Werkstatt oder Tempel?

Früher glaubte man an das Genie und die göttliche Macht der Musen – heute setzt man hauptsächlich auf Tinte und Papier oder Computertastaturen und Speichermedien. Wenn über Handwerk und Inspiration gestritten wird, kommt dann oft nur ein fettes „oder“ zwischen beiden Wörtern infrage. Doch wie entsteht ein gutes Gedicht, eine gute Geschichte tatsächlich? Gibt es allgemeingültige Antworten?

Wie arbeitet eigentlich ein Schriftsteller? Manche Autoren von Ratgebern und manche Moderatoren von Salons (die altmodischen Schwatzbuden) oder Internetforen (neumodischer Schwatz in der Öffentlichkeit) wussten und wissen es ganz genau. Zwar unterscheiden sich die Antworten je nach Jahrhundert … aber sie sind nicht selten ziemlich rigoros.
Früher glaubte man an das Genie und die göttliche Macht der Musen … heute setzt man hauptsächlich auf Tinte und Papier … oder Computertastaturen und Speichermedien.
Wenn über Handwerk und Inspiration gestritten wird, kommt dann oft nur ein fettes „oder“zwischen beiden Wörtern infrage. Den Diskutierenden spritzt vor Eifer der Schaum von den Lippen. Sie sind kurz davor, dem Kontrahenten Blutrache zu schwören oder einem Herzinfarkt zu erliegen.
Etwas gemäßigtere Zeitgenossen wissen zumindest ganz genau, wie viel wovon zum Einsatz kommen muss: 20% Inspiration und 80% Fleiß … oder bestenfalls 30% Inspiration … oder … oder … jedenfalls ist es immer verdammt wenig Spaß und ganz viel möglichst stumpfsinniges Rackern.
Es tut mir leid, aber ich halte das für dumme und unnütze Diskussionen. Warum? Weil Menschen keine Maschinen sind und verschiedene Genres sich nicht untereinander vergleichen lassen.
Weil pauschale Aussagen zum schöpferischen Prozess nicht möglich sind. Weil jeder Autor ein bisschen anders tickt.
Weil die Kunst eine strenge Geliebte ist, die jeden züchtigt, der sie nicht gebührend ehrt. Letzteres habe ich von einer Malerin, die ich leider nicht mehr fragen kann, wen sie da zitiert hat. Ich denke, es war irgendein berühmter Impressionist, denn das waren ihre Favoriten.
Es hilft vielleicht, sich dem Problem von verschiedenen Seiten zu nähern. Eine allgemeingültige Antwort wird dabei vermutlich nicht herauskommen …

1. Chronisten des Alltags

Es gibt Autoren, die sich auf das Schreiben von Alltagsgeschichten spezialisiert haben. Und es gibt Leser, die solche Geschichten sehr mögen. Beiden ist gemeinsam, dass sie mit beiden Beinen fest im Leben stehen und allem, was man nicht angucken, anfassen oder anbeißen kann, zutiefst misstrauen.
Sie sind keine Träumer, sondern scharfe Beobachter, zielstrebige Sammler, gutmütige oder bissige Kommentatoren. Ihre Weisheiten sind äußerst nützlich, wenn auch manchmal ein bisschen hausbacken.
Eine durchaus liebenswerte und talentierte Vertreterin dieser Spezies …  die bisher selbst meine schrägsten Gedichte scheinbar problemlos ertragen hatte …  reagierte auf meine ersten SF-Geschichten mit blankem Abscheu: „Pfui Teufel! Das ist ja alles erfunden! Was sollen unsere Menschen daraus lernen?“
Ich habe das Gefühl, dass diese Autoren dem Journalismus näher stehen als der Poesie. Wenn sie fleißig recherchieren, liegen immer genug Aufträge auf ihrem Schreibtisch herum. Und natürlich setzen sie sich jede freie Minute an die heilige Werkbank … sägen, bohren, feilen, hämmern … bis irgendwann eine formvollendete Geschichte den Weg durch den Blätterwald nehmen kann.
Scheinbar benötigen solche Leute keinen Musenkuss. Sind sie der lebende Beweis dafür, dass Inspiration nicht gebraucht wird … dass alles nur Handwerk ist?
Ich denke nein. Auch diese Autoren sind auf besondere Talente angewiesen: einen scharfen Blick für unter scheinbaren Belanglosigkeiten vergrabene Schätze, ein waches Mitgefühl für ihre Mitmenschen, ein Gespür für Tragik und Komik … für dramatische Auftritte und skurrile Wendungen.
Manchmal ist Thalia, die komische Muse für sie verantwortlich. Manchmal lugt ihnen Klio, die Muse der Geschichte über die Schultern … einer Alltagsgeschichte, für die sich professionelle Historiker viel zu selten interessieren.
Jedenfalls scheinen die beiden Damen nicht so kapriziös wie die heldenmütige Kalliope oder die tragische Melpomene zu sein.
Ich möchte mich ausdrücklich nicht an der lächerlichen Prozentklauberei beteiligen, aber ich kann mir vorstellen, dass Autoren im Grenzbereich zum Journalismus zuweilen mit einem deutlich geringeren Anteil an Inspiration auskommen.

2. Sogenannte Spannungsliteratur

Ich habe noch nie versucht, einen Krimi zu schreiben aber ich kann mir gut vorstellen, dass diese Bücher oft auf realen Fällen beruhen und sehr gut recherchiert sind. Zumindest muss sich der Autor mit dem Milieu …  Polizei und Unterwelt …  gut auskennen und über Ermittlungstechniken, Forensik, Gesetze usw. Bescheid wissen. Hier kommt Urania …  die Muse der Wissenschaften …  machtvoll ins Spiel.
Auch Thrillerautoren müssen genau recherchieren und alle handwerklichen Tricks zu Spannungsaufbau und Figurenführung beherrschen. Sprachliche Innovationen und Metaphern werden nicht verlangt, weil die Leser dieses Genres kaum darauf achten. Die Sache muss klar und knapp ausgedrückt sein, ein paar überraschende Wendungen und Rätsel enthalten … und sie muss heftig thrillen.
Manche dieser Autoren scheinen ihre Bücher geradezu am Fließband zu verfassen. Die Fälle und Personalien unterscheiden sich, während die Spannungsmuster immer wieder auf die gleiche Weise aufgebaut werden. Es sieht nicht so aus, als wären die Schreiber ihrer Inspiration hinterhergehechelt. Sie verstehen sich selbst oft als gute Handwerker …  nicht mehr und nicht weniger.
Über die Spannungsliteratur in Heftchenform breite ich lieber den Mantel christlicher Barmherzigkeit. Die machen oft den Eindruck, als wären sie mithilfe eines Computerprogramms erstellt worden. Brauchen Computer Inspiration? Es gibt wohl nichts, was ihnen fremder wäre.
Neben der Dutzendware gibt es auch Kriminalgeschichten, die eigentlich Gesellschaftsromane sind, die sich um einen Kriminalfall ranken. Im Versagen des Einzelnen wird die Krankheit der ganzen Gesellschaft sichtbar. Ihre Hoffnungslosigkeit, ihre Perversität, ihre ideologische Verblendung. Schuld und Sühne von Dostojewski ist so ein Beispiel. Auch einige skandinavische Krimiautoren tendieren in diese Richtung.
Ich weiß nicht, wie viel Inspiration in diesen Büchern steckt. Sicher nicht weniger, als in jedem anderen ernst zu nehmenden Stück Literatur.

.3. Was es sonst noch gibt

Ja, da ist noch so einiges: historische und erotische Romane, romantische Lovestorys, Fantasy, Mystery, Urzeitsagas, Tiergeschichten und … und … und …
Für manches muss man heftig recherchieren und für anderes hingebungsvoll träumen … oder …  wie hoffentlich bei der Erotik und den Liebesgeschichten …  gelassen aus eigenen Erinnerungen und Erfahrungen schöpfen. Da schließt sich dann der Kreis zu den Alltagsgeschichten.
Je höher der Aufwand für Recherchen ist, um so mehr verschiebt sich das Verhältnis zwischen Inspiration und allen übrigen Arbeiten am Text zuungunsten der Inspiration.
Aber Vorsicht! Das bedeutet nicht, dass man historische Romane oder Urzeitsagas uninspiriert schreiben kann … jedenfalls nicht, wenn sie etwas taugen sollen! Die Recherche ist lediglich ein zusätzlicher Arbeitsaufwand, der obendrauf gesattelt werden muss!
Wenn man den nicht berücksichtigt, kommen alle übrigen Faktoren ins Spiel: Nähe oder Ferne des Schauplatzes und der handelnden Personen, die Persönlichkeit des Autors, seine spezielle Arbeitsweise, seine Weisheit … Traum und Wirklichkeit.
Und noch etwas: Recherchen können auch eine machtvolle Quelle der Einbildungskraft sein. Das wird deutlich, wenn man ein Museum oder ein KZ besucht. Originaldokumente und Exponate können geradezu überwältigend wirken.
Es ist schon Jahrzehnte her … aber ich sah einmal in Strahlsund einen blutbesudelten Richtblock aus dem Mittelalter und plötzlich stand zu meinem Entsetzen die Hinrichtungsszene deutlich vor meinen Augen.
Sie haben das Exponat wohl später aus Rücksicht auf zartbesaitete Besucher ins Magazin geschafft, denn ich habe es bei einem späteren Besuch nicht wiedergefunden. Aber er geistert immer noch durch meine Albträume.
Vielleicht ist es diese Erinnerung, die mir beim Schreiben harter Szenen hilf … oder die Erinnerung an Berge von getragenen Schuhen und Lampenschirme aus tätowierter Menschenhaut im KZ Sachsenhausen

4. Moderne Lyrik

Früher gab es alles Mögliche in Versform, unter anderem auch wissenschaftliche und moralische Traktate. Der große römische Dichter Vergil, der vier umfängliche Gesänge über den Landbau schrieb und dabei Poesie und Erkenntnis auf wundersame Weise miteinander verflocht, ist ein gutes Beispiel dafür. Heute sind das Sinngedicht, das wissenschaftliche und das philosophische Gedicht weitgehend abgestorben und man legt …  mehr als früher …  Wert auf eine tragfähige poetische Idee und gute Metaphern (siehe Anneliese Wipperling: „Mit allen Sinnen“ ).
Was soll ich sagen? Natürlich ist die Poesie hohe Sprachkunst … jedes einzelne Wort und jedes Satzzeichen wird sorgfältig ausgewählt, geprüft und geschliffen. Es gibt wohl kein Literaturgenre, bei dem die Arbeitsdichte pro Zeile ähnlich hoch ist.
Dennoch ist gerade die Lyrik ein Beispiel dafür, dass Handwerk allein nicht ausreicht. Und nicht nur das: Ohne Inspiration wird jegliche handwerkliche Arbeit sinnlos. Es gibt nichts zu schleifen und zu hämmern. Die Idee ist gleichzeitig die Substanz … ein flüchtiges widerspenstiges Zeug, das sich mit großer Raffinesse dem Zugriff entzieht und manchmal ohne jeden Anlass komplett auflöst.
Eine gute poetische Idee lässt sich nicht herbeizwingen. Sie wächst irgendwo im Verborgenen, wie ein Pilzgeflecht im feuchten Boden. Und ebenso wie bei diesen geheimnisvollen Waldbewohnern gibt es Interaktionen mit den Wurzeln anderer Gewächse, mit Regen und Wind, Sonne und Frost. Ein vertrackter Austausch von Zellkernen und Säften kompliziert die Sache zusätzlich. Nicht einmal der Dichter selbst weiß genau, was da alles passiert.
Nach meinen bescheidenen Erfahrungen ist die Geburt der poetischen Idee der eigentliche kritische Vorgang. Erst hinterher lohnt es sich, über passende Metaphern und Worte nachzusinnen … und sie notfalls im Thesaurus von Word oder einem Synonymwörterbuch auszugraben. Und erst jetzt ist es sinnvoll, über Rhythmus und Melodie des Gedichts zu entscheiden.
Die beliebten Formeln von 20 oder 30% Inspiration und dem unglaublich dominierenden Rest Fleiß wirken auf mich im Zusammenhang mit Lyrik geradezu paradox, denn das geheime Wachstum lässt sich vom Zeit- und Kraftaufwand her nicht messen. Sicher, manchmal kommt eine gute Idee scheinbar einfach so angeflogen … über andere grübelt man lange nach … manchmal ist es Schwerstarbeit, sie ins Licht zu zerren.
Und noch etwas: Die eigene Fantasie bewusst zu steuern erfordert enorm viel Kraft und Konzentration. Wenn die Seele des Dichters aus irgendeinem Grunde geschwächt ist, funktioniert leider überhaupt nichts mehr. Dann kann man nur noch alles in die Ecke schmeißen und versuchen, mit seinem Frust fertigzuwerden.
Wer arrogant über empfindliche und faule Dichter und ihre eingebildeten Schreibblockaden schwadroniert, beweist damit nur, dass er diesen Aspekt des künstlerischen Schaffens überhaupt nicht kennt. Glaubt derjenige etwa tatsächlich, dass es genügt, so lange vor sich hinzubrabbeln, bis sich aus dem Wortbrei von allein eine tolle Idee formt? Ich wünsche viel Spaß bei dem Versuch!

5. Fantastische Welten

Ist es seriös, über ein Land zu schreiben, wo man nie gewesen ist? Bei einer Reisebeschreibung würde jeder mit Recht die Nase rümpfen. „Was? Wie kommt XY dazu, über die Sahara zu labern, wo er doch die ganze Zeit gemütlich in seinem Schrebergarten gehockt hat? Von wegen Internet und Literaturrecherchen! Der braucht mit uns gar nicht erst stille Post zu spielen. Wir wollen was Authentisches!“
Um einen Roman, der in Frankreich spielt, zu schreiben, sollte man wenigstens ein paar Reisen dorthin gemacht haben oder französische Freunde haben. Noch besser ist es, wenn der Autor da einige Jahre gelebt hat. Eine Freundin von uns hat einen Vatikanthriller geschrieben. Sie hat dafür nicht nur in verschiedenen Bibliotheken Europas recherchiert, sondern auch wichtige Originalschauplätze persönlich aufgesucht. Ich verstehe, warum sie das tun musste. Die Atmosphäre eines Ortes und die Mentalitäten fremdartiger Berufsgruppen und Völker müssen genau erkundet werden. Auch die Kleinigkeiten sollen ja stimmen. Sonst schreibt man am Ende noch über Pinguine in der Arktis und Eskimos am Südpol. Ganz zu schweigen von den richtigen Münzen, Varianten der Anmache, Kopfbedeckungen, Nationalgerichten, Witzen, Neurosen, Grundsätzen, geistigen Getränken …
Ehrlich, ich würde mir nicht einmal trauen, eine Story in Bayern spielen zu lassen. Zwar weiß ich theoretisch um die zahlreichen Eigenheiten der Bajuwaren und ich hatte auch einige Kollegen aus dem netten Freistaat aber das heißt noch lange nicht, dass ich kompetent genug bin, um mit dieser Spezies herumspielen zu können. Jeder echte Bayer würde sich über meine Geschichte totlachen.
Wahrscheinlich seid ihr jetzt verwirrt. „Die traut sich nicht einmal an Figuren aus einem anderen Bundesland und dabei schreibt sie fast ausschließlich über Aliens! Das ist alles andere als logisch!“
Sicher hat dieses Argument einige Berechtigung. Aliens als Hauptcharaktere können ganz schön schwierig sein. Schließlich möchte der Leser nicht mit Menschen in Latexmasken konfrontiert werden. Ein bisschen anders als wir sollten die Leute schon reagieren … und das betrifft nicht nur die Physiologie sondern auch das Sozialverhalten und die Gefühlswelt.
Andererseits haben Aliencharaktere auch einen großen Vorteil: Weil sie fiktiv sind, kann niemand nachprüfen, ob ich sie richtig erfunden habe. Ich muss nur darauf achten, dass alles stimmig ist, dass die Charaktere mit Umwelt und Geschichte des jeweiligen Planeten harmonieren und dass jene psychologischen Prozesse, die möglicherweise allen organischen Lebewesen eigen sind, beachtet werden.
Das Problem beim Schreiben von SF ist, dass die fremden Welten leicht zu einem Sammelsurium erfundener oder in Enzyklopädien recherchierter Parameter verkommen ohne reale Gestalt anzunehmen. Wenn man die Spektralklasse des Zentralgestirns und den Abstand des Heimatplaneten der Spezies dazu festgelegt hat, weiß man noch lange nicht, wie der Wind dort riecht und wie das Blut in den Adern der Fremden rauscht. Es ist wie mit dem Frankreichbuch: Es empfiehlt sich, persönlich zu dem fernen Planeten zu reisen und ihn gründlich zu erkunden. So oft, bis man alles deutlich sehen, riechen und schmecken kann.
Ich weiß nicht, wie es anderen Autoren geht aber ich muss sehr oft in meine Welten abtauchen, bevor ich eine Szene schreiben kann. Das geht manchmal richtig an die Substanz, denn diese Halbschlaf-Halbtraum-Trips reißen die Nächte erbarmungslos in Fetzen und lassen einen am nächsten Morgen mit dickem Kopf und Triefaugen aufwachen. Ohne Aspirin und Kaffee würde ich danach gar nicht in Gang kommen. Irgendwie widerstrebt es mir, diese nervenzerfetzende Jagd nach der passenden Inspiration für eher nebensächlich zu halten.
Das erklärt wahrscheinlich auch meinen von einigen Gurus bemängelten Umgang mit den Charakteren. Was soll ich machen? Die Leute sind meist nicht von dieser Welt und wenn ja, nicht aus unserer Zeit. Da muss ich vorsichtig mit ihnen umgehen und gut zuhören, sonst mutieren sie ganz schnell zu Pappaufstellern.
In vielen älteren SF-Geschichten findet man leider diese zweidimensionalen Wesen. Da hat der Autor lange über seine Fiktion nachgegrübelt, dicke Bücher gewälzt und sich große Mühe gegeben, alles richtig zu machen … und darüber vergessen, seinen Figuren Leben einzuhauchen. Oder nicht mehr die Kraft dafür aufbringen können. Genau das ist der Grund, weshalb viele Bildungsbürger nichts von SF halten und sie …  bis auf wenige Ausnahmen …  nicht zur Literatur zählen.
Ich rede gar nicht erst darüber, wie schwierig es ist, eine gute SF-Idee zu finden, denn dazu ist neben einem Geistesblitz auch noch jede Menge Recherche nötig … vornehmlich in ziemlich unverständlichen Büchern über Astrophysik, Kosmologie, Robotertechnik, Genetik …
Nein, das ist immer noch nicht pures Rackern am Text und trotzdem verdammt zeitaufwendig. Ich versuche gerade herauszufinden, wie Energiewesen ticken und wie es sich anfühlt, in der Korona einer Sonne zu leben. Time Life sei Dank konnte ich einiges über wabernde Landschaften aus Licht herausfinden …

6. Von Menschen und Photonen

Alles, was mit Menschen und ihrer Gesellschaft zu tun hat, lässt sich extrem schwer in Zahlen fassen und die in den Naturwissenschaften so beliebten mathematischen Definitionen greifen völlig ins Leere. Deshalb haben es Geisteswissenschaftler schwerer als Physiker oder Chemiker. Meist gerät schon die Festlegung des Forschungsobjekts ziemlich „weich“ , sodass man großartig darüber streiten kann.
Jeder, der einmal gelernt hat, wissenschaftlich zu denken, weiß um die Schwierigkeiten bei der Annäherung an die Realität … und dass alles nur mehr oder weniger wahrscheinliche Hypothesen sind, die schon von der nächsten Entdeckung brutal über den Haufen geworfen werden können. Manchmal braucht man sogar mehrere Theorien gleichzeitig, um einen Sachverhalt halbwegs plausibel zu beschreiben.
Etwas so Simples wie das Licht benötigt, z.B. die Wellen- und die Korpuskulartheorie, um all seine Phänomene deuten zu können. Man kann sogar beide Theorien experimentell beweisen! Bedeutet das nun, dass Licht gleichzeitig aus Wellen und Teilchen besteht, dass es manchmal das eine und manchmal das andere ist … oder sind beide Theorien fehlerhaft oder unvollständig? Wann weiß man alles über einen bestimmten Vorgang? Was ist die ganze Wahrheit?
Auf all diese Fragen kann ich nur demütig antworten: „Nein, wir wissen es nicht genau, wir nähern uns der Wahrheit mühselig in winzigen Schritten und wir sehen ein, dass wir sie nie vollständig erkennen können.“
Ist es angesichts dieser Tatsachen nicht ein bisschen anmaßend, Regeln für so etwas Diffiziles wie den schöpferischen Prozess zu formulieren? Jeder Mensch ist anders … jeder Autor ist anders. Ganz abgesehen von den Problemen der einzelnen Genres … die inneren Welten und Abläufe können bei verschiedenen Personen so variieren, dass allgemeingültige Regeln auf mich unseriös wirken.
Viele Dichter und Schriftsteller äußern sich nicht zu ihrer Arbeitsweise … wohl wissend, dass man sie dann möglicherweise als Stümper oder Verrückte denunzieren würde. Nur wer, wie Stephen King oder Cornelia Funke, schon sehr fest im Sattel sitzt, kann sich ein Outing leisten.
Die Puritaner unter den Verfassern von Schreibregeln werden nicht müde, Fleiß zu predigen und jeden abzuwatschen, der zugibt, vom Leben und seinen Anforderungen abgelenkt zu werden … oder gar Opfer einer Blockade zu sein.
„Schreibt! Schreibt! Schreibt“ , predigen sie monoton, „und der ersehnte Erfolg wird sich schon von selbst einstellen. Seid keine Schlappschwänze! Schreibt! Oder wir können euch nur als Möchtegernautoren verachten!“
Herrgott! Wenn es danach geht, dürfen nur psychisch extrem robuste Menschen (Soziopathen?) ohne Familie Schriftsteller werden!
Oder kann sich jemand eine Mutter vorstellen, die ihre Kinder hungern lässt, weil sie gerade an einer Geschichte arbeitet?
Einen Vater, der nicht zur Arbeit geht, weil er bei seinem Roman gerade nicht aufhören kann? Der sich weigert, Überstunden zu machen, weil er Zeit für sein superwichtiges Projekt braucht?
Wie weltfremd kann man eigentlich sein? Die Leute würden ihren Job verlieren und ihre Kinder kämen ganz schnell in eine Pflegefamilie …
Wäre es wünschenswert, wenn Literatur nur von Outlaws ohne Pflichten und Bindungen gemacht würde? Könnte sie dann den ganz normalen Mitmenschen noch etwas geben? Wohl kaum.
Ein anderes Problem: Nicht alle Menschen …  und das trifft gerade auf hochsensible Künstler zu …  sind psychisch robust genug für das Leben in unserer kalten und harten Gesellschaft. Viele Menschen leiden heutzutage unter Depressionen und Angstneurosen aller Art. Darf man sie verhöhnen, weil sie manchmal nicht imstande sind, zu arbeiten? Ist das nicht übelste Diskriminierung?
Nein, der Gedanke ist zu gruselig! Also entschuldigt bitte, wenn es mich bei manchen Dogmen einfach nur schüttelt.
Letztendlich zählt nur das Ergebnis … und die Freude, die der Autor beim Schreiben empfunden hat. Ob es dann auch beachtet und gedruckt wird, steht auf einem ganz anderen Blatt.
Ich hatte mich zu DDR-Zeiten damit abgefunden, nie ein Buch herauszubringen. Warum? Ich war den Orthodoxen nicht rot genug und den Dissidenten zu rot.
Und heute bin ich fast wieder so weit, die ganze Sache nicht mehr so wichtig zu nehmen. Der ganze Kommerz ist mir ausgesprochen eklig … ich denke nicht, dass ich deswegen minderwertig bin.

7. Warum sind die nur so wütend?

Es gibt momentan kaum eine Branche, die heftiger boomt als die Beraterfirmen. Ganz unabhängig davon, ob in einem Betrieb oder einer Behörde bereits hochbezahlte Fachleute für eine Sache vorhanden sind oder nicht: Sobald Schwierigkeiten auftreten, werden zusätzliche Experten von außen geholt, die überall herumkriechen, die Mitarbeiter aushorchen und sie bei jedem Handgriff mit Argusaugen beobachten.
Hinterher gibt es jede Menge Säulen- und Törtchendiagramme, Power Point-Präsentationen, Listen, Berechnungen, Meetings …
Die Belegschaft regt sich auf, flitzt hektisch durcheinander, überall breitet sich Chaos aus. Nachdem genug Zeit und Geld verschwendet wurden, kehren die Betroffenen meist irgendwann stillschweigend zu ihren alten Gepflogenheiten zurück. Jedenfalls war das bei uns so, wo die wild gewordenen Analysten am Ende nur marginale Spuren hinterlassen haben.
Irgendein Dämon des Chaos verleitet manche Manager und Erbsenzähler in unsicheren Zeiten zu solchen hysterischen Aktivitäten. Manchmal werden sogar ein paar „zweibeinige Kostenträger“ eingespart, um sich eine besonders schicke Firma leisten zu können.
Man hofft auf die Quadratur des Kreises, 100% Auslastung der Arbeitskräfte oder ein anderes höchst unwahrscheinliches Wunder. Dafür wird das knappe Geld fröhlich zum Fenster hinausgeschmissen.
Beraten lassen kann man sich zu allem: Leben, Liebe, Geld, Politik, Ernährung, Bewegung, Medizin, Gartenarbeit, Hausbau, Tierhaltung … und natürlich auch zum Schreiben von Prosa oder Lyrik. All die Handbücher und Experten versprechen, dass es der Firma oder dem Menschen hinterher großartig gehen wird. Dass die Berater alle Probleme lösen können und ihr Geld wert sind.
Mit Ratgebern und Erfahrungsberichten kann man …  wenn sie eine interessante Nische bedienen …  sogar bei einem On-Demand Verlag gutes Geld verdienen! Zumindest deutet die Tatsache, dass diese Werke besonders oft in den Bestsellerlisten auftauchen, darauf hin. Wie es scheint, vegetiert ein großer Teil der Menschheit am Rande der Verzweiflung und keiner kriegt irgendwas allein auf die Reihe.
Ratgeber und Schulen für Autoren suggerieren dem Verbraucher gern, dass jeder, wenn er fleißig ist und alle Tipps beherzigt, erfolgreiche Bücher schreiben kann: „Sei gelehrig und gehorsam und du kannst irgendwann Geld mit dem Schreiben verdienen. Unsere Firma hat schon viele Autoren gemacht“
Ja sicher, oft können die Anbieter mit einer Reihe beinahe prominenter Namen aufwarten … aber sie verraten nie, wie groß der Prozentsatz jener ist, die es nicht geschafft haben. Vielleicht ist er ja genauso groß wie bei den ungeschulten Schreibern? Ich gebe zu, das ist reine Spekulation …
Was all diesen Experten gründlich zuwider ist, sind Begriffe wie Talent, Inspiration, Musen oder gar Erleuchtung. Es ist schon klar: Wenn die Kunden wüssten, dass auch die allerfeinsten Ratschläge nur jenen helfen, die in ihren Herzen Poeten und Geschichtenerzähler sind, würde die Kundschaft abrupt zusammenschrumpfen. Und wenn dann diese Auserwählten auch noch eigenen Wege suchen oder sich gegenseitig helfen würden, wäre das ganze Geschäft geplatzt.
Und so werden halt kindliche Allmachtsfantasien geschürt und den Leuten eingeredet, dass es beim schöpferischen Prozess keinerlei Geheimnisse gäbe … nur Arbeit und Handwerk … und noch einmal Arbeit und Handwerk. Dass Schreiben wie Brötchen backen oder Haare schnippeln wäre.
So entstehen ganze Rudel belangloser Geschichten und Gedichte. Man schnappt sich einen Schnipsel der Realität … etwa einen Mann, der vor einem Teller Bratkartoffeln sitzt … und bastelt eine Story darum, in der jedes Schräubchen und jedes Zahnrad perfekt am richtigen Platz sitzt. Das Ganze rutscht sogar ziemlich bereitwillig ins Bewusstsein …  will sagen, liest sich gar nicht mal schlecht …  aber der kritische Leser fragt sich hinterher, warum er eigentlich kostbare Lebenszeit auf die Beschäftigung mit längst bekannten Sachverhalten verschwendet hat …
Spätestens jetzt werden manche „Werkstattleiter“ und ihre Kundschaft den heftigen Wunsch verspüren, mich zu steinigen oder mir wenigstens die unheiligen Finger, mit denen ich diesen Text getippt habe, abzuhacken. Deshalb höre ich jetzt besser auf. Ich ziehe mich in meinen Tempel …  in dem sich natürlich auch ein Schmiedefeuer, ein Amboss und ein handliches Sortiment Feilen befinden …  zurück. Mögen Apollo und die altmodischen Musen mir gnädig sein! Und Hephaistos, der für die Liebe zum Material und die Lust am Schmieden, Feilen und Polieren steht.

Fazit

Werkstatt oder Tempel … Handwerk oder Inspiration? In dieser Form ist die Frage sinnlos. Es muss konsequent heißen: Inspiration und Handwerk. Man beachte hier die Reihenfolge: Erst kommt die Idee und dann die Ausarbeitung derselben!
Es hängt von vielen Faktoren ab, wie groß der Anteil der Inspiration an einem Kunstwerk ist. Unter anderem von der psychischen Struktur des Autors, seiner Biografie und dem Genre, dem er sich gerade widmet.
Lasst euch also nicht durch Binsenweisheiten ins Bockshorn jagen.
Bleibt so bescheiden, realistisch, inspiriert und selbstständig wie bisher. Und schämt euch nicht, wenn ihr länger träumt, als feilt. Und manchmal auch Schreibblockaden habt. Ihr seid schließlich lebendige Menschen und keine Schreibroboter.

© 2007 by Anneliese Wipperling

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