Die Barriere

Deutschland in nicht allzu ferner Zukunft: Die Menschen leben in versmogten Städten in ständiger Existenzangst. Auch die Schriftstellerin Isabelle, die sich mit Schundromanen über Wasser hält. Jenseits des zynischen Literaturbetriebs findet sie ihre wahre Bestimmung – aber die Umstände sind mehr als nur ein bisschen verrückt …

 SF-Story von Gabriele Scharf 

Vielleicht werden wir einmal mit der Frage konfrontiert, aus einem brennenden Haus uns selbst oder andere zu retten …

 

„Großartig, ganz einfach … also mir fehlen die Worte … die Sintflut in der Wüste und Außerirdische, die … famos, ganz famos …”

Die Zuhörerin schien sich zu langweilen, aber dem im Raum hin- und hergehenden Mann schien das gar nicht aufzufallen. Er schwang sein Cognacglas und ergab sich wie die Sintflut in der Wüste weiteren Schmeicheleien.

„Das wird der Hit in unserer Fortsetzungsreihe ‘Geheimmission Erde’, Olvedi, ich danke Ihnen!”

Ein paar Minuten später verließ eine Frau, welche die dreißig längst überschritten hatte, das Verlagshaus und ärgerte sich wieder einmal über ihren eigenen Schund. Der Scheck mit einer runden Summe, welche sie die nächsten drei Monate überleben ließ, tröstete sie darüber hinweg.

Blinzelnd sah sie zur verglasten Fassade des Gebäudes hoch, kniff die Lippen zusammen und beherrschte sich, nicht laut loszuheulen oder gar zu schreien. Dieses verdammte Leben war schwer genug.

Warum sich selbst kasteien? Immerhin ging es ihr noch besser, als all jenen, welche die globale Wirtschaftskrise in der Mitte des Jahrtausends in den Ruin getrieben hatte. Und davon gab es viel zu viele. Sie konnte sich den Luxus erlauben, in einem Appartement außerhalb einer versmogten Stadt zu wohnen und obendrein Schundromane zu schreiben.

Sie lächelte bitter. Die Menschen mochten in ihrer fast nichtexistenziellen Lage lieber Sci-Fi lesen mit der Aussicht auf eine Zukunft, als ihrer Gegenwart eine zu geben.

Vor zehn Jahren glaubte sie noch an so etwas wie Literatur als Kunstform. Sie schrieb Gefühle. Nicht mehr und nicht weniger. Es gab eine Fülle davon in ihrem Leben. Nur hielten sie diese nicht über Wasser oder über dem Smog. Eines Tages setzte sie sich vor ihren Multidisplay und diktierte dem seelenlosen Rechner eine Sci-Fi-Story, angereichert mit ihrem eigenen Sarkasmus. Dort gab es einen Helden, der die Rechner abschaltete und die Menschen zwang, sich mit der übrig gebliebenen Natur auseinander zu setzen. Selbstverständlich rettete er damit die Welt, die dem Untergang geweiht war. Die Story wurde ein Bestseller in „Geheimmission Erde”, einem für sie unakzeptablem Magazin. Aber ihr Multidisplay war in Gefahr, samt Wand und dazugehöriger Wohnung. Aus Verzweiflung nahm sie an dem Nachwuchsautorenausschreiben teil und gewann den ersten Preis und den ersten Scheck, den sie mit dem Schreiben verdiente. Ihre Bank honorierte dies, indem sie nicht das Konto schloss.

Seitdem trieb sie ihr Unwesen als Alexander Olvedi.

Dieses berechtigte sie seitdem nicht in der Stadt zu leben, sondern im luxuriösen smogfreien Umland.

Ihre eigenen Helden nahm sie samt Rechner mit in eine neue Wohnung. Sie ließ sie leben – ohne sie jemals zu veröffentlichen. Warum auch? Die Menschen waren an schnellen Lösungen in Heldengeschichten interessiert, die nicht länger als zehn Minuten in Anspruch nahmen, immerhin konnte man es sich nicht leisten, Zeit zu verschwenden, Credits sowieso nicht. Oder man musste damit rechnen, in einem Lager zu existieren, welches dazu gedacht war, die über eine Milliarde Obdachlosen aus der westlichen Hemisphäre aufzunehmen, damit sie nicht ihre Mitmenschen belästigen.

Sie nahm einen großen Schluck des orangefarbenen Weins. Nein! Das nicht! Dann doch eher … was soll es diesmal sein: vielleicht ein genervter Geschäftsmann, der plötzlich damit konfrontiert wird, die Welt zu retten. Sie sah in ihrem Memory nach: Viele Möglichkeiten blieben ihr nicht mehr. Sie hatte alles durchgespielt. Nur an Zeitreisen hatte sie sich nie herangewagt. Es war zu kompliziert. Quantenmechanik, Springs, New Physika und nicht zu vergessen: die gute alte Relativitätstheorie. Was für ein Durcheinander.

Leserbriefe mit Kommentaren der etwas negativen Art konnte und wollte sie sich nicht leisten. Was blieb dann noch … Sci-Fi war so durchgekaut, so langweilig, so … so … sie vergaß einen Moment lang Smog und Lager für Obdachlose und dachte an ihre Heldin, eine ganz normale Frau …

Sie nahm nicht nur einen, sondern mehrere Schlucke aus ihrem Glas. Alexander Olvedi, denk daran, dass du nicht nur darauf verzichten müsstest …

Irgendwann schlief sie vor ihrem Multidisplay ein, welches die ganze Wand in ihrem Wohnzimmer einnahm. Nach einer Stunde schaltete es sich selbstständig ab mit all den guten und schlechten Nachrichten, die sie für den Empfänger parat hatte. Auch mit ihrer Heldin, die mit ihrer Geschichte im Datennirwana versank.

„Müll! Müll! Ganz großer Müll!”, wütend schleuderte sie wieder ein Papierknäuel auf den Boden und beobachtete genüsslich, wie ihr Robot innerhalb weniger Sekunden den nicht dahin gehörenden Fremdkörper aufgespürt und entsorgt hatte. Sie atmete tief aus und ein. Wenn sie weiter so mit knappen Ressourcen umging, konnte das ihre Existenz gefährden. Eine Schreibblockade, wie jene, die sie seit Wochen hatte, allerdings auch. Immer wenn sie in dieses Loch fiel, hörte sie auf, dem Multidisplay zu diktieren und nahm altmodisches Papier und Stift, um ihre Gedanken aufzuschreiben. Sie lachte kurz auf. Auch das trug zu dem exzentrischen Ruf eines Alexander Olvedi bei.

Nur half das diesmal nicht. Sie sah zum Multidisplay und kochte innerlich vor Wut, dass sie den Philosophen aufsuchte. Sie wusste, dass der Name nur einem Avatar gehörte, der sie gnadenlos verspottete, seltsamerweise aber ab und zu half. Und Hilfe hatte sie jetzt dringend nötig.

„Sicher, du verlierst sonst dein hübsches Häuschen.” Den Spott in seiner Stimme nahm sie nur allzu gut wahr.

„Hilfst du mir nun oder nicht?”

„Wie viel?”

Sie überlegte einen kurzen Moment: „20 000 Credits.”

„So schlimm diesmal?”

Sie sagte nichts dazu und wartete.

„Gut, ich habe hier Daten einer Ausgrabung. Gerüchten zufolge ist eine anachronistische Waffe gefunden worden und noch mehr …”

Sie war plötzlich nicht mehr wütend. Die Neugier keimte.

„Und?”

Der Avatar verharrte einen kurzen Moment und hob den rechten Zeigefinger. Sie wusste, dass es das vereinbarte Signal war und stellte auf Sekretmodus um. Egal, wer jetzt noch schnüffelte, diese Sicherung konnte man in den nächsten dreißig Sekunden nicht durchbrechen und diese reichten vollkommen.

Was sie erhielt, erfreute sie sichtlich. Mit einem Glas Wein begutachtete sie die sichergestellten Daten in ihrer Transmediabox. So dumm, sie im Multisystem zu behalten war sie nicht. Das Gerücht war seine 20 000 Credits wert.

Östlich von Munic III sollte sich ein riesiger Ausgrabungsort befinden und dort hatte man tatsächlich eine anachronistische Waffe gefunden. Sie überlegte nur kurz, sie hatte von Atomwaffen gehört irgendwann, als sie sich noch im Lernmodus befand. Das beste an der Story war jedoch, dass man gleichzeitig Daten gefunden hatte und sie sogar nach ein paar Tagen entschlüsselt hatte. Irgendwelche kryptischen Zeichen und wohlbekannte Zahlen leuchteten in der Transmediabox auf. Na, wenn das keine Story ist!

Sie kopierte entschlossen die Fakten, umschloss sie mit ihren eigenen Worten und kreierte einen Helden namens Frank, wie sie fand ein schöner nostalgischer Name. Lächelnd loggte sie sich eine halbe Stunde später in das System des Verlages ein und überspielte die Story. Manchmal musste sie nur ein bis zwei Wochen warten, manchmal nur ein paar Tage und konnte wieder einen Scheck entgegennehmen. Sie schloss beruhigt Wetten mit sich selbst ab, wie lange es diesmal dauern würde, denn sie hatte noch für zwei Monate Credits.

Immer noch zufrieden lächelte sie und nahm dabei einen großen Schluck des köstlichen Weins – purer Luxus – und deshalb genoss sie ihn auch und wusste, dass sie auch noch weiter genießen konnte.

 

Sie verlor ihre Wette. Der große Alexander Olvedi hatte nach ein paar Tagen keinen Scheck in den Händen. Sie dachte unwillkürlich an einen neuen Nachwuchsautor und die Angst nahm sie für einen Moment gefangen. Das tat sie immer in dieser Situation und wie immer ging sie hinaus und fuhr in einem Traum von Chrom-Blau die verlassene Straße Richtung Alpen entlang. Ihren neuen Designerwagen musste sie nicht lange fahren. Sie wollte schließlich nicht ins Katastrophengebiet fahren, sondern nur auf einen kleinen unscheinbaren Sandfleck inmitten eines braun-grünen Etwas, das irgendwann mal ein Wald gewesen sein musste. Mühsam kämpfte sie sich durch das verdorrte Dickicht und gelangte dann auf einen schmalen Pfad. Es war ihr eigener. Nur sie hatte ihn geschaffen, so oft war sie einer Angst der Nichtexistenz schon ausgeliefert gewesen. Wenn sie etwas behalten hatte, dann die Ehrlichkeit vor sich selbst.

Schwer atmend von der ungewohnten Bewegung ihres Körpers nahm sie auf einen verdorrten Grasfleck Platz und sah in die künstlich angelegte endlos erscheinende Schlucht, der ein großes Tal folgte. Sie sah dort Menschen wie Ameisen zwischen hässlichen Gebäuden wimmeln: Namenlose.

Sie senkte die Augen. Sie hatte es nicht nur einmal erlebt als sie noch im Smog von Munic III lebte. Die Stadt wurde regelmäßig gesäubert. Nicht vom Smog. Sondern von denen, die spätabends oder in der Nacht noch keine Bleibe hatten. Die vergeblich an den Türen der geöffneten Vergnügungslokalitäten scheiterten. Keine Credits, keine Wohnung, kein Mensch, der sie kennen wollte. Irgendwann verschwanden sie hier. Namenlos. Die Regierung hatte schon vor Jahren darauf verzichtet, kostbare Datenressourcen mit Namen und dazugehörigen Daten dieser Obdachlosen zu füllen. Sie kamen hierher und wurden über Nacht namenlos …

… aber immerhin, sie hatten zu essen und irgendwie ein Dach über den Kopf. Sie wusste, dass sie lieber freiwillig hierher gehen würde, als dass sie sich von der Straße schleifen ließ, wenn die Schecks ausbleiben sollten. Die schmale Lücke eines Tores im Hochsicherheitszaun war für jeden offen … der hineinwollte … und dann … keine Rückkehr …

Hinter ihr hörte sie plötzlich einen dürren Ast brechen. Nur wenige Schrecksekunden lang war ihr Körper gelähmt. Langsam drehte sie sich um.

„Isabell?”

Vor ihr stand eine Frau, nicht viel älter als sie selbst. Woher kannte sie …?

Sie konnte ihren Gedankengang nicht zu Ende führen, nur ihre Augenbrauen zogen sich tief zusammen, als die Fremde erneut sprach.

„Oder sollte ich lieber sagen: Alexander Olvedi?”

 

Sie hat warme Augen. Nichts anderes fiel Isabell ein.

So warme Augen.

Als die Fremde zögerlich einen Schritt auf sie zuging, ging ein Ruck durch Isabell. Mit einem Mal wurde sie ihrer Lage bewusst. Sie war an ihrem Ort. Einem, den keiner kennen konnte. Einem, der ihr immer wieder vor Augen führte, wie vergänglich ihr klägliches luxuriöses Leben war.

Langsam stand Isabell auf und immer noch gebannt sah sie in die Augen der Fremden.

„Wer sind sie?”, wie ein Hauch kam es über ihre Lippen.

Die Fremde lächelte sie offen an. Nichts Verstecktes war in ihrem Gesicht zu lesen.

„Das spielt keine Rolle. Ich habe sie gefunden, nur das allein zählt!”

Isabell schossen bruchstückhafte Gedanken durch ihr Hirn. War sie vielleicht ein übergeschnappter Fan, der sie beobachtete, der ihr gefolgt war?

„Ich bin keiner ihrer Fans … jedenfalls nicht dieser Art.”, so sprach die Fremde, als ob sie Gedanken erraten könnte.

Isabell öffnete den Mund, konnte aber nichts sagen.

„Sie fragen sich sicher, was ich von ihnen möchte?”

Die Fremde ging ein paar Schritte und stand nun genau vor ihr. Sie war kleiner als Isabell und musste zu ihr hinaufschauen. Isabell fiel auf, dass ihr Körper sehr zart und zerbrechlich schien.

Die Fremde streckte ihre Hand aus, Isabell musste, ob sie wollte oder nicht, darauf sehen. Eine Minidisk leuchte in den Farben des Spektrums in der Hand der Fremden.

„Ich möchte, dass sie das lesen.”

Noch immer hielt die Fremde ihr die Minidisk hin, doch Isabell rührte sich nicht.

„Bitte!”

Diese Bitte brachte wieder Leben in Isabell. Diese Begegnung war für sie so überraschend und nicht fassbar, dass sie nur noch eines konnte: wegrennen. Während trockene Äste sie aufhalten wollten, als sie den verborgenen Pfad entlang rannte, hörte sie hinter sich die Fremde, die ihr folgte.

Erst an ihrem Wagen holte Isabell tief Luft. Sie hatte nicht einmal die Tür geöffnet, als die Fremde hinter ihr stand und sie eindringlich beschwor: „Bitte, Isabell, sie müssen das lesen. Ich kann ihnen jetzt noch nicht erklären warum, aber wenn sie möchten, dann treffen wir uns morgen Abend im Blue Moon in Munic III. Bitte!”

Isabell sah wieder zu ihr. Sie sah zwei warme Augen und eine Hand, die ihr den kleinen unscheinbaren Gegenstand hinhielt.

Erst zögerte ihre Hand, dann nahm sie jedoch mit einer entschlossenen Geste die Minidisk, stieg in ihren Wagen und ließ die Fremde am Straßenrand allein.

Zu Hause grübelte sie darüber, warum sie sich fast schon panisch verhalten hatte. Vielleicht weil ihr unterbewusst klar wurde, dass diese Begegnung alles andere als normal und gegeben war. Vielleicht ahnte ihr Inneres Ich, dass sie Angst haben musste, vor dem was sie lesen würde.

Auf ihren Couchtisch lag die Minidisk, schimmerte und lockte.

„Nun gut, ich werde nie erfahren, wenn ich es nicht lese, was mich da in Angst versetzt hat. Vielleicht … ist es nur ein dummer Scherz …”

Entschlossen nahm Isabell den unscheinbaren Gegenstand und aktivierte ihr Multidisplay. Buchstaben wurden zu Worten, Worte zu Sätzen, die Isabell las. Ihr wurde begreiflich, warum die Fremde ihren Ort kannte, denn auch er stand in Worten vor ihr, trotzdem konnte sie nicht glauben, was sie las:

 

Der grelle Blitz an der Anschlussstelle East Munic III ließ sie für einen kurzen Moment die Augen schließen. Als sie die Lider wieder hob, sah sie den riesigen Rauchpilz, der sich faszinierend schön in die Atmosphäre erhob. Ihr Atem ging stoßweise … da war die Stadt … mit Smog und doch … Millionen … nicht mehr existent.

Dann setzten ihre Gedanken für Sekunden aus. Ihr Wagen war automatisch stehen geblieben. Ihre Uhr auch, sie zeigte eine Minute nach zehn. Sie dachte an Frank … nein „Schatten” war doch nur … nein war es nicht, kein Schund und nicht nur eine Geschichte …

Ein eiskalter Hauch ließ sie an die Codes denken, jene kryptischen Zeichen, die sie eins zu eins übernommen hatte. Sie wusste auch, dass die Druckwelle bald kommen würde.

Die Hand umklammerte fest die Steuerung. Genauso wie die Druckwelle ihren Wagen. Sie sah noch, wie der vor ihr Stehende hoch in die Luft geschleudert wurde und sie selbst aus ihren Wagen. Ein Traum aus Blau und Chrom wurde kurz danach von gewaltigen Kräften zwischen Himmel und Erde zusammengepresst und letztendlich hinabgeschleudert und blieb als Metallklumpen zwischen Braun-Grün liegen …

 

„Halt!”

Das Multidisplay nahm sekundenschnell ihren Befehl entgegen.

„Letzte Seite und Statistik!”

Der Befehl wurde prompt ausgeführt. Buchstaben tanzten vor ihren Augen, bildeten Sätze, die nur ihr geheimes Ich kennen konnte. Doch den Schluss wollte sie gar nicht lesen und so konzentrierte sie sich auf die Stimme, die ihr Rechner generierte.

„Seiten 601, Status: Veröffentlicht 4010, Autor: Isabell de Faulian, geboren 2466 in Munic III , gestor …”

„Halt!”

Die Stimme verstummte.

Isabell fuhr sich über Augen und Stirn. Ihre Hand blieb auf ihren Mund liegen, als sie das Multidisplay anstarrte, ohne wirklich etwas erkennen zu wollen. Kalter Schweiß brach aus und veranlasste ihren Körper zu zittern.

Wenn das ein Scherz war, dann einer, der unter allem Niveau war – vor allen Dingen, weil er sie traf und wenn es keiner war … ihr Atem ging nur noch stoßweise. Sie versuchte, sich zu konzentrieren: Nehmen wir an, es ist ein Scherz. Wer außer ihr und dem Leser eines Buches wusste, dass sie oft zu dem Platz ging, von dem sie das Lager beobachten konnte? Dabei außer acht lassend, dass das Buch noch gar nicht veröffentlicht sein konnte, weil sie es nicht zu Ende geschrieben hatte bzw. dieses Kapitel überhaupt nicht.

Nehmen wir weiter an, sie hat das Buch nicht geschrieben? Warum waren dann Gedanken darin beschrieben und „gefühlt”, die niemand außer ihr wusste? Und wer kannte ihr Todesdatum? Sie kannte es nicht und wollte es auch gar nicht wissen.

Doch vielleicht war das Todesdatum ebenfalls zugehörig zu einem schlechten Scherz …

Ihre Gedanken fingen an, sich im Kreis zu drehen.

Isabell wusste sich dennoch wieder zu konzentrieren: Wissen konnten andere von ihrem Geburtsdatum, ihrem richtigen Namen, unter dem sie noch nie etwas veröffentlicht hatte und … die Story von der Ausgrabung … Sie überlegte kurz und rief das Multidisplay auf. Sie musste nur Minuten warten, um den Avatar des Philosophen zu sprechen.

„Glaubst du an Zeitreisen?”

„Wenn sie noch mehr Macht und Reichtum versprechen und die richtige Lobby haben …”

„Ja oder nein!”, sie wurde ungeduldig.

„Ich glaube eher an die südliche Allianz, das Chaos und die Millionen …”

„Afrika ist eine Wüste!” Langsam wurde sie wütend. Sie wusste nur nicht genau, ob auf sich oder den Philosophavatar.

„So, ist sie das?”

„Natürlich was sonst.”

„Hast du mal versucht, dorthin zu reisen?”

„Wieso sollte ich? Dort kann man nicht leben!”

„Wieso solltest du in der Zeit reisen?”

Sie holte tief Luft. Sie hatte eindeutig den falschen Gesprächspartner.

„Na, weiß der große Alexander keine Antwort mehr …”

„Ich heiße Isabell du …” Sie unterdrückte den Rest in ihrem Fauchen und beendete die Verbindung.

Entschlossen holte sie ihren Mantel, zog sich an und fuhr so schnell sie konnte nach Munic III.

So schnell sie konnte hieß an diesem Abend, dass sie wie tausend andere im gigantischen Stau steckte. Erst Stunden später kam sie in einem der Vorstadtviertel an. Hier waren Vergnügungslokalitäten, hier war auch der Ort, den ihr die Fremde nannte, um sich mit ihr zu treffen. Allerdings war hier auch nicht gleich wann. Isabell wusste, dass der Treffzeitpunkt schon zwei Tage verstrichen war. Sie hoffte, die Fremde trotzdem wiederzusehen.

Resolut hielt Isabell drei Stunden später einem Uniformierten ihre Privatcard vor die Augen. Selbst in dunkelster Nacht musste er mit einem Blick den Platinstreifen erkennen, der Isabell zu den obersten Zehntausend einordnete.

„So, ein Missverständnis?”

Die Frage des Uniformierten war Isabell eine Spur zu arrogant.

„Ja! Ein Missverständnis. Sie gehört zu mir und ich rate ihnen, sie sofort loszulassen. Oder sie sind in ein paar Sekunden ihren Job los!”

Zufrieden sah Isabell wie das Gesicht des Mannes für einen kurzen Moment blass wurde. Er überlegte nicht lang und öffnete die Handschellen, die er Minuten zuvor einer Frau angelegt hatte.

Isabell war froh, dass sie suchend durch das Viertel gegangen war, als sie die Fremde im „Blue Moon” nicht antraf. Sie malte sich lieber nicht aus, wie diese die letzten zwei Tage ohne Ausweis hier überlebt hatte.

Isabell nahm ihren Arm und zog sie mit sich fort. Sie wollte so schnell ohne jedoch sehr aufzufallen weg von diesem Ort und den Uniformierten. Sie dankte dabei Gott, dass ihre Zeitgenossen mehr als gleichgültig gegenüber Säuberungen waren.

 

„Danke!”

Isabell sah auf die kleine schmächtige Frau, der sie ein Glas ihres besten Weines zu trinken gegeben hatte. Gegen die Wand gelehnt und mit verschränkten Armen beobachtete sie, wie die Fremde davon kleine Schlucke nahm und dann erschöpft und mit zittriger Hand das Glas auf den Couchtisch abstellte.

„Sie haben sicher Fragen, Isabell …” Schwach war ihre Stimme, zu schwach, um nur nach dem nachklingenden Schock ihrer Verhaftung zu klingen. Doch Isabell konnte jetzt darauf keine Rücksicht nehmen. Ihre Gedankenfetzen ließen sie nichts Vernünftiges artikulieren. Sie holte tief Luft, ließ die Arme sinken und trat näher zur Couch.

„Wieso komme ich auf die Idee, einen atomaren Gau zu beschreiben?”

„Weil sie ihn erlebt haben.”

Isabell wunderte sich plötzlich überhaupt nicht mehr. Sie fragte weiter.

„Und dann …?”

„Haben sie das Buch nicht weitergelesen?”

„Nein.”

Die Fremde sah sie erstaunt an. Sie überlegte kurz, wie viel Isabell wohl wissen wollte.

„Sie überlebten und mit anderen zogen sie sich in die Alpen zurück. Dort schrieben sie ihr Buch zu Ende.”

Isabells Augenbrauen zogen sich zusammen. Irgendetwas erschien ihr nicht logisch.

„Wieso bekam Munic III keine Hilfe von der westlichen Welt?”

„Wir vermuten, dass es eine Kettenreaktion gab, absichtlich ausgelöst von der südlichen Allianz. Wie sich herausstellte, war das jedoch ein Fehler. Der Hunger verschlimmerte sich nur noch mehr. Die südliche Allianz überlebte zwar, stürzte jedoch ins Chaos.”

Jetzt musste sich Isabell setzen. Sie dachte an das Gespräch mit dem Avatar des Philosphen. War das, was sie von Afrika und Asien gelernt hatte, eine Lüge?

„Wieso ich, warum kamen sie zu mir?”

Die Fremde zögerte auch diesmal nicht mit ihrer Antwort.

„Es gibt eine Barriere im Zeit-Raum-Kontinuum. Wir vermuten, dass sie mit dem atomaren Gau zusammenhängt. Wir haben, als wir wieder zur Erde zurückkehrten, nur Fragmente gefunden in der westlichen Hemisphäre.”

„Mein Buch?”

„Ja!”

„Auf die Erde zurückgekehrt?”

Jetzt lächelte die Fremde: „Mein genetischer Vorfahr lebte auf der Mondbasis.”

Isabell sah fassungslos zu ihr. Sicher kannte sie die Mondbasis. Ressourcen wurden dringend gebraucht und so entstand dort vor Jahrzehnten eine ganze Stadt. Was sie jedoch fassungslos machte, war der Umstand, dass die Fremde nicht von ihren Eltern sprach.

 

Drei Wochen nach dem Auftauchen der Fremden musste Isabell eine Grube in ihrem Garten ausgraben. Sie wollte die Beerdigung so feierlich wie möglich veranstalten aus Respekt vor jener Frau. Aber es gelang ihr nicht. Wie auch? Bei Nacht und so leise wie möglich legte sie den Leichnam in die Erde und versuchte dann wiederum noch leiser, die Grube wieder mit Erde zu füllen. Als sie die Grasnarben, die sie vorher ausgestochen hatte, wieder aneinander legte, bemüht keine Spuren sichtbar zu machen, war sie schweißnass und am Ende ihrer Kräfte.

In ihrem Wohnraum öffnete sie die letzte Flasche Wein, die sie hatte, und nahm einen großen Schluck direkt aus der Flasche. Sie kam sich vor wie in einem Theaterstück, was von einem durchgeknallten Regisseur postmodern in Szene gesetzt wurde. Aber Isabell wusste, dass alles viel zu real war.

Real war der genetische Fingerabdruck der Fremden. Als sie ihn bestimmte, sah sie auf dem Multidisplay ein kleines Mädchen, das der Fremden bis ins Letzte ähnelte, vom Alter abgesehen. Sie lebte auf der Mondbasis und war irgendwann im hohen Alter geklont wurden, um die Menschheit nicht aussterben zu lassen. Eine Zelle, die einer anderen Frau eingesetzt wurde und als dieser Klon wiederum … generationenlang.

Das machte sie anfällig. Mehr schon als sie waren durch ihre sterile Umwelt. Die Fremde überlebte einen simplen Infekt nicht. Das Fieber kam über Nacht, Isabell konnte nur ihre Hand halten und dabei zusehen, wie sie starb. Kurz darauf war Isabell nicht mehr fassungslos.

Selbst dann nicht, als sie vergeblich versuchte, nach Afrika zu reisen. Sie kam nicht einmal bis an den Rand der westlichen Hemisphäre. Kein Hypergleiter war zu buchen, nicht einmal mit Platin.

In ihr war alles zerbrochen. Ihr Leben war eine einzige Lüge. Schlimmer noch: Sie wusste nicht, was sie tun sollte bis zu jenem Tag, als sie eine Nachricht ihres Verlegers bekam.

 

„Olvedi, sie sind ein Genie! Das ist einfach …”

Sicher doch, es ist großartig … ganz famos … sie konnte es nicht mehr hören …

„Die Geschichte von Frank, der als einsamer Held nach oben blickt, als der Atompilz in die Luft steigt … das ist ganz …”

Ja, großartig. Isabell fühlte plötzlich eine schweißnasse fiebrige Hand auf ihrer.

„Eine anachronistische Waffe zu verwenden und diese kryptischen Zeichen … famos … ganz …”

Isabell wurde schlecht. Sie atmete stoßweise. Ihre Kehle war staubtrocken und das „Nein!’ konnte sie gerade noch unterdrücken. Ihr Verleger schwang ahnungslos das Cognacglas. Seine Lobeshymnen wollten kein Ende nehmen. Im Stillen rechnete er schon mit den Credits, den ihnen die schillernden Disks von „Geheimmission Erde” einbringen würden.

Isabells Augen wurden zu schmalen Schlitzen, dennoch lächelte sie unverbindlich. Plötzlich war sie ganz ruhig. Ihr Verstand arbeitete konzentriert. Zu viel hatte sie der kleine Cognac schwenkende Mann in seine Verlagsdateien eingeweiht, in der Hoffnung auf spontane Einfälle für Zehnminutenschund eines Alexanders Olvedi. Sie wusste um die Codes und sie saß mittendrin an der Quelle des vormals Unvermeidbaren.

Ihr Lächeln gefror, genauso wie das ihres Verlegers, als er den Schlag in seinem Genick spürte.

 

Gelbschmutzige Finger suchten in ebenso vor Dreck starrenden Taschen. „Moment Süße, gleich hab ich es”. Das zahnlose Lächeln wurde wegen seines Fundes noch breiter, als er der Frau, einen schmalen langen Gegenstand reichte. Seine Nasenflügel bebten, als er den Duft des selten Verbotenen roch. Er trennte sich gern davon für die Frau, die ihn als Einzige mit ihren Geschichten unterhielt, wenn abends die Sonne hinter dem Hochsicherheitszaun unterging. Im Lager der Heimatlosen eine Seltenheit. Er wusste sie zu schätzen. Die Frau ging in die Knie und sah mit vorgestreckter Hand in seine Augen, die von Tabak und Alkohol verwässert und gerötet waren. Die Wärme ihrer Hand, als er ihr den Stängel gab, ließ ihn für eine Sekunde an das Leben außerhalb des Lagers denken. Ein Leben, welches ebenso kurz war.

„Danke Harry.”

Sie stand auf und ging langsam zum Hochsicherheitszaun.

„He, Süße, was siehst du dir eigentlich immer an so kurz nach dem Aufstehen?”

Die Frau drehte sich kurz nach ihm um, sekundenlanges Lächeln und ein Schulterzucken, dann ging sie weiter. Der Alte schüttelte den Kopf. Sie würde hier nie rauskommen. Nie …

Harry irrte sich. Isabell wollte gar nicht weg. Das Lager war ihre Rettung gewesen, als sie nicht nur eine Datei, sondern Gigabyte für Gigabyte des Schundes löschte und danach Festplatten wieder jungfräulich machte. Stunden später konnte man ihr Konterfei in jedem Medium finden: gesucht wegen Raubes, schwerer Körperverletzung und Datenmissbrauch. Der Schaden ging in die Millionen. Sie konnte darüber nur lachen. Millionen waren nichts weiter als imaginäre Zahlen und die Beule am Kopf ihres Verlegers würde der Inhalt eines Cognacglases wieder vergessen machen.

Isabell roch an dem schmalen Stängel, dann zündete sie ihn an und inhalierte langsam Zug um Zug den Tabak in ihre Lunge. Über dieser schlug ihr Herz schneller, das tat es immer, wenn sie rauchte. Ihre Hand glitt in ihre Tasche, die andere hielt die Zigarette, die langsam immer kleiner wurde und deren Asche auf den schmutzigen Boden fiel. Sie fühlte in ihrer Tasche die kleine Disk und ihre Transmediabox, das Einzige, was sie mitgenommen hatte. Ihr Roman voller Gefühl musste nur auf die Zukunft warten und ihre Heldin war gar keine, sondern einfach nur Isabell. Sie wollte nicht daran denken, dass es für ihr Buch vielleicht gar keine Zukunft gab, dennoch hoffte sie darauf, obwohl sie selbst dafür gesorgt hatte.

Isabell drückte die aufgerauchte Zigarette mit dem Fuß aus und sah auf ihre Uhr. Der Zeiger rückte auf zehn. Sie sah in den blauen Himmel, auf dem nur einige Schönwetterwolken zu sehen waren.

… und werden feststellen, dass unsere Natur sich nicht verleugnen lässt – auf die ein oder andere Weise.

 

© Copyright by Gabi Scharf

 

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