Der kleine Toni lebt in seiner eigenen Welt. Nicht einmal seiner Mutter gelingt es, zu ihm durchzudringen. Da taucht ein herrenloses Kätzchen auf und alles wird anders …
Kurzgeschichte von Gabriele Scharf
Sie kam zu uns in einem kleinen Schuhkarton. Er stand neben den Mülltonnen und ich hörte das klägliche und fiepende Miauen. Als ich den verschmutzten Deckel zur Seite schob, sah ich diese großen grünen Augen mit gelben Punkten, die mich unverwandt ansahen. Es war das Einzige bei diesem kleinen verschmutzen und mit Ungeziefer behafteten Wesen, was noch Funken des Lebens in sich trug.
Behutsam hob ich das kleine Wesen hoch. Ihr Kopf fiel schlaff auf meine Hand, während ihr Körper zitterte und bebte.
Was hat man dir nur angetan?
Ich wollte die Antwort darauf gar nicht wissen, sondern ging schnell zum Haus und die Treppe hinauf. Als ich den Schlüssel in der Wohnungstür drehte, hielt ich für kurze Zeit ein. Konnte ich die Kleine mitnehmen? Was ist mit …?
Leise öffnete ich die Tür. Im Korridor war er nicht. Durch die angelehnte Tür des Kinderzimmers sah ich ihn, wie er monoton vor sich hinschaukelte. Ohne ein Wort, ohne eine weitere Regung.
Ein klägliches ‘Miau’ ließ meinen Blick wieder auf das schwarze Etwas auf meinen Arm fallen.
Ich sah noch einmal kurz zu Toni.
Keine Regung bei ihm.
„Toni? … Toni!”
Mein Sohn drehte nicht einmal seinen Kopf.
Große grüne Augen mit gelben Punkten sahen mich wieder an. Nur noch schwach hielt sie ihren Kopf.
„Es wird schon gut gehen … was meinst du?”
„Miau.”
„Toni wird Angst vor dir haben, wir müssen also sehr behutsam sein.”
Sie schmiegte den Kopf an meine Hand und sah mich dann wieder an. Fast so, als würde sie genau wissen, wovon ich sprach.
„Und was machen wir zuerst mit dir? Waschen oder füttern?”
Die kleine Pfote versuchte, an das verschmutzte Fell zu kommen.
„Ich verstehe … na dann wollen wir mal …”
Mit einem halb verhungerten Kätzchen auf dem Arm suchte ich Handtücher, Decke und ein mildes Shampoo zusammen, schaltete das Rotlicht im Bad ein und ließ ein wenig Wasser in die Wanne. War ich zuerst skeptisch, ob die Kleine sich das gefallen ließ, hörte ich verwundert ihrem Schnurren zu, als ich sie sanft wusch.
„Gleich gehen wir zum Tierarzt, wenn Tonis Therapeutin kommt. Dann wirst du auch gleich das ganze Ungeziefer los sein.”
Während ich so mit ihr sprach, trocknete ich sie genauso vorsichtig ab, wie ich sie gewaschen hatte. Da ich wusste, dass Milch nicht das Richtige für sie war, gab ich ihr nur ein klein wenig Wasser zu trinken.
Immer wenn Toni fast lautlos hinter mir stand, merkte ich es sofort. Er hatte eine Art genauso lautlos zu gehen. Mein Herz klopfte plötzlich ein wenig schneller. Wie würde er reagieren? Würde er anfangen mit Schreien, wenn er das Kätzchen sah?
Würde er in sein Zimmer rennen und sich auf den Boden hocken?
Doch Toni tat nichts dergleichen. Er stand einfach da und sah an uns vorbei.
Nur ich wusste ganz genau, dass dieser Blick Interesse symbolisierte. In Wirklichkeit sah er jedes Detail von mir … und von unserem Besucher.
Als die Türglocke schellte, drehte er sich um und ging langsam zur Wohnungstür. Seine Therapeutin war gekommen. Den einzigen Erwachsenen außer mir, zu dem er ging und mit dem er kommunizierte – ohne Worte.
Tief atmete ich aus.
„Ich glaube, er hat nichts dagegen, wenn du bleibst.”
Große grüne Augen mit gelben Punkten leuchteten.
Unser neues Familienmitglied eroberte sich in Sturm die Wohnung. Sie wusste ganz genau, wo etwas zu finden war. Ob zu spielen, zu essen und auch ihre Katzentoilette. Hinaus lassen wollte ich sie erst einmal nicht, bis sie sich vollkommen erholt hatte. Aber auch so machte sie keine Anstalten, hinaus zu wollen. Der beginnende Winter hielt sie davon wohl ab oder aber unsere Couch mit den vielen weichen Kissen, die ich eigentlich für Toni gekauft hatte. Nun kuschelte sie sich hinein und gab uns durch ihr Schnurren ihr Wohlbefinden zum Ausdruck. Nur bei einem Zimmer hielt sie vor der geöffneten Tür mit Respekt Abstand.
Niemals ging sie in das Kinderzimmer, auch wenn Toni nicht da war.
Sie setzte sich auf ihre Hinterpfoten und mit gestrecktem Oberkörper ließ sie ihren Blick interessiert über Kinderbett, Schrank und Spielzeug streifen. In diesen Momenten erinnerte sie mich an Bastet.
Obwohl sie mir immer hinterlief, dorthin folgte sie mir nicht. Sie wartete geduldig, bis ich das Zimmer aufgeräumt hatte. Und noch etwas anderes fiel mir auf.
Wenn Toni zu mir kam, zog sie sich zurück. Sie hörte seine lautlosen Schritte eher als ich und sprang mitten im Schnurrsingsang von meinem Schoß und hielt Abstand. Wenn Toni dann an ihr vorbeisah, ging sie sogar aus dem Zimmer.
Erst danach kletterte mein kleiner Sohn auf meine Knie und ließ seinen Kopf an meiner Schulter ruhen.
Ich streichelte Toni sanft. Er hatte das gern, auch wenn Autisten immer etwas anderes nachgesagt wird.
„Toni, es wird langsam Zeit …”
Keine Reaktion, trotzdem fuhr ich unvermittelt fort: ” … dass wir dem Kätzchen einen Namen geben. Meinst du nicht auch?”
Keine Regung.
„Soll ich dir eine Geschichte erzählen?”
Kurz sah mich Toni an und wendete gleich darauf seinen Blick wieder dem Muster der unzähligen weichen Kissen zu.
Gott sandte einmal einen Engel auf die Erde. Er musste es tun, weil die Menschen seine Hilfe brauchten. Nager vernichteten die Ernte und noch einige andere schlimme Dinge passierten. Der Engel hieß Felis und half den Kindern Gottes.”
Toni änderte seine Körperhaltung. Er machte es sich bequem und überließ mir seine Hand. Ich hatte also seine Aufmerksamkeit.
Lächelnd fuhr ich fort: „Felis war ein wunderschöner Engel, er bekam von Gott eine Gestalt, die es so noch nie auf Erden gab. Die Gestalt einer Katze. So war es das schönste Raubtier unter allen auf der Erde und half immer wieder den Menschen, wenn sie es gut behüteten.” Ich merkte die Veränderung nicht gleich, doch plötzlich wurde mir bewusst, dass Toni weder auf meine Hand noch auf das Muster der Kissen blickte. Er sah geradeaus. Ich hielt den Atem an. Vor uns saß die kleine Katze mit leicht geneigtem Kopf und ihre Augen zwinkerten Toni zu.
Es war immer wieder wie ein Wunder, wenn es Toni tat. Er tat es nicht oft und immer wieder war ich unendlich dankbar, wenn seine Lippen einen anderen Ausdruck annahmen, sich öffneten und für ihn ungewöhnliche Laute hervorbrachten.
Toni lachte.
Es sollten noch Wochen vergehen, bis die beiden sich nicht mehr aus dem Wege gingen. Zwar machte unser Findelkind immer noch Platz, wenn Toni zu mir kam, ging aber nicht mehr aus dem Zimmer. Aufmerksam blickten sie sich an. Toni sah nicht mehr vorbei. Ich glaubte hier schon an ein Wunder, doch das Eigentliche kam erst Wochen später.
Sorgsam wusch ich die Futterschalen aus und füllt sie neu. Mein Blick suchte das Kätzchen, welches sich in diesen Wochen zu einer wunderschönen Katze gemausert hatte. Ihr schwarzes Fell glänzte und noch mehr ihre Augen, die ich für sehr geheimnisvoll hielt.
Doch sie war nicht da.
Irritiert sah ich mich um. Normalerweise ließ sie diese Zeit nie aus. Fast pünktlich kam sie zu ihrem Futter. Plötzlich hielt ich ein mit meinem suchenden Blick. Ohne jede Regung stand ich da, als ich Laute hörte, die ich so noch nie gehört hatte.
Leise ging ich ihnen nach.
Im Korridor wurden sie deutlicher.
„Ka … Kat …”
In dem Moment, als ich am Kinderzimmer ankam, stand ich wie gelähmt davor und sah auf eine Katze, die bei meinem Sohn saß und ihn herausfordernd anblickte.
Toni wandte nicht den Blick ab und ich wagte nicht, laut zu atmen.
„Kat … Kat … Kat … Se”
Erst langsam und deutlich, plötzlich wurden die Laute triumphierend: „Kat-se!”
Die kleine Pfote unseres Hausgenossen zeigte mutig auf Toni. Noch einen Schritt ging sie näher zu ihm. Dann tat Toni etwas, was er sonst nie tat.
Er mochte nicht die Berührungen von Frotteehandtüchern, er konnte nicht einmal einen Pfirsich in der Hand halten. Jedes Mal schüttelte er sich.
Doch jetzt streichelte er diese Katze vorsichtig.
Dann sah er auf und entdeckte mich.
Lächelnd und dann wieder ernst vor sich hinblickend kamen neue Laute: „M … M …”
Ich merkte, wie in meinen Augen Tränen hochstiegen.
„M … Ma … Ma …”
Tonis Gesichtsausdruck nahm einen konzentrierten Ausdruck an. Wie sehr musste er sich anstrengen. Ich sah es daran, dass seine Hände leicht zitterten.
Er hob eine Hand, streckte seinen Arm nach unserem Findelkind aus: „Ma … Ma … Kat-se …”
Toni war vier Jahre alt.
Er hatte bis zu diesem Tag noch nie gesprochen.
Dann kam ein Engel zu uns in einem schmutzigen Schuhkarton, den irgendwer in den Müll geworfen hatte.
© Copyright by Gabi Scharf
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