Unsere Sonne stirbt, aber das Leben muss weitergehen …
SF-Kurzgeschichte von Gabriele Scharf
Die Dämmerung ist schon längst heraufgezogen. Ich habe den Himmel gesehen mit jener Farbe, die er nur hat, kurz, bevor die Sonne untergeht. Wenn er wolkenlos ist und meistens dann, wenn der Tag zuvor sehr warm war … blaue Stunde. Heute ist es so, als würde sie nie enden wollen. Ich habe den Himmel gesehen … Er schläft.
Und ich sehe ihm dabei zu. Wie sich sein Brustkorb langsam hebt und senkt, ein Lächeln seine Lippen umspielt – vielleicht träumt er von einer Begegnung, unserer Begegnung, die so unwirklich ist, wie diese Stunde, wo ein fast schon überirdisches Licht den Raum in ein Graublau hüllt und auf der Haut einen milchigen Schimmer hinterlässt.
Alles ist jetzt anders und morgen wird alles so sein, wie es vorher war. Denn dann ist er nicht mehr da. Er muss gehen, sagte er. Auch wenn er bleiben möchte. Ich habe den Schmerz in seinen Augen gesehen, als seine Hand sanft meine Wange streichelte. Er hat mir alles gegeben und ich sitze hier, sehe ihn beim Schlafen zu und … zögere. Denn wenn ich mit ihm gehen will, gebe ich alles auf. Alles … vielleicht auch mein Leben. Es würde nie mehr so sein wie vorher, nie mehr so, wie es war oder es sein sollte. Denn er kam zu mir und wie ein Wirbelwind brachte er alles durcheinander und ich ließ es zu. Er gab mir etwas, was ich zuvor nie hatte. Er gab sich selbst … einfach so, ohne zu fragen, ohne lange zu erklären. Morgen wird er gehen.
Warum gehe ich nicht einfach mit ihm … weit weg von hier, in ein fremdes Land, ziellos … und die Angst, etwas zu verlieren, wovon ich dachte, das es für mich nicht existiert.
Und wieder ist sie da, diese Sehnsucht, tief in mir, unfassbar und unwirklich, eine Sehnsucht, die nicht mehr gehen will.
Er atmet so leise und selbst im Schlaf ist seine Hand auf der Suche nach meiner. Sie ist warm und umschließt meine, sanft aber mit Nachdruck, als würde er sie nie mehr loslassen wollen.
Diese Stunde macht es so einfach, was so schwer erscheint …
Das Bild erstarrte und löste sich in feine Partikel auf. Für den Bruchteil einer Sekunde glitzerte es noch schwach in der Luft, dann hatten sich die Nanobits in der Raumluft verteilt, bereit, sich beim nächsten Aufruf neu zu formieren. Die künstliche Intelligenz meldete mit ihrer melodisch klingenden Stimme, dass die Übersetzung erfolgreich abgeschlossen war.
Nun konnte sie verstehen, was sie all die Tage zuvor nur hatte sehen können: für sie merkwürdig geschwungene Schriftzeichen auf einem altertümlichen Medium, das selbst nur noch als digitales Abbild im Holospeicher der Nanobits existierte. Unwirklich wie das, was sie nun gerade gelesen hatte. Mit einem fokussierten Gedanken ließ sie die Nanobits erneut zusammenkommen – sie wollte die Aufzeichnung erneut lesen. Nicht nur lesen, verstehen. Und sie tat es immer wieder, las es noch einmal und nocheinmal. Sie wusste nicht warum.
Es gab Milliarden von diesen Aufzeichnungen, Milliarden mal Milliarden an Informationen, die sich in Jahrmillionen angesammelt hatten. Unzähliges Wissen, unzählige Gedanken, unzählige … Emotionen?
Ein Teil von ihr sträubte sich dagegen. Dagegen, dass sie gerade diese eine Aufzeichnung immer wieder lesen musste. Es war kein entscheidendes Wissen, keines, was sie unbedingt brauchte. Es war kein zeitgeschichtlich relevantes Dokument. Es waren keine großen Gedanken, keine Aufzeichnung, die sie für ihr psychohistorisches Studium der Menschheitsgeschichte unbedingt brauchte.
Diese Aufzeichnung war eigentlich ein Nichts. Eine zufällige Begebenheit irgendwann vor Jahrmillionen aufgezeichnet, irgendwo auf ihrem Planeten. Ein winziges Fragment eines Lebens, einer Person, die der Nachwelt nichts mehr als diese wenigen Gedanken hinterlassen hatte. Zufällig in Trümmern und Schutt gefunden. Und doch war es auch viel mehr als ein unbedeutendes Fragment. Es war ein eingefangenes Gefühl.
Die blaue Stunde …
Ja … auch sie kannte sie. Aus ebenso vielen Aufzeichnungen, aus ebenso vielen Bildern. Wunderschönen Bildern, als die Erde noch eine Sonne umkreiste, die nicht starb. Auch von diesen Bildern gab es viele, fast zu viele … doch waren es nur Bilder, mehr nicht. Sie konnte sie nicht fühlen. Nichts davon. Nanopartikel und gebündeltes Licht riefen kein Gefühl auf ihrer Haut hervor. Konnten vom Zauber erzählen, ihn niemals ganz einfangen.
Sie schloss die Augen und atmete leicht aus. Wieder war sie da, diese Sehnsucht. Tief im Inneren, unbestimmt, unfassbar und sie wollte nicht gehen.
Es gab einen Ort, wo vielleicht …
Zeig mir Eden.
Ihre Gedankenströme aktivierten die Nanopartikel erneut. Das kaum hörbare Summen, immer dann, wenn Partikel zusammenflossen und wie aus dem Nichts heraus mitten im Raum ein Bild schufen, ließ sie die Augen wieder öffnen.
Das soeben materialisierte virtuelle Multidisplay färbte sich langsam ein. Kurz leuchteten Schriftzeichen auf
„Terra 2 – Eden – Übertragung der Bildsequenzen beginnt”. Ihr Atem fing an, schneller zu gehen. Dann war das Bild da. Sie sah eine Sonne untergehen und zwei Monde, die schon am Himmel über Eden standen. Gewaltige
Kuppelbauten schützten die Menschen und Gebäude vor einer noch fast unberührten Natur, die sich ringsum ausbreitete bis zum Horizont.
„Sie sehen Echtzeitbilder von Eden.”
Ja, ich weiß … jetzt geht dort die Sonne unter … es ist so … so … Sie merkte, wie sich eine kaum unter Kontrolle zu haltende Aufregung ihrer bemächtigte. Aber sie tat nichts dagegen, sie wollte mehr, viel mehr davon.
Fast unmerklich versank eine Sonne unzählige Lichtjahre entfernt von ihrem Heimatstern hinter dem Horizont und langsam zog die Dämmerung herauf. Kurz über dem Horizont färbten die Strahlen der untergehenden Sonne den Himmel. Erst in ein orangerot gemischt mit pupur. Das Spektrum der Farben wurde dunkler … von kupferrot bis violett. Das Grau der Dämmerung vermischte sich in diesen Rottönen, um den Himmel jene Farbe zu geben, die nur für kurze Zeit Bestand hatte. Die Kuppeln von Eden färbten sich graublau. Auch alles andere wurde in
diesem unwirklichen Licht getaucht. Sie hatte begonnen – die blaue Stunde. Auf einem Planeten, der die ganze
Hoffnung der Menschen versinnbildlichte, seit ihre eigene Sonne langsam starb.
Sie fühlte, wie ihr Blick verschwommen wurde und ihr langsam Tränen die Wange hinabliefen. Mit einer Handbewegung ließ sie die Nanopartikel wieder mit einem kurzen Glitzern davonschwinden. Wo eben noch das virtuelle Multidisplay in der Luft geschwebt hatte, fiel der Blick nun auf matt schimmernde Wände.
Mühsam stand sie von ihrer Liege auf. Ihre viel zu schlanken Beine zitterten unter der Anstrengung und gaben nach, doch diesmal wollte sie sich nicht von dem Graviton transportieren lassen. Langsam und mühevoll ging sie zu einer der Wände, an der sie sich sogleich abstützte. Ein Gedanke von ihr ließ die Wand immer heller und dann durchscheinend werden. Vor ihr breitete sich die Metropole aus, die von einer gewaltigen Energiekuppel vor den drohenden roten Strahlen der Sonne geschützt wurde, die unnatürlich groß den Himmel beherrschte. Sie blickte auf die letzte bewohnte Stadt auf dem alten Kontinent.
Sie sah ihr Spiegelbild auf der nun durchsichtigen Fläche, große Augen sahen ihr entgegen. Und noch immer sah sie leichte Tränenspuren auf den hohen Wangenknochen. Ihr schmaler Mund war zu einem dünnen Strich zusammengepresst.
Ich werde den Hinflug nicht überleben …
Sie konnte auch vor die Kuppel, welche die Metropole schützte, gehen – aber dort gab es schon lange keine blaue Stunde mehr. Dort wäre sie sofort tot, denn die Strahlen der Sonne spendeten keine wärmende Lebendigkeit mehr – dafür gammastrahlengetränkten Tod. Noch ließ sich die Sonne Zeit zum sterben. Es war kein plötzliches Ende, mehr ein langes Aufblähen und Verschlingen der letzten Wasserstoffvorräte im Innern des Glutofens, der die Erde so viele Milliarden Jahre zuverlässig und treu mit Energie versorgt hatte. Sie selbst würde das Ende nicht erleben. Auch die Generationen nach ihr nicht – denn dann wäre die Menschheit schon auf Terra 2 und nur ein paar Forscher in einer entfernten Jupiterstation würden das Ende allen Lebens im Sonnensystem für die Nachwelt dokumentieren.
Vielleicht würden ihre Nachfahren sich Jahrhunderte später von den Erbauern von Eden, der ersten Metropole auf Terra 2 erzählen. Von denen, die in großen Flotten zum neuen Planeten geflogen waren und der Natur dort Stück für Stück unberührtes Land abgetrotzt und kultiviert hatten, damit die Menschheit überlebt.
Vielleicht aber würden dann die Aufzeichnungen der Forscher und Historiker auch nicht viel mehr als jene Fragmente vergangener Kulturen sein, die sie selbst nun schon so lange studierte. Ihr Studium brachte es mit sich, der Vergänglichkeit aller Dinge nur zu bewusst zu sein. Andererseits … vielleicht war doch nicht alles vergänglich. Sie dachte wieder an die vorhin übersetzte Aufzeichnung. An die blaue Stunde.
Sie wusste, dass nur die körperlich Robustesten hinflogen, Menschen, die ohne Graviton sich länger fortbewegen konnten, die fortpflanzungsfähig waren. Sie wusste aber auch, dass sie so frei war, selber zu entscheiden, ob sie alle Risiken des Hinfluges auf sich nehmen wollte … und alles das, was danach kam. Niemand zwang sie zu bleiben und niemand, nach Eden zu gehen.
Kurz zögerte sie, dann sah sie, wie ihr Spiegelbild einen entschlossenen, fast trotzigen Ausdruck annahm. Sie wandte sich ab.
Mit einer Bewegung ihrer feingliedrigen Hand aktivierte sie wieder die Nanopartikel, die sich zum Display zusammenfügten. Ihre Gedanken waren schnell und präzise. Im Raum stand vor ihr wieder das digitale Abbild jener Handschrift, in einer Sprache, die schon längst vergessen war.
Sie setzte ihre ganze Beherrschung, die ihr Körper noch hatte, ein und ging so schnell sie konnte zur diesem Bild, dessen Übersetzung ihr Zeile für Zeile ins Gedächtnis eingebrannt war. Ihre Finger glitten durch die Lichtbögen des virtuellen Multidisplays. Sie fühlte nichts.
Aufmerksam betrachte sie ihre Hand, die von funkelnden Lichtern eingehüllt war. Wie sehr ich dich beneide …
Sie lächelte sanft, sprach sie doch soeben mit einer schon längst verstorbenen Unbekannten, die ihr dennoch so nah war, wie sie es selber kaum glauben konnte. Mit einer Unbekannten, die Äonen vor ihr gelebt hatte, aber die diese unstillbare Sehnsucht wie sie fühlte … Ja, ja … tausendmal ja … ich beneide dich … um diese blaue Stunde … wer sagt schon, das ich nicht überlebe werde … es gibt eine Chance …
Sie erschrak über ihre eigenen Gedanken.
Das ist unlogisch, es wäre … unlogisch, vollkommener Wahnsinn … nur wegen eines Gefühls mein Leben aufs Spiel zu setzen.
Sie taumelte zurück und fand Halt in ihrer Liege, die ihren Körper umschloss.
Sie wusste im Nachhinein nicht mehr, wie lange sie dort so gelegen und mit ihren Gefühlen gerungen hatte. Wie lange sie die alte Schrift angestarrt hatte und wie lange Tränen ungehindert ihre Wangen entlanggeflossen waren.
Doch jetzt war das auch nicht wichtig. Jetzt kam es ganz auf sie selber an.
Sie versuchte, so ruhig wie möglich zu atmen. Fest umspannte ihren zerbrechlich erscheinenden Körper die organische Liege, die sich jeder ihrer Bewegungen anpasste. Die ihr einen Halt geben sollte. Sie starrte auf die matt schimmernde Wand vor ihr. Ein einziger Gedankenimpuls ließ sie durchscheinend werden. Wie oft habe ich sie so gesehen … aber diesmal …
Das Abbild eines uralten Planeten ließ selbst ihre Gedanken für Sekunden verstummen. Narben ausgebrannter Zonen zogen sich spiralförmig auf den Landmassen hin. Die dünne Atmosphäre hatte einen rötlichen Ton angenommen.
… diesmal ist sie real … Sie versuchte sich vorzustellen, wie ihre Urahnen die Erde gesehen haben mussten – eine blauweiße Perle inmitten eines Sternenmeeres. Doch auch jetzt noch, wo der Tod schon mit fiebrigen Gammastrahlen seinen Tribut zollte, fand sie ihren Planeten schön.
Terra 2 ist eine blauweiße Perle …
Der Gedanke ließ sie lächeln. Plötzlich verdunkelte sich das Bild vor ihr. Hinter der Sichel der Erde ging die
Sonne auf und ihre grellen Strahlen lösten die Schutzmechanismen aus. So plötzlich wie sich das Bild verdunkelte, kam die Angst. Sie fühlte sich eingeschlossen ohne Ausweg, zu entkommen.
Sie merkte, wie ihr Atem unkonzentriert und immer schneller wurde. Ihr Puls fing an zu rasen, als sie der Andruck des startenden Schiffes in die Liege presste. Vor ihr verschwamm das Bild der Sichel der Erde, von der sie sich immer weiter entfernte.
Ich schaffe es … ich muss es schaffen …
Sie atmete so schnell, dass sie kaum noch Luft bekam. Verschwommen sah sie das Bild einzelner Sterne. Plötzlich drehte sich alles um ihr. Ich … muss … muss … langsamer … atmen …
Das Bild kam nach einer – wie ihr schien – Ewigkeit wieder zum Stillstand. Sie lächelte.
Sie hatte den Start geschafft. Bald würde sie Eden sehen können. Gigantische Kuppelbauten inmitten ungezügelter Natur. Wo keine Schutzfelder sie davon abhielten, die Strahlen einer Sonne zu spüren oder den lauen Nachtwind. Alles andere schien ihr unwichtig. Sie schloss die Augen und rezitierte in Gedanken Gedichte, die ihr die Angst vor den körperlichen Strapazen nehmen sollten.
Vor ihren Augen hatte sie ein Bild – eines, welches sie seit dem ersten Anblick nie wieder losgelassen hatte …
Die blaue Stunde.
© 2000 by Gabi Scharf
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