Kunst ist nicht überflüssig

Scheinbar ist die Kunst überflüssig, ein Luxus, auf den man in Notzeiten leicht verzichten kann, eine Aufgabe, bei der viele Völker zuerst sparen, wenn die wirtschaftliche Lage schwierig wird. Aber die Kunst zu behindern oder gar zu verbieten, leistet der Barbarei Vorschub … Rede anlässlich der Eröffnung der heylanischen Kunstakademie

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Andal aus dem Hause Boras: Rede anlässlich der Eröffnung der heylanischen Kunstakademie

(Übersetzung von Anneliese Wipperling)

“Scheinbar ist die Kunst überflüssig, ein Luxus, auf den man in Notzeiten leicht verzichten kann, eine Aufgabe, bei der viele Völker zuerst sparen, wenn die wirtschaftliche Lage schwierig wird. Selbst der große Ennu, der über eine sehr solide und vielseitige Bildung verfügte, war der Meinung, dass Poesie überflüssig wäre. Er billigte lediglich der festlichen Musik, der Architektur und dem Design von Gebrauchsgegenständen eine gewisse Bedeutung zu. Ennu glaubte, dass die reine Logik ein ausreichendes Bollwerk gegen die Barbarei wäre und dass die Dichtkunst dem logischen Gebrauch der Sprache im Wege stände. Im Nachhinein zeigt sich, wie sehr er sich geirrt hat.
Es gibt eine offensichtliche Barbarei: imperialistische Aggressionen und Verbrechen gegen das eigene Volk … krasse Ungerechtigkeiten bei der Verteilung des erarbeiteten Wohlstands … hohe Kriminalität … Beschränkung der Bürgerrechte wegen der sozialen Stellung, des Geschlechts oder der Religion … Übergriffe auf Außenweltler … Sklaverei, Ausbeutung, Folter …
Normalerweise schlägt ein gesundes Gewissen in solchen Fällen Alarm. Wir spüren einen unwiderstehlichen Drang, den Schwachen, Erniedrigten und Gequälten zu helfen. Wie schwierig es ist, das Gewissen ganz auszuschalten, zeigen die Diktaturen verschiedener Welten. Trotz massiver Propaganda und tödlicher Gefahr gibt es immer wieder Individuen, die alles riskieren und sich gegen die staatlich institutionalisierte Barbarei stellen. Oftmals kennen sie die verfolgten Mitbürger oder Fremden gar nicht und dennoch riskieren sie Karriere und Leben für sie. Es gibt bei allen intelligenten Spezies einen ethisch wertvollen Kern, der lediglich zuweilen einen kleinen Anstoß braucht, um zu funktionieren.
Anders ist es mit der verborgenen Barbarei: Sie gedeiht auch mitten in scheinbar makellosen demokratischen Gesellschaften. Wenn man einem unliebsamen Volk oder einer unerwünschten Berufsgruppe das Existenzminimum zugesteht, ihr scheinbar soziale Nischen zubilligt und sie im Übrigen in Ruhe lässt, bleibt das Gewissen der Nichtbetroffenen ruhig. Er oder sie hat ja zu essen, ein Dach oder eine Zeltplane über dem Kopf … da haben sich Regierung und Volk doch äußerst gnädig gezeigt! Da ist Dankbarkeit angesagt … und nicht dreiste Forderungen nach Chancengleichheit und Selbstverwirklichung! Die schwarzen Wilden aus der Wüste wollen auch studieren? Was für eine Zumutung! Und der Dichter, der verzweifelt ein Podium für seine Verse sucht, gehört verbannt. Niemand braucht so ein unlogisches Zeug! Soll er doch was Vernünftiges arbeiten und den Mund halten … und wenn die Datenträger voller Gedichte, Geschichten und Romane nicht mehr in seine Truhen passen, muss er den Müll eben entsorgen. Wenn sein Umah deswegen zerbricht und er sich wie ein verletztes Tier zum Abgrund ohne Wiederkehr schleppt, war er halt zu empfindlich und zu schwach. Dass er tot ist, kann weder den Behörden noch den Nachbarn angelastet werden.
Ihr findet, dass sich das krass anhört? Nun, bis uns das Triumphat überfallen hat, war genau das auf Heyla traurige Realität: Eine verdeckte Barbarei wucherte unter der glatten Maske der Logik. Wer nicht ins Raster passte, dem wurde stillschweigend die Lebensgrundlage entzogen. Er bekam keine ordentliche Ausbildung, wurde nie in ein öffentliches Amt gewählt … Beiträge unliebsamer Personen im Datennetz verschwanden spurlos. Eine Behörde beschäftigte sich ausschließlich damit, Decenna für Decenna die Schlüsselwörter festzulegen, nach denen das Netz mehrmals täglich abgesucht wurde. Nein, die Idealisten, die Gedichte und Romane unters Volk schmuggeln wollten, wurden nicht etwa verhaftet oder gar gefoltert – ihre Daten wurden automatisch vernichtet. Wenn es jemandem gelang, trotzdem Aufmerksamkeit zu erlangen, wurde er unauffällig in eine Ambulanz für Kontrollverlust verfrachtet. Dort warteten schon regierungstreue Umahaij-Meister und Gedankentechniker, um den Unglücklichen umzuprogrammieren oder zu brechen.
Als wir uns nach dem Krieg daranmachten, das Erbe der Philosophiebürokraten zu sichten und neue Strukturen mit größeren Freiräumen für den Einzelnen aufzubauen, sind wir auf beunruhigende Forschungsarbeiten gestoßen. Man hat bei neununddreißig so genannten Abweichlern versucht, die für Kreativität und Emotionalität zuständigen Hirnareale zu zerstören. Acht Versuchspersonen mussten danach in Anstalten für unvollkommene Umahs untergebracht werden, drei starben unter ungeklärten Umständen, vier setzten ihrem Leben selbst ein Ende, fünfzehn waren immer noch für einfache Hilfsarbeiten geeignet und neun von ihnen täuschten auf geschickte Weise ihre Heilung vor und begingen wenig später so ausgesucht scheußliche Verbrechen, dass das makabre Forschungsprojekt aufgegeben werden musste. Was lehrt uns diese Erfahrung?
Erstens: Heyla war bis vor kurzem ein Ort stiller Barbarei. Niemand hätte das angesichts unserer äußeren Makellosigkeit vermutet … auch die meisten Heylaner nicht. Es gibt keine Gesellschaft, die immun gegen solche Degenerationserscheinungen ist. Wir müssen immer wachsam bleiben, Entscheidungen der Regierung und eigene Vorurteile hinterfragen. Wird jemand ausgegrenzt? Wer ist betroffen? Wem nützt und wem schadet das? Können wir das wirklich verantworten?
Zweitens: Die Philosophiebürokraten strebten eine abstrakte Makellosigkeit an, einen Heylaner, den es so in Wirklichkeit gar nicht gibt. Diesem obskuren Ziel wurden der Lebensinhalt und die Gesundheit Tausender Mitbürger geopfert. Die Schriften Ennus rechtfertigen keinen Feldzug gegen Poeten und Schriftsteller. Ennu hat die Bedeutung dieser Berufsgruppe zwar unterschätzt, sie jedoch niemals kriminalisiert. Ich vermute, die Regierenden hatten Angst vor der unbezähmbaren Neugier und dem radikalen Individualismus dieser Heylaner. Beides ist eine Voraussetzung für das Erschaffen wahrer Kunstwerke … und beides ist äußerst unbequem für einen stupiden Beamtenapparat. Gerade Beamte vergessen nur zu gern, dass sie in Wirklichkeit nur Diener des Volkes sind. Auch hier ist äußerste Wachsamkeit geboten!
Drittens: Künstler verfügen über besondere Sensoren für heikle ethische Probleme. Ihre Werke bilden normalerweise ein zuverlässiges Frühwarnsystem, das lautstark zur Umkehr mahnt, wenn in der Gesellschaft etwas erstarrt, verrottet oder degeneriert. Indem die Regierenden die Dichter zum Schweigen brachten, nahmen sie der heylanischen Gesellschaft ihre ursprüngliche Widerstandskraft, ihr Entwicklungspotenzial und ihre Flexibilität. Als der Feind uns überrollte, zerbrachen die vorhandenen Machtstrukturen. Ohne die Turuska wäre das Triumphat jetzt Alleinherrscher im roten, gelben und schwarzen Sektor. Unsere Völker wären vollständig ausgerottet worden …
Wir sind dem Untergang gerade noch mit knapper Not entkommen. Es ist uns gelungen, die Feuerhänder zu töten, unsere Gesellschaft zu reformieren, Frieden mit Talur zu schließen und gemeinsam mit talurischen Arbeitern dieses erhabene Sinnbild der Erneuerung zu schaffen. Nein, Künstler müssen nicht mehr befürchten, dass man sie verhöhnt, ausgrenzt, vertreibt oder verstümmelt. Nach fast tausendzweihundert Jahren Unterdrückung gibt es wieder eine Heimstatt für die Kunst … einen Ort, wo zukünftige Dichter, Schriftsteller, Sprachwissenschaftler und Kritiker studieren können. Die Poeten sind nach Heyla zurückgekehrt und haben die stille Barbarei vertrieben. Feiern wir gemeinsam ihren und unseren Sieg über die Kälte und den destruktiven Gebrauch der Logik!

Begrüßt Harim aus dem Hause Javo, den einfühlsamen Herausgeber des ersten Bandes moderner heylanischer Dichtung! Heißt seinen liebsten Bindungspartner, den großen talurischen Dichter Ingal Kaal willkommen! Ehrt Gattor aus dem Hause Elmar, den bescheidensten und liebevollsten aller Dichter Heylas. Freut euch mit mir, dass meine Töchter Kah’Liza und Kah’Mara endlich heimgekommen sind! Trinkt Mombasaft, Wein von der Erde und Wasser aus den Quellen des Hauses Raban! Freut euch am Leben und eurer neuen Freiheit!“

(Auszug aus: Anneliese Wipperling: “Rückkehr der Poeten“ , 2006)

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