Mira

Eine junge Frau verliert ihre geliebte Katze. Aber bald nach dem tragischen Tod ihrer vierbeinigen Freundin geschehen Dinge, die sie sich nicht erklären kann …

 Mystery-Kurzgeschichte von Adriana Wipperling 

Am 13. Oktober war der Himmel strahlend blau, aber für mich und meine Familie war es ein schwarzer Tag. Nicht Freitag der dreizehnte. Trotzdem wurde eine meiner schlimmsten Ängste wahr.

An diesem Tag habe ich Mira verloren.

Die Nacht ihrer Beerdigung war sternenklar, ein fast voller Mond tauchte den Garten in ein weiches, fahles Licht.

Eine herrliche Nacht. Und eiskalt.

Meine Mutter heulte ungeniert, nahm ihre Brille ab, um sich die Augen abzutupfen. Mein Freund umklammert meine Hand so fest, dass es beinahe weh tat. Mit der anderen Hand wischte er sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. Das kam bei ihm einem Gefühlsausbruch gleich.

Schweigend pflanzte ich drei gelbe Stiefmütterchen auf Miras Grab. Eine Laterne mit grünen Glasfenstern spendete mir etwas Licht, die Kerze flackerte unruhig, obwohl es völlig windstill war. Ich ließ sie die ganze Nacht brennen. Mira hat grün so geliebt.

„Tschüß, Mi!“ schniefte meine Mutter. „Du warst uns eine wunderbare Freundin!“

Das war sie wirklich. Vierzehn Jahre lang.

 

Ich erinnere mich noch genau, ich war acht Jahre alt, kam von der Schule, Mutti strahlte mich an und sagte: „Hallo, mein Spätzchen –  guck mal, wir haben Besuch!“

Besuch? Wer konnte das sein? „Wo?“ fragte ich und sah mich mit großen Kulleraugen im Raum um.

„Schlafzimmer“, antwortete meine Mutter mit einem verschmitzten Lächeln.

Besuch? Im Schlafzimmer? Jetzt war ich erst recht neugierig!

Ich verlor meinen Rucksack und meine Schuhe irgendwo im Wohnzimmer und lugte vorsichtig durch den Türspalt.

Ich hatte alles Mögliche erwartet –  aber nicht das! Auf Muttis Bett lag ein halbwüchsiges grau getigertes Kätzchen mit eingeschlagenen Vorderpfötchen, den Schwanz wie eine Schnecke eingerollt, und sah mich aus großen grünen Augen aufmerksam an. Das waren die intelligentesten Augen, die ich je bei einem Tier gesehen habe! Die Katze schien mich auf den ersten Blick zu durchschauen, jedes Wort zu verstehen. Natürlich täuschte ich mich. Oder etwa nicht?

„Och süüüüß, ne Miez!“ quietschte ich begeistert.

„Sie ist den Maiers aus dem Lilienweg zugelaufen“, erklärte meine Mutter. „Aber die haben einen Hund und der mag keine Katzen. Da standen sie nun vor unserer Tür, die Miez auf dem Arm … haben sich erinnert, dass ich gern eine Katze hätte … ich wusste nicht, was ich machen sollte. Eigentlich kam mir das Ganze ein bisschen plötzlich … Aber dann kletterte die Miez auf meine Schulter und fing sagenhaft laut an zu schnurren. Sei mal ehrlich: Wie soll man da widerstehen?“

Kann man nicht.

„Sie heißt Mira“, fuhr Mutti fort. „Aber ich nenne sie gerne Mi. Irgendwie weiß ich, das gefällt ihr.“

Ich streckte meine Hand aus und ging langsam auf sie zu. „Hi Mi, ich bin Andrea.“

Sie musterte mich wieder mit diesem unglaublich durchdringenden Blick und schnupperte interessiert an meiner Hand. Auf einmal räkelte sie sich, machte einen Katzenbuckel, gab ein leises „Miiiii!“ von sich und fing an, ihre weiche pelzige Wange wie in Trance an mir zu reiben.

„Sie mag dich“, stellte Mutti zufrieden fest. „Sie mag dich sogar sehr!“

So hinreißend, so zärtlich! Ich erkannte, dass sie nicht einfach grau getigert war, sondern orangerote Pfötchen hatte. Und zwei kleine rote Flecken zwischen den Ohren.

Dieses Schnurren! Mutti hatte recht, es war wirklich sagenhaft! Ich schlag meine Arme um Katze und rieb nun meine Wange an ihrem Fell.

Von wegen „Besuch!“ Meine Mutter hätte besser „Familienzuwachs“ sagen sollen!

 

Unsere Familie war nicht länger vollständig.

Das Leben ging weiter, aber es wirkte substanzlos und fad auf mich. Schon das Frühstück war öde, ohne Katze, die mir die Leberwurst vom Brot leckte.

Ich fand die Lederjacke wieder, die Mira auf dem Gewissen hatte. Die neueste Mode und pflanzlich gegerbtes Ökoleder … nicht gerade billig. Das Maximum, was ich mir als arme Studentin leisten konnte.

Dieses verdammte pelzige kleine Aas! Ich kann mir nicht einmal vorwerfen, ich hätte nicht aufgepasst. Ich habe die Jacke immer in den Schrank gehängt und die Türen niemals offen gelassen. Schließlich wusste ich, dass meine Mi verrückt auf Leder war. Dummer Weise hatte mein Kleiderschrank Schiebetüren, die sehr leicht auf und zu gingen. Nicht sehr praktisch, wenn man eine hochintelligente Katze mit krimineller Veranlagung hat.

Eines Tages erwartete mich ein Anblick des Grauens: Der Schrank war offen, darin lag Mira, die sich aus meinen Klamotten ein Nest gebaut hatte, und thronte mit siegesgewissen Blick auf meiner Designer-Lederjacke! Ihr Beitrag zum Design war ein Muster aus tiefen Kratzern.

Sie war ein Mistvieh, aber ich habe sie über alles geliebt.

Ich verbarg ich mein Gesicht in der Jacke und heulte Rotz und Wasser.

 

Nach ein paar Wochen hatte ich mich beinahe an das Leben ohne Katze gewöhnt. Natürlich vermisste ich Mira, aber sie war tot und damit musste ich mich abfinden.

Dachte ich … bis ich im November zur Geburtstagsparty einer Freundin eingeladen wurde. Meine Freundin hatte eine Katze namens Lucie, ein hübsches aber extrem scheues Lebewesen. Meistens sah ich von ihr nur den Schwanz unterm nächsten Busch oder Möbelstück verschwinden. Sie wollte mit mir nichts zu tun haben –  auch damit musste ich mich abfinden.

Aber am diesem Abend war alles anders. Ich saß auf der Couch, in der Hand ein Weinglas, leicht weggetreten, weil mich die Unterhaltung gerade langweilte … plötzlich streifte etwas Weiches, Pelziges mein Bein und ich war von einer Sekunde zur anderen hellwach.

Ich wusste nicht, dass Lucies Augen grün waren … so frech und schlau … Mit einem lauten „Miiii!“ sprang sie auf meinen Schoß und fing an, mit meiner Hand zu schmusen, die das Glas hielt. Ich musste laut lachen, hätte beinahe meinen Wein verschüttet. Mira hatte es auf die Weise schon mal geschafft, dass ich mir ein Glas Buttermilch über die Jeans kippte. Dann rollte Lucie sich auf meinem Schoß zusammen, schnurrte und schmuste, als würde sie zum letzten Mal in ihrem Leben von einem Menschen gestreichelt werden.

Meine Freundin sah mich ganz merkwürdig an.

 

Seit diesem Abend verfolgte mich Mira. Ich träumte fast jede Nacht von ihr, manchmal hörte ich ihr Schnurren, obwohl ich wusste, es war unmöglich. Oder sie blickte mir aus den Augen fremder Katze entgegen.

An Heiligabend zündete ich die Laterne auf Miras Grab im Garten wieder an. Der Winter war verflucht kalt, bis zu Minus zwanzig Grad an manchen Tagen … aber … Mein lieber Scholli, da knutscht mich doch Rudolph das Rentier! Aus der Schneedecke ragte eine einzelne gelbe Blüte hervor. Hastig wischte ich den Schnee beiseite und entdeckte … Stiefmütterchen. In voller Blütenpracht. Bei diesen Temperaturen! Als sei es Mai und nicht Dezember. Als würde eine unbekannte Macht sie vor der Kälte schützen.

Als ich meinem Freund davon erzählte, musterte er mich, als sei ich nicht mehr ganz dicht. Ich kann es ihm nicht verübeln. Schließlich glaubte ich selbst nicht an körperlose Seelen oder Magie. Meine verrückte Freundin Linda nahm solchen Blödsinn ernst –  für mich war das bestenfalls Unterhaltungskino.

Vielleicht sollte ich Linda davon erzählen. Sie würde mich verstehen.

Oder besser nicht? Eigentlich wollte ich nicht schon wieder mit den neuesten „wissenschaftlichen“ Erkenntnissen aus der Astro-Woche zugetextet werden oder mir anhören, dass die Seele meiner Katze spirituelle Hilfe braucht, um auf die nächste Ebene des Seins zu gelangen, weil sie sonst einsam und verloren in einer Starkstrom-Leitung hängt, um Energie für den Aufstieg zu tanken.

Pah, was für ein Schwachsinn!

Dennoch … Sämtliche Blumen waren halb erfrorener Matsch, auch die Stiefmütterchen in den Blumenkübeln. Aber nicht die Stiefmütterchen auf Miras Grab.

Meine Mutter verstand mich.

„Denkst du … ich meine … hast du manchmal das Gefühl, dass Mira noch bei uns ist?“ fragte ich sie am nächsten Tag.

Ihre Augen wurden feucht und sie sagte einfach nur „Ja“.

 

Die Stiefmütterchen büßten auch im Sommer nichts von ihrer Pracht ein, obwohl alle anderen Blumen trotz Rasensprenger die Blätter hängen ließen. Statt mit Schnee und sibirischer Kälte kämpften wir nun mit Hitze und Trockenheit.

Während wir gerade schwitzend unseren Eistee schlürften und den Klimawandel verfluchten, klingelte das Telefon.

Wir hätten mit allem gerechnet: Die Lottogesellschaft, Missionare der Zeugen Jehovas oder Linda, die auf der Flucht vor dem Poltergeist in ihrem Haus um Asyl bitten wollte.

Mit der Person, die tatsächlich am anderen Ende der Strippe war, rechnete niemand. Es war unsere Tierärztin.

Nach fünf Minuten fragte mich meine Mutter: „Möchtest du ein gestreiftes Kätzchen oder ein schwarzes?“

Ich blinzelte sie träge an, mein Hirn war in der Hitze halb geschmolzen. „Kätzchen? Hä?“

„Sieben kleine Miezen! In der Tierarztpraxis. Natürlich kann die Besitzerin sie nicht alle behalten. Deshalb will die Frau Doktor wissen, ob wir welche haben wollen.“

„Aber was sollen wir denn mit sieben …“

„Quatsch! Nicht sieben. Nur eins. Also hättest du lieber ein gestreiftes oder ein schwarzes? Mir ist es eigentlich egal.“

Ich war mir nicht sicher, was ich tat oder warum ich es tat –  aber im nächsten Moment sprang ich auf und strahlte sie an. „Ein schwarzes!“

„Na dann, auf geht’s!“

Eine Minute später saßen wir im Auto, auf dem Weg zur Tierarztpraxis. Komisch, ich hatte nicht den geringsten Zweifel, das Richtige zu tun. Aber war es nicht ein Verrat an Mira –  genau genommen der zweite? Am 13. Oktober hatte ich sie das erste Mal verraten, als ich mit ihr zum Tierarzt fuhr um sie einschläfern zu lassen. Aber was hätte ich tun sollen? Sie konnte doch nicht weiterleben, mit zwei total kaputten Nieren! Und nun wollten wir sie einfach ersetzen, wie einen Fernseher, der den Geist aufgegeben hat. Andererseits: Was war falsch daran, einem kleinen Kätzchen ein neues Zuhause zu geben?

Nichts –  das begriffen wir, als wir die Tierarztpraxis betraten, wo sich sieben knuffige kleine Pelzknäule auf dem Fußboden tummelten, eines niedlicher als das andere. Die Tierärztin griff sich das einzige schwarze Katzenbaby und setzte es meiner Mutter auf den Arm.

Im selben Augenblick löste sich ein einzelnes Graues aus dem gurrenden, fiependen Gewimmel und taperte direkt auf mich zu. Ich ging in die Hocke, das Kätzchen rieb seinen winzigen Kopf an meinen Beinen und meiner Hand. Und schnurrte. So ein winziges Pelzknäuel –  aber es schnurrte lauter als eine Nähmaschine! Sein Fell fasste sich an wie Kaschmirwolle und es hatte einen Schwanz, fast so lang wie die Katze selbst.

Aber das auffälligste waren seine Augen: So große, treue, braune Augen … fast wie die Augen eines Hundes. Im nächsten Augenblick sprang mir das Kätzchen in die Arme. Ich war überwältigt von der Hingabe dieses kleinen Wesens, kraulte es voller Entzücken … und es blickte mich die ganze Zeit über aus diesen unglaublich treuen Augen an.

„Uiiii, was bist du denn für eine knuddelige kleine wunderschöne …“

„Es ist ein Kater“, unterbrach mich die Tierärztin amüsiert.

„Ach so? Du bist also ein Kerl? Wie auch immer … so ein süßer feiner zärtlicher Kater! Dich gebe ich nicht wieder her!“

„Dann müssen wir ihn wohl mitnehmen“, meinte meine Mutter fatalistisch.

„Und die schwarze?“

„Die nehmen wir selbstverständlich auch mit.“

 

Nun waren wir also stolze „Eltern“ von zwei Katzenbabys –  was irgendwie so ist, als hätte man dreijährige Zwillinge. Die schwarze tauften wir Cassie, abgeleitet von Cassandra, was sehr passend war für eine kleine schwarze kesse Hexenkatze. Das Katerchen hieß zunächst Timmy –  aber damit waren wir nicht wirklich zufrieden.

Den Kater kümmerte das herzlich wenig. Er und Cassie waren viel zu sehr damit beschäftigt, die Wohnung zu erforschen. Der Kater schnappte sich einen von meinen Zopfgummis und spazierte damit glücklich fiepend von dannen. Ein paar Stunden später fand ich ihn in der Kloschüssel wieder. Den Zopfgummi, nicht den Kater. Währenddessen hatte Cassie herausgefunden, dass es einen Heidenspaß machte, mit den Drehstühlen im Arbeitszimmer Karussell zu fahren. Meine Mutter schaute ihr ganz verzückt dabei zu, aber mich packte plötzlich das schlechte Gewissen.

Während die Kleinen unsere Wohnung auf den Kopf stellten, hatte ich keine Sekunde an Mira gedacht.

Die Stiefmütterchen auf ihrem Grab sahen bei weitem nicht mehr so frisch aus wie an den Tagen zuvor und ich fühlte mich noch mieser.

„Hi Mi!“ begann ich und Tränen traten mir in die Augen. „Du darfst nicht denken, dass ich dich nicht mehr lieb hab … Ich werde dich nie vergessen, weißt du. Du warst … du bist für mich etwas ganz besonderes. Eine Katze wie dich gibt es nur einmal. Und die beiden Kleinen …“ Nun wischte ich mir energisch die Tränen ab. „Betrachte sie als deine Babys. Ich weiß nicht, ob du gern Babys gehabt hättest … AUA!“

Verdammt, irgendwas hatte mich eben in den Hintern gestochen!

Ich fuhr herum –  und hinter mir stand Timmy. Er blickte mich frech und fordernd an.

„Warst du das gerade?“ fragte ich verblüfft. Mira hatte mir manchmal die Krallen in den Hintern gebohrt, wenn ich auf der Couch gelegen und gelesen habe –  und Madam der Meinung war, ihr stünde etwas Aufmerksamkeit zu.

„Miiii!“ antwortete das Katerchen, ganz leise, fast Ultraschall.

„Das gibt’s doch nicht!“

Mein Blick wanderte zu den Stiefmütterchen. Meine Güte, ich halluzinierte wahrscheinlich. Der Zustand der Pflanzen hatte sich in den letzten paar Minuten rapide verschlechtert. Ihre Blätter waren nicht mehr schlaff, sondern halb vertrocknet, ihre Blüten rollten sich ein und fielen ab. Kein Zweifel, sie starben. Und ich weinte.

Da spürte ich das wollige Fell des Katers, der um meine Beine strich und schmuste. Mira hatte mich auch immer getröstet, wenn ich traurig war.

Das Katerchen schaute nun gar nicht mehr frech, sondern irgendwie verständig … als wüsste es genau, was in mir vorging.

„Hi, Mi!“ schluchzte ich.

Der Kater blinzelte.

Hi Mi … Mihai … Mihai war ein schöner Name, rumänisch für „Michael“ …

„Mihai? Möchtest du Mihai heißen?“

Der Kater blinzelte wieder und gab ein leises „Miiiii!“ von sich.

„Na, dann lass uns mal schauen, was dein Schwesterchen so treibt, Mihai.“

Der Kater stolzierte mit hoch erhobenem Schwanz vorneweg. In diesem Augenblick knickte das letzte Stiefmütterchen ein. Aber ich war nicht traurig darüber.

Ich hatte die Botschaft verstanden.

 

© 2008 by Adriana Wipperling

 

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