Bin ich das etwa?

Charaktere in der Literatur sind oft eine Mischung aus dem Autor selbst, seinen Bekannten und einer gehörigen Portion Fantasie. Aber manchmal sind sie einfach nur „dort draußen“ und warten auf den richtigen Autor …

Naive Zuschauer verwechseln gern den Schauspieler mit dem Charakter, den er gerade darstellt. Makellose Raumschiffcaptains ernten bei Conventions von den Fans oft mehr Beifall als der Schurke vom Dienst und der Unschuld vom Lande traut niemand im realen Leben eine umfängliche Sammlung von Liebhabern zu …
Auch Autoren werden zuweilen skeptisch angeguckt: Steckt da vielleicht doch eine kleine Serienmörderin drin? Sonst würde sie doch nicht so ein haarsträubendes Zeug schreiben! Dabei sieht die so harmlos aus … da merkt man mal wieder, wie sehr das Äußere täuschen kann! Von wegen dicke gemütliche Brandenburger Mami!
Mir ist das tatsächlich genau so passiert! Wie ihr seht, gibt es auch äußerst naive Leser. Aber Spaß beiseite … die Verwandtschaft zwischen dem Autor und seinen Charakteren ist tatsächlich ein interessantes Problem.

1. Die gute alte Mary Sue

Viele Kinder und Jugendliche haben Spaß am Schreiben von Tagebüchern und Gedichten. Andere denken sich vorm Einschlafen Geschichten aus, in denen sie besonders tapfer, erfolgreich oder glücklich verliebt sind. Die Fantasie hilft ihnen, dem grauen Alltag zu entfliehen und ihrer Persönlichkeit einen imaginären Wert zu verleihen, der ihren Rangordnungsplatz in der Realität weit hinter sich lässt. Solche Gedankenspiele können …  wenn man es nicht übertreibt und sich immer einen Rest Bodenhaftung bewahrt …  tröstlich und wohltuend sein. Im günstigsten Fall sorgen sie dafür, dass die betreffende Person tatsächlich über ihren eigenen Schatten springt und ein wenig vernünftiger, tapferer oder selbstloser wird.
Im schlimmsten Fall überwuchern solche Spinnereien die Sicht auf das richtige Leben. Solche Tagträumer werden von ihren Mitmenschen heimlich belächelt, wenn sie zum Beispiel ihre Kollegen oder Nachbarn für die Sternenflotte werben wollen. Letzteres und andere skurrile Hirngespinste findet man in dem hochinteressanten Dokumentarfilm „Trekkies“. Oh ja, einige Fans sind auf ihre harmlose und liebenswerte Weise richtig verrückt!
Weibliche Fans schreiben gern Geschichten, in denen sie ihrem Lieblingshelden begegnen, ihn aus großer Gefahr retten, ihn lieben oder gar heiraten. Damit nicht sofort auffällt, dass es sich eigentlich um ihre ganz persönlichen spät pubertären Träumereien handelt, bekommt das Alter Ego einen anderen Namen, ein neues wunderschönes Gesicht, eine hinreißende Figur und natürlich all die Tugenden und genialen Fähigkeiten, die man selbst liebend gern hätte … und nun kann es richtig losgehen! Eine neue Mary Sue …  Geschichte erblickt das Licht des Fandoms.
Männer schreiben per Definition keine Mary Sue, Männer schreiben Adventure … und wer sollte schon etwas Ehrenrühriges vermuten, wenn der heldenhafte unfehlbare Raumschiffcaptain seinem Autor wie aus dem Gesicht geschnitten ist! Schließlich geht es hier richtig handfest zur Sache: Überall explodiert etwas, Crewmen fliegen durch die Luft, fremde Planeten werden erobert und selbst Raumanomalien mutieren zu eher harmlosem Feuerwerk, dem der Held mit stolz geschwellter Brust trotzt. Nein, hier gibt es nicht die geringste Spur Schmalz oder Kitsch! Das muss man toternst nehmen! Tja, vielleicht sollte man diese knallharte Variante der Selbstverklärung einfach Freddy Bill nennen … schließlich ist das Eine so kindisch und unfreiwillig komisch wie das Andere.

2. Gibt es das auch bei richtigen Büchern?

Mit Sicherheit existieren jede Menge Romane und Geschichten, die Autobiografisches enthalten und manchmal mag da auch eine Spur Selbstbeweihräucherung im Spiel sein. Dennoch handelt es sich nicht um Mary Sue oder Freddy Bill. Es fehlen die angebeteten Seriencharaktere, die Sicht auf das eigene Leben ist scharf, realistisch … sogar selbstkritisch bis gnadenlos. Die Weggefährten des Autors sind keine Pappkameraden und werden nicht weniger ausführlich und liebevoll gezeichnet, Weltpolitik und Zeitgeist schimmern zwischen den Zeilen, der aufmerksame Leser kann echte Erkenntnisse tanken …
Letztendlich ist es egal, woher ein Autor seine Geschichten nimmt. Interessant müssen sie sein, lebendig, tiefsinnig, spannend, lustig … und das ist Mary Sue oder Freddy Bill in den seltensten Fällen, weil … ja weil das Ganze so ermüdend klischeehaft und unfrei ist … so oberflächlich, unehrlich und gnadenlos langweilig. Wunschträume sind halt immer mehr oder weniger platt und rosarot, das liegt in der Natur der Sache. Peinlich ist nur … nein, bis sich ein Fremder für eure ganz privaten Träumereien, Badezimmer und Hochzeitsfotos interessiert, ist es ein verdammt weiter Weg. Dazu muss man schon ein richtiger Promi sein … und auch da finde ich die Zurschaustellung ganz persönlicher Aspekte ziemlich fragwürdig. Big Brother lässt grüßen …
Ernst zu nehmende Autoren fördern zwar aus ihren eigenen Erlebnissen Geschichten und Charaktere zutage, schreiben vielleicht irgendwann eine Autobiografie … aber sie hüten sich, Mary Sue oder Freddy Bill eine Chance zu geben. Mag ja sein, dass sie sich auch ab und zu wie Normalbürger heimlich an kitschigen Fantasien weiden, aber so etwas aufschreiben und den geschätzten Lesern vorsetzen? Nein, da könnte man auch in aller Öffentlichkeit popeln oder Schlimmeres …

3. Das Phänomen García Marquez

Der kolumbianische Nobelpreisträger Gabriel Garcí­a Marquez sagte einmal, dass all seine Charaktere Teil seiner eigenen Persönlichkeit wären. Auch die Frauen! Nun, wenn er das wörtlich gemeint hätte, wäre er eine ungewöhnlich vielfältig gebrochene multiple Persönlichkeit. Aber nichts deutet darauf hin, dass der angesehene Autor als Kind traumatisiert wurde oder gar geisteskrank ist …
In Wirklichkeit meint er vermutlich, dass die Romanfiguren in seinem Geist ungewöhnlich fest verankert sind, ein zuweilen schwer kalkulierbares Eigenleben führen … kurz, für ihn hochgradig präsent sind … so, als wären sie tatsächlich Teil seines Selbst. Seine Autobiografie verrät, wie intensiv er in seinen Romanen Biografisches und Fiktives vermischt. Viele seiner Charaktere haben reale Vorbilder: Vorfahren, Familienmitglieder, Nachbarn, Freunde, Politiker. Marquez beleuchtet und scannt sie von allen Seiten, schneidet sie auf … übertreibt und mystifiziert, bis es eine wahre Lust ist, sie agieren zu sehen.
Jeder Mensch wird auch durch seine Umgebung geprägt, insofern ist sie auch ein Teil der eigenen Persönlichkeit. Ein omnipotenter Schöpfer … das klingt sehr zwar beeindruckend und trägt zur Legendenbildung bei … aber bei all meiner Verehrung für den lateinamerikanischen Meister der Fabulierkunst: Hier hat er wohl ein klein wenig übertrieben.
Seine Mitmenschen genau zu beobachten und gründlich zu analysieren ist eine legitime Möglichkeit, um an realistische Charaktere zu kommen. Dazu braucht man vor allem Objektivität, Aufmerksamkeit, Menschenliebe, einen scharfen Blick für die richtigen Einzelheiten, Sinn für das Wesentliche … und nicht zuletzt gewisse Grundkenntnisse der Psychologie. Allerdings sind all diese guten Voraussetzungen keine Garantie dafür, dass ein Charakter wirklich zum Leben erwacht. Hier ist altmodisches Talent gefragt, ein göttlicher Lebensfunke … also doch ein Teil des Autors.
Insofern hat Gabriel García Marquez am Ende recht: Die Romanfiguren sind ganz und gar sein, weil es ihm auf meisterhafte Weise gelungen ist, sie in sich aufzunehmen, zu verdauen, zu verwandeln und ihnen am Ende einen Teil seiner Lebenskraft zu schenken. Es bleibt geheimnisvoll …

4. Honore Balzacs Credo

Balzac war der Meinung, dass ein intelligenter Mensch so ziemlich alles verstehen könne … auch die schlimmsten Verbrechen. Sicher, ein klarer Verstand kann mithilfe von Logik und Erfahrung dem filigranen Geflecht aus Ursache und Wirkung nachspüren, verborgene Leidenschaften und seelische Missbildungen diagnostizieren, eins und eins zusammenzählen … und so auch ohne direkte Vorbilder plausible runde Charaktere hervorbringen. Bestimmte Grundtypen tauchen in unzähligen Abwandlungen immer wieder auf: der einfache Krieger, die Salonschlange, der Messias … oder eben der coole Raumschiffcaptain. Manche Charaktereigenschaften passen zusammen, andere wieder nicht.
Ich habe festgestellt, dass es im Zweifelsfall nützlich sein kann, eine fiktive Figur wie einen Patienten auf die Couch zu legen. Wie steht es mit Charakterorientierung, Liebesfähigkeit, Narzissmus und Destruktivität? Wie ist die emotionale Reife zu beurteilen? Ist dieser alte Politiker womöglich in Wirklichkeit dreijährig? Oder der strahlende Messias ein nekrophiles Monster, das für seine abstrakten Ideen die ganze Welt brennen sehen will? Wie steht es um formale Logik und emotionale Intelligenz des Helden? Um seine innere Freiheit …
Wer keine Psychologiebücher lesen mag, kann es mit Leitfäden für Manager oder Ratgebern wie „Simplify your Life“ versuchen … meinetwegen auch mit Astrologiebüchern, denn auch dort findet man interessante Grundtypen mit zusammenpassenden Eigenschaften.
Bei der Konstruktion eines Charakters gibt es so verdammt viel zu bedenken, dass man davon Kopfschmerzen bekommen kann! Es ist wirklich harte Arbeit, so etwas komplett am Reißbrett zu basteln. Ich habe es versucht, aber es hat bei mir nur mäßig gut funktioniert. Die meisten dieser Kreationen musste ich am Ende in fiesen Raumanomalien verschwinden lassen, weil ich es bis oben hin satt hatte, dauernd darüber nachdenken zu müssen, wie sie sich wohl in dieser oder jener Situation verhalten würden …
Nee, ich bin kein Balzac und ich verstehe auch nicht alles. Zum Glück gibt es jedoch eine dritte Möglichkeit, gute Charaktere aufzuspüren. Wenn man sie erst für sich rekrutiert hat, kann man sie immer noch in aller Ruhe beobachten und analysieren … vorausgesetzt, sie lassen es sich gefallen.

5. Die da draußen

Der italienische Autor Luigi Pirandello hat die da draußen in seinem Stück „Sechs Personen suchen einen Autor“ thematisiert. Als ich es zum ersten Mal las, war ich von dem schrägen Konzept zutiefst beeindruckt … Charaktere, die außerhalb des Bewusstseins im Nirgendwo herumirren und verzweifelt nach jemandem suchen, der ihnen zuhört und ihnen zu einer richtigen Existenz verhilft. Natürlich hielt ich das Ganze nur für einen Gag …
Inzwischen schreibe ich selbst Geschichten … und fand nach diversen Versuchen und Irrtümern allmählich heraus, dass es tatsächlich eine Art Meer der verlorenen Seelen gibt, in dem allerlei interessante Leute herumschwimmen. Sie zeigen sich offenbar nur Autoren, die ihnen sympathisch sind und denen sie in ausreichendem Maße vertrauen. Es scheint in diesem imaginären Biotop auch eine Art „Buschfunk“ zu geben, denn nachdem der Erste bei mir siegreich auf der Matte stand …  er hatte mein ganzes Konzept souverän über den Haufen geschmissen …  fanden sich nach und nach seine besten Kumpels ein, inspizierten neugierig das Gelände und bauten mit großer Selbstverständlichkeit ihre Zelte auf.
Diese Fremden sind zumeist empfindlich, dickköpfig und impertinent selbstbewusst. Wenn es nicht nach ihrer Nase geht, murren sie vernehmlich oder verschwinden grußlos im Nirvana. Eine gute Freundin von mir sagte einmal, sie könne nicht weiter schreiben, weil all ihre Leute beleidigt in den Ecken sitzen und fauchen würden. Oh ja, ich kenne das nur zu gut: Alles, was ich probiere, schmeckt nach Pappe und langweiligem Geschwafel … so genannte „Zwischenstücke“ , in die ich verzweifelt allerlei mehr oder weniger sinnlose Informationen stopfe und die ich irgendwann per Mausklick von meiner Festplatte putzen muss, weil meine Charaktere sich vornehm heraushalten, abfällig grinsen oder ganz offen streiken.
Irgendwann gebe ich den Widerstand auf, sehe ein, dass ich auf dem falschen Weg war …  dass meine Pläne nicht mit meinen Figuren kompatibel waren …  und plötzlich läuft es wieder prächtig. Wenn auch in eine merkwürdige von mir nicht einmal ansatzweise geplante Richtung. Es macht übrigens wenig Sinn, sich über eigenwillige Charaktere aufzuregen, die sozusagen ehrenamtlich mitarbeiten. Wie bei allen milden Gaben ist eine andere Reaktion als Dankbarkeit völlig undenkbar, sonst würden die Kumpels sofort … siehe oben.

6. Wie stellt man den Erstkontakt her?

Offen gestanden weiß ich das nicht so genau. Wahrscheinlich beobachten sie uns Autoren die ganze Zeit … prüfen die Kreativität, die Nachgiebigkeit, den Humor … politische und moralische Ansichten und Werte und dann …
„Hmmm. Ich kann viel Macht haben und darf sogar ein bisschen zaubern …“
„Und ich freue mich auf jede Menge Kinder!“
„Ich werde ein toller Liebhaber!“
„Ja und mich lässt sie einen ganzen Planeten retten …“
„Die Angebote sind wirklich attraktiv …“
„Und wenn sie uns genug Freiheit lässt, sodass wir richtig loslegen können …“
„Ja, Brüder! Wir wollen ins Heyla …  Universum!“
Und schon habe ich die Typen an der Backe.

7. Und die haarsträubenden Sachen?

Nicht alle Fremden sind nett. Gerade die Schurken können extrem rücksichtslos und fordernd auftreten, das liegt so in ihrer Natur. Ich hatte schon eine rachsüchtige Erziehungsministerin mit den Allmachtsfantasien eines Kleinkindes, einen soziopathischen Mörder, der seine Geschichte unbedingt selbst erzählen wollte (noch heute läuft es mir beim bloßen Gedanken daran eiskalt über den Rücken) und dann all die Bestien aus der Vorzeit! Ich musste diese fiesen Typen jedes Mal schnell wie möglich aus dem Verkehr ziehen, sonst hätten sie mir alles von oben bis unten mit Blut und Dreck beschmiert. Das konnte ich unmöglich zulassen …  schließlich beabsichtige ich nicht, Bettlektüre für Sadisten zu produzieren oder unschuldige Jugendliche zu verderben …
Nein, Temo und Kah’Lursa sind keine Bestandteile meiner Persönlichkeit … und ich selbst würde auf so manches, was sie fabrizieren, gar nicht kommen! Aber so ein fremder Bösewicht … es wäre unlogisch ihn wegzuschicken, denn ich kenne seinen immensen Wert. Er ist das Salz in meiner Suppe … der Kristallisationskeim, um den sich die ganze Geschichte wie von selbst entwickelt … der Prüfstein, an dem sich wahre Helden beweisen müssen.
Natürlich muss ich höllisch aufpassen, dass die Schurken niemals das letzte Wort haben, dass sie mit ihrer inhumanen Message nicht davonkommen, dass am Ende doch die Guten siegen. Und wenn einer meint, das wäre Kitsch und man müsste den dunklen Gesellen ebenso wie in der Wirklichkeit freie Hand lassen …
Nein, Freunde! Ihr habt ja keine Ahnung, wie stark und gefährlich die sind! Wie wild sie sich jeder Veredelung und Mäßigung widersetzen … wie sie unerlaubt immer weiter herummetzeln! Wie sehr sie es genießen, dass ich so gut wie keine Macht über sie habe! Aber zum Glück muss ich sie gar nicht selbst in Schach halten: Meine tapferen Krieger tun das freiwillig für mich und das Gesindel hat niemals wirklich eine Chance …

Fazit:

Wie viel vom Autor steckt in seinen Figuren? Häufig weniger, als der Leser glaubt … und wie sollte es auch anders sein? Nur wer viel erlebt und das auch noch ungewöhnlich genau beobachtet hat, kann genug interessante Geschichten aus dem eigenen Leben schöpfen. Mary Sue und Eddy Bill sind zumeist hemmungslos geschönt und das bedeutet, dass die Hauptfigur ziemlich wenig mit dem Schreiber gemeinsam hat.
Viele Autoren nutzen Verwandte, Bekannte und Freunde als Vorlage und manche entwerfen ihre Charaktere wie ein Ingenieur eine Maschine. Andere vertrauen eher auf Hilfe von außen. Vermutlich gibt es für jeden Autor eine optimale Methode … was zunächst gar nichts über die Qualität der Geschichten und ihrer Figuren aussagt.
Der Leser weiß normalerweise nicht, wie ein Autor arbeitet …  es sei denn, er verrät es ihm …  und wenn er es an den Texten problemlos ablesen kann, zeugt das von unsäglicher geradezu peinlicher Stümperei! Dann sind nämlich die Charaktere schlampig konstruiert, der Blick auf die Mitmenschen durch stupide Vorurteile vernebelt oder die Kooperation mit denen da draußen von Misstrauen und Feindseligkeit geprägt …

(C) Anneliese Wipperling, 2005

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