man mit seiner eigenen Arbeit so tiefe Spuren in einem anderen Menschen hinterlassen hat.
Dreisten Dieben und schamlosen Ausbeutern sollte man aus dem Weg gehen – oder, wenn das nicht geht, ihnen genau auf die Finger sehen und notfalls auch hauen.

© 2005 by Anneliese Wipperling

 

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