Die Missionare sind unter uns

Ein Missionar ist so sehr von der Richtigkeit seiner Ansichten und Werte überzeugt, dass er jederzeit bereit ist, sie seinen Mitmenschen überzustülpen. Jeder Künstler muss sich gegen sie wehren, wenn er seine Eigenständigkeit bewahren will. Doch wie erkennt man die Missionare unter uns – und vor allem: Wie wappnet man sich gegen sie?

Ich erinnere mich noch, wie es kurz nach der Wende war. Da klingelte es recht oft zu Zeiten, wo ich keinen Besuch erwartete. Meist war ich nicht präsentabel angezogen, gab mich gerade einer ausführlichen Sitzung auf der Toilette hin oder das Essen brutzelte und bedurfte meiner vollen Aufmerksamkeit. Wenn ich dann etwas unwillig nachschaute, wer der Störenfried war, stand ein Fremder vor der Tür.
Die „Ernsten Bibelforscher“ waren meist ältere Frauen oder Männer vom Kittelschürzentyp. Okay, Männer tragen keine Kittelschürzen, aber irgendwie gibt es Typen, denen würden sie auch stehen. Jedenfalls tragen sie ebenso wie manche Frauen sehr selbstbewusst einen „Nicht-Sexappael“ vor sich her.
„Seht, wir sind jenseits von Gut und Böse! Wir dienen dem Herrn oder der Reinlichkeit …  oder sonst irgendeiner heiligen Pflicht.“
Die Kittelschürzentypen habe ich immer gern abgewimmelt, indem ich mich besonders gottlos gab. Wahrscheinlich beten einige von ihnen immer noch für das Heil meiner Seele.
Dann gab es noch die korrekt schwarz gewandeten Jünglinge von irgendwelchen amerikanischen Sekten. Die traten in Rudeln auf und sahen nicht so aus, als würde man sie leicht erschrecken können, sodass ich lieber wortlos die Tür vor ihren bleichen spitzen Nasen zugeknallt habe.
Es dauerte eine Weile, bis ich verstand, dass manche Staubsaugervertreter auch Missionare sind, ebenso wie gewisse Versicherungsagenten, Agitatoren an Infoständen von Parteien und Organisationen und … und … und …
Ja, das ist alles ziemlich offensichtlich und deshalb leicht abzuwehren.
Was aber, wenn ein guter Freund oder ein geschätzter Kollege sich als Missionar entpuppt?
Was für Optionen gibt es da?
Wie entkommt man denen am besten?
Und was zum Kuckuck hat das mit dem Schreiben zu tun?
Ihr werdet schon sehen!

1. Die Grundausstattung

Ein Missionar ist ein fühlendes und/oder denkendes Lebewesen (nur für den Fall, dass es da draußen auch Aliens gibt), das sich unlogischerweise im Besitz der alleinigen Wahrheit wähnt und das dringende Bedürfnis verspürt, andere Lebewesen zu seinen heiligen Weisheiten zu bekehren.
Dabei ist es egal, ob es sich um das beste Buch oder den besten Film aller Zeiten, die einzigen lebensverlängernden Pillen, den gründlichsten Staubsauger im Universum oder eben den wahren Gott handelt.
Jeder Missionar erwartet, dass du alles stehen und liegen lässt, deinen bisherigen Hausrat und deine eigenen heiligen Bücher in den Müll schmeißt und zum gläubigen demütigen Jünger der neuen Lehre konvertierst.
Wenn du dazu nicht bereit bist und es nicht schaffst, ihm rechtzeitig die Tür vor der Nase zuzuknallen, steht dir ein endloser verbaler Kampf bevor, den du auch mit noch so guten Argumenten nicht gewinnen kannst.
Missionare sind immer äußerst redegewandt, ohne ihrem Gegenüber jemals ernsthaft zuzuhören. Sie nehmen das Missionierungsobjekt nicht als (gleichwertige) Person wahr und lauern nur auf kleine Ungereimtheiten in dem, was es sagt, um sofort einhaken und einen ihrer vorgefertigten Monologe abspulen zu können.
Missionare treffen manchmal auf Seelen, die nach geistiger Führung dürsten. Das sind ihre Sternstunden, wo sie zu Hochform auflaufen und die neuen Schäflein jubelnd der eigenen Herde zuführen können.
Bei Menschen bzw. Lebewesen mit ausgeprägter eigener Identität erregen Missionare eher Unbehagen und Ablehnung bis hin zu massiver Feindseligkeit.
Wahrscheinlich ist dies der Grund, weshalb früher so viele Missionare in den Mägen von Kannibalen gelandet sind oder besonders unangenehme Todesarten erleiden mussten.
Das ist eben Berufsrisiko.
Die heutigen Staubsaugervertreter und Gurus haben es da leichter, weil die Menschheit zivilisierter geworden ist und weil es inzwischen eine Menge Vegetarier gibt.
Andererseits steht den Missionaren von heute keine mächtige Inquisition mehr zur Seite, die ihnen durch das Foltern und Verbrennen der Ungläubigen wenigstens zu Lippenbekenntnissen und Scheinerfolgen verhelfen kann. Und die für jeden verspeisten Missionar hundert Eingeborene auf kleinem Feuer rösten lässt.
Ich fasse, damit ihr die Heidenbekehrer besser erkennen könnt, noch einmal zusammen: Der typische Missionar ist begeistert, äußerst redegewandt und völlig resistent gegenüber Argumenten. Man erkennt ihn an einem besonders seelenvollen oder eindrucksvoll glitzernden Blick. Und er mag es gar nicht, wenn man ihm widerspricht.

2. Wie wird man eigentlich Missionar?

Nun, in der Jugend neigen wir fast alle ein wenig dazu. Die naive Unkenntnis über die Schlampigkeit der realen Welt …  oder die Scham und der Zorn über diesen unwürdigen Zustand …  lässt uns von Reinheit und purem Licht träumen.
Wäre es nicht toll, wenn unsere liebsten Popikonen auf allen Kanälen trällern würden oder im Fernsehen überall Star Trek Nonstop laufen würde?
Wenn es z. B. nur noch gut gebaute Weiße gäbe?
Oder engelhafte Musikschülerinnen den Geigenbogen schwingen würden?
Kinder und Teenager kennen nur Schwarz und Weiß, Sie haben Hasslisten für Feinde aller Art: Andersdenkende, Leute mit den falschen Klamotten, der falschen Hautfarbe, dem falschen Musikgeschmack.
Aber Kinder und Jugendliche sind normalerweise keine Missionare, weil sie selbst machtlos sind und der Hass ziemlich unartikuliert in ihnen brodelt.
Allerdings können sie leicht dazu missbraucht werden.
Als Kind war ich eine Zeit lang gläubig und da ich die Sache mit Fegefeuer und Hölle für real hielt, war ich sehr besorgt um das Seelenheil meiner Eltern. Die ließen allerdings meinen missionarischen Eifer ins Leere laufen und amüsierten sich köstlich über meine lauten Abendgebete und vor allem meine Gesänge.
Dazu muss man wissen, dass ich so unmusikalisch bin, dass bei Notendiktaten außer dem Notenschlüssel alles falsch war. Wenn ich nicht so einen gutmütigen Musiklehrer gehabt hätte, der mir reichlich Gelegenheit gab, meine Fünfen zu kompensieren … aber ich schweife ab.
Jedenfalls brauchte ich, nachdem mein christlicher Glaube wegen des naturwissenschaftlichen Unterrichts nicht mehr richtig lebensfähig war, etwas Neues, woran ich mich festhalten konnte. Was konnte das anderes sein, als die wissenschaftliche Weltanschauung der großen Vordenker Marx, Engels und Lenin.
Ja, ich denke, damals war ich auch eine Missionarin und meine weniger perfekt indoktrinierten Mitschüler hätten mich vielleicht auch ganz gern gebraten. Natürlich war ich eine Nervensäge, aber die Staatsmacht stand hinter mir und machte mich stark.
Allerdings war ich nicht wirklich für diesen Beruf geboren, denn ich schaffte es genau wie beim ersten Mal (ihr wisst schon, meine fromme Phase) wieder nicht, alles, was mich vom „wahren Weg“ abbringen konnte, konsequent auszublenden.
Das Ergebnis war die neuerliche Sünde des Zweifelns …  nur dass es diesmal ein wenig leichter war, weil mir, solange ich den Mund hielt, nichts passieren konnte.
Ganz im Gegensatz zu Hölle und Fegefeuer, die einem …  weil Gott per Definition alles merkt …  schon für ketzerische Gedanken blühten.
Die Creme de la Creme in der DDR war der Meinung, dass die sozialistische Moral nur für das Fußvolk galt, predigten Wasser und soffen Wein …  bzw. priesen die sozialistische Produktion und trugen schamlos Westklamotten. Ja, sie tranken sogar Nescafé und knabberten Ritter Sport, wie eifrige Müllforscher in Wandlitz herausfanden.
Wahrscheinlich bin ich zu kleinlich und nicht demütig genug, um solche Privilegienwirtschaft gutheißen zu können und ich mag auch keine strukturellen Ungerechtigkeiten.
Jedenfalls gingen mir schon lange vor der Wende, viele wichtige Eigenschaften eines Missionars verloren: Überzeugungskraft, Begeisterung, Standhaftigkeit …  und jenes Maß an Engstirnigkeit, ohne das man sich gar nicht erst ins Gefecht wagen sollte.
Weshalb ich euch das erzähle?
Nun, in einem bestimmten Alter kann man leicht zum Handlanger gewisser Rattenfänger werden. Später gibt es dafür eigentlich keine Rechtfertigung mehr.
Erwachsene Missionare sind entweder Heuchler, die entgegen ihrer zur Schau gestellten Selbstlosigkeit handfeste Vorteile anstreben, oder sie sind aus den verschiedensten Gründen nicht zu kritischem Denken fähig.
Möglicherweise zwingt sie ihr Narzissmus dazu, nur die eigenen geistigen Ergüsse für bedeutsam zu halten, oder sie sind in ihrer emotionalen Entwicklung im Teenageralter steckengeblieben. Manchmal mag auch ein niedriger Intelligenzquotient im Spiel sein.
Auf jeden Fall können Missionare gefährlich sein …  entweder, weil sie unsere Geldbeutel schröpfen, indem sie uns zu unsinnigen Einkäufen verführen oder weil sie uns die geistige Freiheit und damit einen Teil unserer Persönlichkeit stehlen.
Wenn es um Religionen oder Ideologien geht, kann der Kontakt mit Missionaren sogar lebensgefährlich sein.

3. Was passiert, wenn man dem nachgibt?

Seelisch und geistig wenig gefestigte Menschen sind vermutlich ganz froh, wenn jemand ihnen die Welt erklärt und sie schlucken auch viel lieber geistiges Fastfood, statt selbst zu denken.
Selber Denken verursacht schließlich nur unnötige Konflikte …  mit den Eltern, dem Partner, der Clique …  oder dem sozialen Biotop, in dem man sich gerade wohl fühlt oder wo man gern dazugehören möchte.
Viele merken nicht einmal, wie sehr ihr Geist verstümmelt und verbogen wird, dass ihnen Jazz eigentlich lieber ist als Beethoven, dass sie mit abstrakter Malerei nicht wirklich etwas anfangen können …  und dass sie den schwarzen Asylbewerber nicht abscheulich sondern interessant und sexy finden.
Sie sind irgendwann einem Missionar gefolgt, der sie zu seiner Herde geführt hat, und können sich nicht vorstellen, diese kuschelige Gemeinschaft Gleichgesinnter aufzugeben.
Gemeinschaften, die aus freien Individuen bestehen, sind nämlich niemals so stromlinienförmig. Da treten schon mal heftige Meinungsverschiedenheiten auf, da wird gestritten, bis ein für alle akzeptabler Kompromiss gefunden ist …  oder bis alle eingesehen haben, dass beide Meinungen ihre Berechtigung haben, weil es gar keine absolute Wahrheit gibt.
So, wie das Licht als Welle und als Teilchen beschrieben werden kann.
Für die Missionare ist so etwas natürlich ein Graus!
Und auch für seine Schäfchen, die sich nach geistiger Führung sehnen.

4. Und wie wehrt man sich am besten?

Ja, das kommt darauf an. Vertreter für Staubsauger, Religionen und Versicherungspolicen lässt man am besten gar nicht erst rein …  und wenn sie den Fuß in den Türspalt stecken, darf man kräftig drauftreten, denn so etwas ist Hausfriedensbruch.
Schlimmer ist es, wenn die Missionare zur Familie oder zum Freundeskreis gehören, denn da bestehen emotionale Bindungen, die leicht ausgenutzt werden können.
Solche Übergriffe fangen schon mit scheinbaren Kleinigkeiten an.
„Hast du Buch oder Film XY schon gesehen? Das musst du unbedingt! Schließlich gibt es keinen besseren Autor oder Regisseur auf der Welt!“
Oder eine Doktrin: „Es ist wichtig, seine Gefühle jederzeit herauszulassen. Jede Art der Selbstkontrolle ist unnatürlich.“
Oder eine abschätzige Bemerkung: „Alle Menschen sind Soziopathen. Bilde dir nur nicht ein, dass du normal bist. Normalität gibt es in Wirklichkeit gar nicht.“
Da ließen sich natürlich noch unendlich viele andere Aussagen finden, die darauf abzielen, dass man seine Vorlieben oder Wertvorstellungen beiseiteschieben und sich dem selbst ernannten Guru unterwerfen soll.
Die erste Bemerkung ist scheinbar harmlos …  aber sie diskreditiert in ihrer Absolutheit deinen eigenen Geschmack und signalisiert, dass der Freund oder Verwandte deine Vorlieben für irrelevant hält. Sicher ist hier oft viel Begeisterung im Spiel, aber je absoluter der Lobpreis der eigenen Favoriten ausfällt, um so misstrauischer sollte man sein.
Die ganze Sache wäre völlig harmlos, wenn dein Gegenüber sich erst nach deinen neuesten Lese- und Kinoerfahrungen erkundigt, deinen Schilderungen aufmerksam zuhört und dann eventuell sagt: „Das klingt sehr interessant und vielleicht lese ich das tolle Buch irgendwann oder schau mir Film XY an, solange er noch im Kino läuft …  aber weißt du, da hat mir kürzlich auch etwas ganz großartig gefallen. Möchtest du dir die DVD oder das Buch eventuell ausleihen?“
Das ist ein Austausch auf Augenhöhe, wie er fairer nicht ablaufen könnte.
Vielleicht hilft es, den missionierenden Freund darauf aufmerksam zu machen, dass ein wenig ausgleichende Gerechtigkeit das Gespräch beleben und der Freundschaft gut tun würde. Dass Zuhören genauso wichtig wie Reden ist.
Vielleicht steckt ja keine böse Absicht hinter dem alles niederwalzenden Redeschwall. Vielleicht ist ja ein dominanter Bruder, der deinen Freund nie zu Wort kommen ließ, daran schuld, dass er andere nicht ausreden lässt. Oder er ist zu nervös, um sich auf sein Gegenüber konzentrieren zu können.
Ob sich das im Gespräch klären lässt, hängt von der Situation und den Beteiligten ab.
Jedenfalls darf man sich Bevormundung nicht gefallen lassen, sonst wird sie zur Gewohnheit und vergiftet die Beziehung. Kommt es zu spät zum Streit, kann der sehr leicht eskalieren. Bei Freunden, die dauerhaft darauf bestehen, den Missionar zu spielen, ist ein ausreichender Sicherheitsabstand angebracht.
Ich weiß, das hört sich leichter an, als es ist …
Scheinbar beiläufige Übergriffe auf Wertvorstellungen wiegen allerdings bedeutend schwerer als das hochmütige Anpreisen der eigenen Vorlieben.
Wie soll jemand, dem es wichtig ist, in jeder Situation seine Würde zu wahren, es verstehen, wenn ihm gesagt wird, dass Borderlinepatienten die besseren Menschen und „die draußen“alle krank wären?
Ist das nicht ein derber Schlag ins Gesicht? Ein offener Angriff auf seine Wertvorstellungen?
Letztendlich ist es doch egal, ob jemand cool sein will, weil er Vulkanierfan ist …  oder ob er als Kind gern Indianerbücher gelesen hat.
Die stolze Geste hilft diesem Menschen beim Überleben. Er könnte sich selbst nicht mehr in die Augen sehen, wenn er in einem Konflikt mit Schreien, wildem Herumfuchteln oder Grimassen reagieren würde. Es steht ihm zu, jeden in die Schranken zu weisen, der ihn, wie auch immer, dazu verleiten will, sich undiszipliniert und würdelos zu verhalten …  und denjenigen, der das schafft, wenigstens zeitweise ein bisschen zu hassen.
Was hier abläuft, ist destruktiv und sehr gefährlich. Es kann aus Freunden erbitterte Feinde machen …  und wahrscheinlich sogar zu Mord und Totschlag führen.
Zumal eine unsensible dominante Haltung des einen Gesprächspartners zu entsprechend heftigen und ebenso unfeinen Gegenreaktionen führt. Am Ende ist gar nicht mehr feststellbar, wer mit dem Blödsinn angefangen hat.
Aber was tun, um das Schlimmste zu verhindern?
Jedes Mal sofort reagieren, wenn die eigene Identität angekratzt wird?
Aber manchmal ist einem selbst nicht klar, weshalb man plötzlich so verärgert ist.
Sich ein Stück zurückziehen, um Verletzungen zu entgehen?
Beziehungen, die mehr Schmerz und Frustration als gegenseitige Bereicherung bringen, einfach abbrechen?
Und was ist, wenn man den Anderen sehr mag …
Ach, Freunde, das weiß ich doch selbst nicht …  und wahrscheinlich gibt es gar kein Rezept gegen die Übergriffe der Missionare und die Einbuße an Lebensfreude, die solche Gespräche mit sich bringen …
Passt trotzdem auf, dass euch niemand verbal überrollt.

5. Und die Literaten

Unter Künstlern gibt es besonders viele Missionare und Gurus. Das liegt in der Natur der Sache, weil schon ein dickes Ego nötig ist, um ein Werk zu vollenden und sich damit an die Öffentlichkeit zu wagen.
Die einen folgen Vorbildern oder gehören zu Schulen und Gruppen …  pflegen einen ganz bestimmten … Ismus.
Die anderen haben sich bestimmte Ansichten und Fertigkeiten mühsam erarbeitet und wollen sich das auf keinen Fall kaputtmachen lassen.
Anders ausgedrückt: Ein fettes Ego und ein bisschen Narzissmus sind für einen Künstler lebensnotwendig, sonst kann er seinen Weg nicht aufrecht gehen. Zuviel davon ist jedoch schädlich, weil er dann auf seine eigene Innenwelt zurückgeworfen wird und Fehler nicht mehr korrigieren kann.
Wieder so eine verdammte Gratwanderung!
Jedenfalls erklärt das, warum Künstler aller Art manchmal auch dann, wenn sie von der Persönlichkeitsstruktur her gar keine Missionare sind, aggressiv und streitlustig reagieren. Das kommt daher, dass ihre Ideen zur Substanz ihrer Persönlichkeit gehören und ein Angriff darauf unter Umständen nicht weniger bedrohlich wirkt, als ein gezücktes Messer.
Andererseits spielen persönliche Eitelkeit und Rangordnungsgebaren in diesem Biotop eine besonders wichtige Rolle. Da wird gekräht, bis die Trommelfelle der Zuhörer platzen, da werden knallbunte künstliche und dezent gemusterte echte Federn um die Wette gespreizt, da werden die eigenen Texte schamlos hochgejubelt und die Arbeiten des vermeintlichen Gegners mit Krallen und Zähnen zerrissen.
Leider ist der Wert von Kunst nicht wirklich messbar, was dazu führt, dass die Protagonisten sich gegenseitig in schamloser Eigenwerbung und wildem Gemetzel überbieten.
Literatenfreundschaften sind kompliziert, das habe ich mehrmals am eigenen Leib erfahren müssen. Manche Freundschaft dauert nur solange an, wie man sich vom „großen Meister“ missionieren lässt.
Andere sind von Neid und unterschwelligem Hass vergiftet.
Am ehesten funktionieren noch Freundschaften unter etwa gleich starken Kollegen …  und auch das nur, wenn sich die Beteiligten ganz bewusst um Fairness bemühen.
Wenn das gelingt … ich kann nur sagen, dass es nichts Schöneres und Inspirierenderes gibt, als Künstlerfreundschaften auf Augenhöhe.
Deshalb ist es so wichtig, den Missionaren das Handwerk zu legen.
Und den Anfängen zu wehren.

Fazit

Ein Missionar ist so sehr von der Richtigkeit seiner Ansichten und Werte überzeugt, dass er jederzeit bereit ist, sie seinen Mitmenschen überzustülpen …  notfalls auch mit Gewalt.
Er reagiert mit Wut und Hass, wenn man ihm Einhalt gebietet.
Sobald hinter dem Missionar eine reale Macht steht, kann er sehr gefährlich werden.
Vorsicht ist bei persönlichen Beziehungen geboten, weil es besonders schwer ist, sich gegen jemanden zu wehren, den man kennt oder gar liebt.
Wenn Künstlerfreunde es schaffen, ihre Eitelkeit und ihren Narzissmus zu zügeln und auf das Missionieren weitgehend zu verzichten, können sie etwas unglaublich Schönes erleben: die überaus fruchtbare Begegnung Gleichgesinnter auf Augenhöhe.

© 2008 by Anneliese Wipperling

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