Falsches Licht

Auf dem lebensfeindlichen Planeten Targa stürzt ein Raumschiff einer insektoiden Forscherzivilisation ab. Doch die schneckenähnlichen Bewohner von Targa können nur ultraviolettes Licht wahrnehmen. Sie sehen die Fremden nicht in ihrer wahren Gestalt und halten sie für grauenerregende Monster …

SF-Kurzgeschichte von Anneliese Wipperling

Die Fehlfunktion war eher banal: Ein überhitzter Lüfter hatte das Computersystem innerhalb weniger Zeiteinheiten völlig lahmgelegt, was den innovativen, silbern schimmernden Lichtraumer vom Planeten Khonthar jäh stoppte und unkontrolliert durchs All taumeln ließ. Beißender Qualm waberte über die achteckige Brücke, hohe Pieptöne trieben den Kommandanten und die Diensthabenden fast in den Wahnsinn, während sie die peripheren Systeme hektisch mit mehr oder weniger veralteten Backups fütterten.
Es gelang ihnen immer wieder, das Unvermeidliche zu verhindern: den Lichtblitz, der alles verschlingen würde. Aber es war schon klar …
„Tsss! Wir müssen irgendwo runter“, überschrie Valikh, der Kommandant, das Getöse, hob die schillernden Flügeldecken und kratzte sich hingebungsvoll mit seinen harten grünen Hinterklauen. „Wir brauchen ein Raumdock.“
Ein schrilles Aufheulen der Konsole unterstrich seine Aussage.
„In dieser zivilisatorischen Wüste?“ sirrte Khallah, die karminrot gefleckte Navigatorin, verächtlich. „Wir haben vor zwanzig khontharischen Umläufen das Territorium des großen Kokons verlassen und sind seitdem auf keinen einzigen bewohnten Planeten gestoßen. Wir können vermutlich schon froh sein, wenn wir eine Welt mit halbwegs atembarer Atmosphäre finden.“
Valikhs rote Facettenaugen schimmerten samtig. „Die heilige körperlose Königin wird uns den richtigen Weg weisen.“
„Muss ich daran erinnern, dass ich Atheistin bin?“ murrte Khallah und schob ein weiteres Backup in den Schlitz.
Das Piepen verstummte schlagartig und Hoffnung regte sich in den strapazierten Ganglien der Khontharer.
„In drei Lichteinheiten Entfernung gibt es vielleicht ein geeignetes System“, meldete sich Zhambaah, ein dünnpanzeriger junger Praktikant, zu Wort. „Die Spektralklasse der Sonne fällt zwar ein bisschen aus der Hauptreihe, aber auf dem dritten Planeten gibt es Sauerstoff und Methan. Leider reicht Letzteres nicht für den Stoffwechsel der Luftsäcke.“
„Eine untypische Sonne?“ fragte die Navigatorin fasziniert. „Das würde womöglich die orthodoxe Theorie kippen. Erklär das genauer.“
„Ssss!“ summte der Praktikant eifrig. „Dieser seltsame Stern strahlt überwiegend im UV- und Gammabereich. Mit bloßen Augen sieht man nicht viel, nur ein schwaches blaues Glimmen. Er muss jung sein und riesig. Eigentlich verstehe ich nicht, wie der Sauerstoff in die Atmosphäre des Planeten kommt. Sein Magnetfeld ist viel zu schwach um den Sonnenwind abzulenken. Dass Pflanzen in so einer Finsternis voll harter Strahlung überhaupt existieren können, widerspricht allen bekannten Theorien.“
Der Kommandant studierte mit zitternden Fühlern die Anzeigen. „Tsss! Es ist keine gute Idee, auf dieser absurden Welt zu landen. Wir brauchen genug Methan für den alternativen Stoffwechsel. Sonst müssen wir pausenlos fressen und kriegen das Schiff nie wieder hoch!“ Valikh drehte den Kopf mit den riesigen Augen besorgt hin und her. „Wer weiß, ob es da was Genießbares gibt. Methanaufnahme ist viel sicherer als fremde Pflanzen. Die sind womöglich giftig für uns. Nein! Ich kann das nicht verantworten.“
Im selben Moment fielen sämtliche optische Sensoren aus.
„Oh du große allweise Mutter!“ schrillte Valikh erschrocken auf. „Gut landen wir auf dem abartigen Ding!“
„Hoffentlich halten die Gravimesser noch eine Weile!“
Khallah wendete das erblindete Schiff und folgte vorsichtig der Schwerespur des angepeilten Systems. Auf der Brücke des Raumers herrschte gespannte Stille bis …
Das Gellen und Dröhnen beim Absturz war fühlerzerfetzend.
Drei Paar hornige Vorderkrallen klammerten sich krampfhaft an die Titanstreben der Sitzgestänge. Nur Valikh stand noch mit wild peitschenden Antennen und Greifern aufrecht.
„Erhabene Königin!“ betete er durchdringend. „Rette unser aller Leben! Bitte!“
Der khontharische Lichtraumer bohrte sich tief in den weichen Boden der fremden Welt.
Die Besatzung lag starr und denkmusterlos am Boden.
Langsam sickerte trübes Wasser in den rauchenden Krater.
Der allgegenwärtige Nebel deckte das Desaster beinahe liebevoll zu.

* * *

Meramah und Tarmoh glitten mit zärtlich verknoteten Tentakeln die romantische Paarungsbahn des öffentlichen Stadtparks entlang. Zwei ineinanderfließende glitzernde Schleimspuren markierten ihren Weg in das wattig weiche Glück junger Liebe –  ein Reich hymnischer Gesänge und betörender Strudel.
Mit ihren schmalen, von graziösen Hautlappen beschatteten Augen erfreuten sie sich an den zarten Nuancen der ultravioletten Blätter und Bäume. Und an den Nebelschwaden, die malerisch zwischen den Stämmen wallten. Vor und hinter ihnen bewegten sich weitere Paare langsam über den sauberen dunkelblauen Plastikbelag.
Es war ein besonders schöner Tag, wenigstens aus Sicht eines Targaners.
Alles war angenehm feucht und hell. Erlesene Düfte rührten an die filigranen Rezeptoren heimischer Riechorgane. Winzige Flugschnecken klapperten monoton mit ihren Kalkflügeln, ein weißer Warossah zirpte gedämpft im Gebüsch.
„Ich gehe gleich morgen zum Bodenamt“, versprach Tarmoh liebevoll. „Ich werde Kalk und Raum für unser erstes Haus beantragen.“
„Und eine Begattungspalette für unsere Eier“, flüsterte Meramah verschämt.
„Die muss die Genetikkommission genehmigen“, entgegnete Tarmoh. „Du weißt, was entsteht, wenn einer von uns irgendwann zu wenig Gegenstrahlung erzeugt hat.“
„Ja, ganz entsetzliche Larven.“
„Richtig“, bestätigte der junge Befruchter. „Alles auf unserer Welt kann nur überleben, solange die Zellen der obersten Hautschicht genug Gegenstrahlung im richtigen Spektrum produzieren und so verhindern, dass das Licht der Sonne tiefer eindringt und die Erbmasse zertrümmert. Wie du weißt, gibt es immer wieder Lecks in diesen biogenen Kraftfeldern, Magnetfeldschwankungen von Targa, anomale Strahlungsausbrüche …“
Merahmahs fleischiger Gleitfuß krümmte sich vor Abscheu.
„Ich will das nicht hören! Es war schwer genug, den ganzen Horror aus dem Biologieunterricht wieder zu vergessen: Die vielen Mutationen, unsere strahlungsbedingte Turboevolution, das Dahinsiechen missgebildeter Larven, wie man sie früher getötet hat und zu Konzentrat … nein, ich war nie nachlässig mit meinen Eiern und bin bei jedem Alarm schnell in den nächsten Bunker gekrochen. Meine Eier sind in Ordnung. Ist es dein Begattungssaft auch?“
„Das weiß ich nicht genau. Ich war als junge Larve nicht gerade folgsam und habe mich noch nicht testen lassen. Aber wir können vielleicht auch ohne Nachwuchs …“
Das Rumpeln und Kreischen passte so gar nicht zu dem herrlichen Wetter. Götterfeuer und Wolkenkämpfe hörten sich auch ganz anders an. Was ihnen da rasend schnell entgegenkam, war ein Ball aus Metall, Rauch und Flammen, etwas, das kein Targaner je erblickt hatte.
Panik brach aus.
Mächtige Gleitfüße zuckten angsterfüllt vorwärts, saugnapfbewehrte Tentakel peitschten hektisch durch die Luft, ringelten sich um Stämme und Wurzeln, zerrten die schweren feuchten Körper vorwärts.
Nicht allen Paaren gelang es, dem gewaltigen Geschoss zu entkommen.
Hohe Schreie und der strenge Geruch nach zerquetschtem Fleisch und verbrannter Haut marterten die Sinne.
Dann wurde es ganz still.
Meramah und Tarmoh spähten hinunter in den dampfenden Trichter.
„Die armen Blumen!“ flüsterte die Eiträgerin wehmütig.
„Und die unschuldigen Liebenden!“ ergänzte der Befruchter heftig. „Was ist das überhaupt für ein seltsames Ding? Etwa Besuch aus dem All?“
„Es gibt keine Außenweltler“, widersprach Meramah. „Es kam neulich übers Datennetz: Dem großen Denker Hamil ist es gelungen, eindeutig zu beweisen, dass auf anderen Welten kein intelligentes Leben möglich ist. Alle anderen Sterne haben das falsche Spektrum. Die Bewohner ihrer Planeten wären fast völlig blind. Sie könnten nur vage Schatten wahrnehmen und vor allem keine Farben. Sie würden einander nicht richtig erkennen, nicht lieben –  sich nicht vermehren. Nein, im All gibt es höchstens ein paar Einzeller.“
„Das sind doch nur Denkspiele“, protestierte Tarmoh. „Wir wissen gar nicht, was da draußen möglich ist. Erst wenn wir unser Sonnensystem verlassen und selbst nachsehen können … schau wenigstens genau hin: Auf dem Ding da unten sind seltsame Zeichen in exakten Zeilen. Ein Meteorit ist das garantiert nicht!“
„Du Abweichler!“ schimpfte die Eiträgerin ängstlich. „Musst du immer alles infrage stellen? Wir kriegen noch Ärger mit dem Gesinnungsamt! Das da unten kann keine Schrift sein, sondern nur ein zufälliges Muster.“
Plötzlich wedelte sie verstört mit den vorderen Tentakeln. „Hilfe! Der Schrott aus dem All sendet bestimmt Energie aus, in unmöglichen Frequenzen, auf die unsere automatischen Wächter nicht geeicht sind! Wenn meine Gegenstrahlung diesmal wirkungslos ist? Meine armen Eier!“
„Also hältst du das da unten doch für ein Raumschiff?“
Meramah kam nicht dazu, ihrem Liebsten zu antworten. Plötzlich kreischten die übrigen Paare hysterisch durcheinander.
„Weg mit dem Weltraumdreck!“
„Buddelt das Loch zu! Schnell!“
„Ruft die schwarzen Ordner! Die sollen das Ding vaporisieren!“
„Ja! Notruf! Notruf!“
„Her mit dem schweren Laser!“
„Targaner in Lebensgefahr!“
„Rettet uns!“
„Schützt unsere Eier und Samenquellen!“
„Notruf! Notruf!“
In der Ferne erklangen bereits die melodischen Hörner der allseits gefürchteten Springgleiter der Gesinnungsprüfer. Gleich würden die gepanzerten Ordner auftauchen und die Störung im targanischen Gemeinwesen eliminieren.

* * *

Natürlich kam Valikh als Erster wieder zu sich. Schließlich hatte die Mannschaft ihn nicht ohne Grund zum Kommandanten des Forschungsschiffs gewählt: Er war stark, friedliebend, diszipliniert, furchtlos und außergewöhnlich intelligent, ein geborener Befehlshaber. Es war seine heilige Pflicht, aufzustehen und für alle Probleme eine Lösung zu finden.
Diesmal jedoch fühlte er sich überfordert. Er scharrte deprimiert mit seinen grünen Klauen in den weitgehend unbrauchbaren Trümmern der hochmodernen Technik.
„Ksss! Offenbar hat Khallah den richtigen Planeten gefunden. Da oben ist ein Riss in der Hülle und wir leben immer noch. Die Atmosphäre ist tatsächlich atembar, zwar ekelhaft feucht, muffig und wenig nahrhaft aber atembar. Ich muss wissen, wie es den andern geht und dem Schiff –  ob wir überhaupt eine Chance haben.“
Khallah hatte sich eins ihrer acht wohlgeformten Beine gebrochen, ein Fühler war abgeknickt und die attraktiv rot gemusterten Flügeldecken sahen reichlich verknittert aus. Aber sie war nicht nur eine wahre Schönheit, sondern auch eine zähe Kämpferin. Ein Medispray brachte sie blitzschnell auf die intakten roten Extremitäten.
Auch der Praktikant hatte den Absturz unerwartet gut überstanden. Sein jugendlich elastischer Panzer sah noch genau so glatt aus wie vorher. Die Brückencrew kämpfte sich tapfer durch das zerstörte Schiff.
Im Maschinenraum waren alle tot. Offenbar hatte es einen Gasausbruch gegeben, denn die Luft roch immer noch sehr scharf.
Auch die Beschützer an der Waffenphalanx hatten es nicht geschafft. Dafür ging es der zweiten Schicht in den stoßgedämpften Gravikokons richtig gut. Die hatten keinen Kratzer, waren nicht einmal aufgewacht.
„Die Crew hat neun Waffenträger und fünf Techniker verloren“, bilanzierte Valikh erbittert. Dann riss er sich zusammen. „Aber wir sind immer noch vier Forscher, drei Maschinisten und zusammen mit mir fünf erfahrene Beschützer. Damit lässt sich einiges anfangen. Vorwärts! Wir lassen unsere toten Kameraden erstmal an Ort und Stelle liegen. Alles, was mehr als drei feste Beine hat, folgt mir nach draußen!“
Die Khontharer bahnten sich den Weg zur Luftschleuse, rissen sie gewaltsam auf. Draußen sah es irgendwie schummerig aus, verschwommen, grau.
„Unsere Augen kommen mit dem Spektrum dieser Sonne nicht zurecht“, dozierte der Praktikant wichtigtuerisch. „Ja, wenn wir UV-Strahlung wahrnehmen könnten!“
„Schon gut, ich hab die Messwerte gesehen“, summte der Kommandant gestresst. „Ich weiß, dass unsere Mikronetzhäute dafür keine Rezeptoren haben. Und auch nicht für die dreimal verfluchte Gammastrahlung. Die kann unsereins übrigens leicht umbringen, vor allem solche jungen Weichpanzer wie dich. Leider müssen wir den Schaden von außen begutachten.“
Zhambaah schwieg erschrocken.
Nacheinander kletterten die überlebenden Raumfahrer ins Freie.
Sie merkten nicht gleich, dass sich im trüben Halbdunkel an den Hängen des Kraters etwas bewegte.

* * *

Ordner in schweren schwarzen Schutzanzügen glitschten energisch den Abhang hinunter. Was dort aus dem Schrotthaufen gekrochen kam, war gar zu untarganisch und ziemlich widerwärtig: farblose riesige Krabbeltiere! Sie sahen wie überdimensionale Mehlraspler aus. Und halt! Fünf von denen hielten verdächtige Metallrohre in den Händen!
„Achtung!“ brüllte der Erste Befehlshaber alarmiert. „Die Eindringlinge sind bewaffnet!“
Sofort zielten hundertachtzig Laser hinunter in den Krater.
Die Targaner schielten angestrengt unter den Hautlappen über ihren Augen hervor. Warum war das alles nur so einfarbig verschwommen –  halb durchsichtig?
Hatten die womöglich eine Art Tarnvorrichtung? Eine Tarnvorrichtung, die nur nicht richtig funktionierte? Wenn ja, waren die Fremden haushoch überlegen –  doppelt und dreifach gefährlich!
„Komm“, flüsterte Meramah Tarmoh zu. „Wir sollten nicht hier sein, wenn unsere Leute die Schädlinge zerstrahlen. Das schadet bestimmt meinen Eiern!“
„Und wenn es sich doch um vernunftbegabte Lebewesen handelt? Ich finde es nicht richtig, dass wir sie einfach töten und nicht einmal versuchen, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Sie haben immerhin ein Raumschiff!“
„Unmöglich Liebster! Dieses Getier sieht farblos und hässlich aus, wie Ungeziefer eben. Vermutlich sind die Lenker des Schiffes –  wenn es überhaupt eins ist –  tot und jetzt kriechen ihre Läuse aus den Schlupfwinkeln.“
„Nein! Sieh bitte richtig hin! Einige der Wesen halten etwas in den Vordergreifern. Tiere benutzen kein Werkzeug!“
„Ich sehe überhaupt nichts, nur farbloses Gewusel im Matsch.“
Tarmoh wurde vor Eifer und Sorge um die Fremden laut. „Und wenn sie bei anderer Beleuchtung bunt und wunderschön aussehen? Wenn sie auch Maler, Sänger und Dichter kennen? Wenn sie auf ihren acht Beinen gern im Licht silberner Monde tanzen?“
Die Ordner der hintersten Reihe drehten sich synchron um und starrten das Pärchen herausfordernd an. „Will hier etwa jemand diese Mehlraspler in seine Tentakel wickeln?“
Tarmoh und Meramah wurden steif vor Angst.
„Schießt doch endlich! Schießt! Macht sie alle platt!“ begannen einige Spaziergleiter demonstrativ laut zu grölen.
Ein Augenläppchenzucken später war der Mob zu voller Pracht aufgelaufen.
Auf einmal waren selbst Meramah ihre Eier egal. Sie dachte gar nicht mehr daran, wegzurutschen.
Tarmoh musste entsetzt miterleben, wie seine angebetete Gefährtin lautstark in das irrsinnige Geschrei einstimmte.
Nein, damit wollte er nichts zu tun haben. Sein sensibles junges Gemüt fürchtete sich sehr davor, die Fremden sterben zu sehen und seine wunderschöne Meramah war ihm richtig unheimlich geworden.
Vorsichtig löste Tarmoh seine Tentakel aus ihrer Umklammerung und glitt so schnell er konnte davon.

* * *

Auch wenn die Khontharer die Angreifer im Zwielicht kaum erkennen konnten, das unartikulierte aggressive Geschrei ließ ihre Fühler erzittern.
Valikh legte seinen Laser demonstrativ beiseite, stemmte sich mühsam auf dem hintersten Beinpaar zur vollen stattlichen Größe empor, wedelte höflich mit beiden Fühlern und allen sechs freien Gliedern, spreizte dann demütig seine schillernden Flügeldecken und präsentierte seine empfindlichen tiefblauen Flügel.
„Wir kommen in Frieden!“ gellte er in allen ihm bekannten Sprachen. „Unser Schiff ist abgestürzt. Wir brauchen Hilfe! Bitte helft uns!“
„Wir sind wehrlos! Abgestürzt! Freundlich!“ schrien die unbewaffneten Wissensträger und Techniker. „Bringt uns zu eurem Raumdock! Helft uns!“
Auch sie entblößten verzweifelt ihre weichsten Körperteile.
Einige warfen sich sogar demonstrativ auf den Rücken, um besonders schutzlos zu wirken.
„Das wird uns nichts nützen“, der Praktikant stellte sich kurz entschlossen mit angewinkelten Beinen tot. Sein verstohlenes Zirpen erreichte gerade noch Valikhs Fühler. „Glaub mir, nicht einmal, wenn wir die letzte Scham ablegen und die Begattungsorgane aus ihren Kapseln quellen lassen … diese Riesenschnecken können unsere Farben nicht erkennen, unsere Schönheit nicht würdigen. Wir sollten zurück auf die Brücke! Vielleicht funktioniert ja noch einer der Großwerfer.“
Valikh drehte zweimal abwehrend den Kopf dann tanzte er laut schrillend den altehrwürdigen khontharischen Friedenstanz.
„Ich will diese unterentwickelten Fremden nicht töten! Lieber sterbe ich.“

* * *

Die Targaner registrierten nur, dass die halb durchsichtigen Riesenkäfer im Kessel einen gewaltigen misstönenden Lärm veranstalteten. Dass ihr unverständliches Kreischen und Heulen sich abwechselnd in die höchsten Höhen emporschwang und in den tiefsten gerade noch hörbaren Frequenzen verlor.
Es klang beängstigend, aggressiv, abgrundtief böse.
Und dass das größte und hässlichste Insekt –  man konnte sogar das Geschlinge unter dem Panzer pulsieren sehen –  mit allen hornigen Auswüchsen gleichzeitig wedelte, war ohne Zweifel das Signal zum Angriff!
„Jetzt!“ bellte der Befehlshaber der Ordner knapp und ein scharfer Laserstrahl schnitt den jungen angeberischen Zhambaah der Länge nach in zwei Hälften.
Fast gleichzeitig stürzten der friedliebende Valikh und die rot schillernde Khallah mit qualmenden Löchern im Brustpanzer zu Boden. Sie fielen auf den Rücken, ruderten noch ein paarmal mit allen hornigen Beinen … dann rührten sie sich nicht mehr.
Die waffenlosen Wissenschaftler und Techniker schrillten panisch und versuchten, sich mit ihren harten Klauen in den weichen Boden zu graben. Aber dort gab es keinen Schutz.
Das Laserfeuer fand sie alle, trennte ihre weichen Hinterleiber ab, die zappelnden Beine und wild surrenden Flügel.
Messer aus Licht pflügten danach kreuz und quer durch den erhitzten Schlamm und ließen nur Fetzen von Ganglien, Fühlern und Facettenaugen zurück.
Delikate Empfindungen, originelle Gedanken und unersetzliche Informationen gingen für immer verloren.
Die vier khontharischen Beschützer suchten –  wie sie es gelernt hatten –  hinter der Luftschleuse und größeren Trümmerteilen Deckung.
Ganz systematisch bestrichen sie mit ihren schweren Energiewerfern das undeutliche Gewimmel an den Wänden des Kraters und mähten mit einem letzten eleganten Schwenk sämtliche brüllende Gaffer an seinem oberen Rand nieder.
Die fanden sie besonders bedrohlich.
Nicht alle schwarzen Ordner waren sofort tot.
Diejenigen, die noch zielen und schießen konnten, taten bis zum letzten Atemzug ihre heilige Pflicht.
Ebenso, wie die khontharischen Beschützer.
Noch lange zuckten Energieblitze in der rauchgeschwängerten Luft des Kraters hin und her und dumpfes Grollen brandete gegen die Wände des Trichters.

* * *

Der Stadtpark und sein allseits beliebter Paarungspfad waren zerstört und besudelt –  angeblich von abscheulichen Bestien aus dem All, die ohne jeden Grund als Erste geschossen hatten –  auf anständige Targaner, die zur Rettung der Fremden herbeigeeilt waren, und statt mit Dankbarkeit mit schwerem Geschütz empfangen worden waren.
Die gefallenen Ordner und die gemetzelten Liebespaare wurden sorgsam geborgen und mit einer pompösen Abschiedszeremonie geehrt.
Auf die farblosen Ãœberreste der Fremden achtete niemand.
Schon deshalb nicht, weil sich einige stadtbekannte Spitzel vom Gesinnungsamt demonstrativ in der Nähe des Kraters herumtrieben.
Jeder halbwegs intelligente Targaner wusste, dass sie nur Lockschnecken waren, die einfältige Spaziergleiter zu unbedachten Äußerungen verleiten sollten. Dass viele scheinbar harmlose Mittarganer nur auf eine Gelegenheit warteten, der Obrigkeit endlich zu beweisen, wie unglaublich wachsam und loyal sie waren.
Andererseits schienen die toten Riesenkäfer es nicht wert zu sein, ihretwegen eine Verhaftung zu riskieren. Sie wirkten völlig unspektakulär, rundweg fehl am Platz und es stieg auch nach mehreren Tagen kein Geruch von ihnen auf. Offenbar konnten nicht einmal die Mikroben von Targa etwas mit ihnen anfangen.
Nein! Niemand war darauf versessen, von den Gesinnungshütern beim Verhör tagelang eingesalzen zu werden!
Kein Heiler oder Biologe war so naiv, sich für die Leichen zu interessieren.
Nur der große Denker Tamil fühlte sich berufen, eine neue Theorie zu verkünden.
„Ja“, bekannte er selbstkritisch, „es gibt da draußen gegen jede Vernunft doch einige, erbärmliche Missgeburten mit schwachen untauglichen Augen, völlig unfähig, echte Schönheit zu würdigen. Vor allem deshalb sind sie moralisch so minderwertig: nur gierig nach Fressen, Kopulation und Macht. Der beste Beweis für ihre abgrundtiefe Schlechtigkeit ist, dass sie den heiligen Pfad der Liebenden zerstört haben. Sie haben sogar auf unschuldige junge Paare gefeuert und viele von ihnen getötet. Es ist gut, dass unsere heldenhaften Ordner die bösartigen Eindringlinge besiegt haben!“

* * *

Tarmoh glitt Tag für Tag zu dem Platz, wo seine geliebte Meramah gestorben war und dachte an befruchtete Eier und fröhlich wimmelnde Larven.
Nur wenn weit und breit niemand zu sehen war, wagte er es, hinunter zu dem Schrotthaufen im Wasser und den vagen grauen Ãœberbleibseln der Außenweltler zu sehen.
Es regte ihn jedes Mal auf, dass die Behörden so unzivilisiert waren, die fremden Toten unbestattet liegen zu lassen. Gern hätte er sie wenigstens mit ein paar zarten ultravioletten Blüten geehrt.
„Bin ich denn als Einziger traurig und neugierig?“ fragte er sich.
Aber es wäre glatter Selbstmord gewesen, den Abhang herunterzurutschen. Die schwarzen Ordner waren schnell mit ihren Lasern bei den Tentakeln. Womöglich hätten sie ihn auch für Jahre ins Disziplinierungscamp gesteckt. Das war ein steiniges Areal ohne jeden Schutz vor irregulären Strahlungsausbrüchen.
Es wäre das Ende all seiner Zukunftspläne gewesen!
Ehemalige Lagerinsassen galten als kontaminiert und erhielten von Ärzten und Verteilungsbeamten keinerlei Hilfe. Sie konnten nur auf eigene Larven gänzlich verzichten oder sich unkontrolliert paaren.
Fast immer war ihr Nachwuchs schwer missgebildet.
Für die Parias war es entschieden besser, wenn ihre Brut schon in den Eiern abstarb oder wenigstens gleich, nach dem Schlüpfen krepierte, damit sie nicht mit ansehen mussten, wie die blinden, schleimlosen Kleinen sich quälten.
Absurderweise war die Strafe für jede Art Larvenmord ein langsamer qualvoller Tod durch öffentliches Austrocknen.
Die Verurteilten wurden mit fest verschnürten Tentakeln in einen durchsichtigen Bottich geworfen. Man füllte ihn mit entwässertem Silikagel, bis nur noch der Kopf zu sehen war, und verschloss ihn mit einem dicht schließenden Deckel. Eine Pumpe sorgte für ausreichend getrocknete Atemluft.
Fast jeder hatte schon so ein Sterben mit ansehen und anhören müssen.
Es wurde auch über Firmen getuschelt, die die dehydrierten Körper aufkaufen würden. Die wenigsten wagten es, hier weiterzudenken.

* * *

Eines Morgens kamen Arbeiter mit Planiergleitern, um den Pfad der Liebenden zu reparieren, die alte Begattungslaube abzureißen, den Absturzkrater zuzuschieben und an seiner Stelle einen neuen urbanen Kopulationsplatz zu schaffen.
Diesmal konnte sich Tarmoh nicht beherrschen. „Was habt ihr mit den toten Außenweltlern vor? Wollt ihr die einfach so unterbuddeln?“ fragte er den Vorarbeiter hitzig und hätte sich im nächsten Augenblick am liebsten die Tonmembran herausgerissen.
Zum Glück war der behäbige Familienbefruchter kein Spitzel vom Gesinnungsamt.
„Was für Außenweltler?“ konterte er verständnislos. „Da liegen doch nur ein paar verkohlte Gräten herum. Wen interessieren die schon?“
Wenig später war der Platz eingeebnet und leuchtend blau versiegelt. Die Halter für die genehmigten Eipaletten glänzten golden. Gärtner schafften Kübelpflanzen und Rankgitter für intime Lauben herbei.
Tarmoh glitt deprimiert heim.
Er hätte für die Fremden ein heldenhaftes Ende im Bottich riskieren sollen.
Der neue Kopulationsplatz würde ihn so oder so umbringen.
Er konnte es unmöglich über dem Grab der Raumfahrer herauslassen! Sein Begattungssaft würde vor Scham in den Quellen gelieren –  absterben, faulen!
Schleimvergiftung war ein besonders banaler Tod.

© 2007 by Anneliese Wipperling

 

 

 

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