Nachdenken über Kolonialismus und Fortschritt

Kolonialismus als Form der Entwicklungshilfe zu betrachten fällt schwer. Moralische Überlegenheit der Kolonialisatoren wird oft als Rechtfertigung ins Feld geführt, ist aber bei konsequent unparteiischer Betrachtungsweise eher unwahrscheinlich. Sie kann jedoch nicht gänzlich ausgeschlossen werden …

ein Essay von Anneliese Wipperling

Kolonialismus ist eine Form der Beziehung zwischen den Völkern. Dabei dominiert aus unterschiedlichen Gründen ein Volk das andere. Im klassischen Fall wird vom dominierenden Volk die Regierungsgewalt ausgeübt, Ressourcen aller Art genutzt und Kulturexport betrieben. Kolonisierung ist auch gleichzeitig Besiedelung des unterlegenen Landes, oftmals verbunden mit verschiedenen Formen der Dezimierung, Verdrängung oder Assimilierung der ursprünglichen Bevölkerung. Modernere Formen verzichten auf die formale Ausübung von Regierungsgewalt und zumindest teilweise auf die Besiedlung des Landes. Die Einflussnahme erfolgt indirekt über abhängige Regierungen. Die Aneignung von Ressourcen wird auf subtilere Art und nicht über offizielle Regierungswege betrieben. Das Gleiche gilt für den kulturellen Bereich.

Kolonialismus ist ohne Zweifel moralisch fragwürdig, weil er das Recht der unterworfenen Völker auf Freiheit und Selbstbestimmung auf allen Gebieten berührt. Kolonialismus ist immer eine Folge eines sehr unausgewogenen Kräfteverhältnisses. Das kann den technologischen Fortschritt oder einfach nur das militärische Potenzial betreffen. Auch Naturkatastrophen, Epidemien oder ideologische Besonderheiten (z.B. das Warten auf einen weißen Gott bei den Indianern Südamerikas) können Ursache für die der Kolonialisierung immer vorangehende Niederlage sein. Moralische Überlegenheit der Kolonialisatoren wird oft als Rechtfertigung ins Feld geführt, ist aber schwer nachweisbar bzw. bei konsequent unparteiischer Betrachtungsweise eher unwahrscheinlich. Sie kann jedoch nicht gänzlich ausgeschlossen werden.
Moral spielt auf allen Gebieten der Politik eine viel geringere Rolle, als die Medien und die Geschichtsschreibung es dem Durchschnittsbürger suggerieren wollen. Die moralische Rechtfertigung hat sowohl für die Sieger als auch für eventuelle Anführer des Widerstandes vor allem die Funktion der Identitätssicherung und Motivierung der einfachen Leute. Da die Moral bei allen politischen Machthabern, gleichgültig welches System sie vertreten, nur eine untergeordnete Funktion bei der Entscheidungsfindung hat, kann sie bei allen weiteren Betrachtungen außer acht gelassen werden.

Es bleibt das Anliegen, geschichtliche Vorgänge auf ihre Auswirkungen auf die weitere Entwicklung der Menschheit zu untersuchen. Dabei sollte versucht werden, die Fakten möglichst ohne Parteinahme und Emotionen zu bewerten. Das ist aus Gründen der menschlichen Natur und auch objektiv außerordentlich schwierig. Neben dem Bedürfnis nach Rechtfertigung der eigenen Existenz bzw. der Stellung und Situation des eigenen Volkes wirkt ein weiterer Faktor gegen alle unsere Anstrengungen. Dieser Faktor ist unsere Unwissenheit.
Die Geschichte wird bekanntlich von den Siegern geschrieben. Nicht nur, dass geschichtliche Vorgänge aus einem bestimmten Blickwinkel geschildert werden. Es werden auch Unterlagen gefälscht, erstellt oder in großem Umfang vernichtet. Kulturgüter werden zerstört, umfunktioniert, verteufelt. Alle Sieger tun das, weil die Herrschenden das grundlegende Bedürfnis verspüren, in der Geschichtsschreibung eine positive Rolle zu spielen. Manchmal, wenn die Sieger zu einem späteren Zeitpunkt ihre Privilegien verlieren, wird dieser Informationsverlust sehr bedauert.
Die Unwissenheit wirkt jedoch nicht nur in die Vergangenheit, sondern auch in die Zukunft. Ist ein Zweig am Baum der kulturellen und zivilisatorischen Entwicklung der Menschheit einmal abgeschlagen oder verstümmelt, ist es unmöglich zu sagen, wie er sich weiterentwickelt hätte oder welche eventuell für die Menschheit wichtigen Früchte er noch getragen hätte. Man kann darüber viel spekulieren aber es wird bei der unbewiesenen Spekulation bleiben müssen.

Ist es nun gut oder schlecht, wenn kulturelle Entwicklungen vereinheitlicht und bestimmte Entwicklungslinien ausgemerzt werden? Die Antwort auf diese Frage sollte man sich nicht zu leicht machen. Sicher mag es Entwicklungen geben, die so schädlich für den Fortbestand und das Gedeihen der Menschheit sind, dass man sie mit gutem Gewissen abbrechen kann und muß. Mir fallen dazu aber nur wenig Beispiele ein (z.B. das Regime der Roten Khmer in Kambodscha) und auch da ist es besser, wenn die betroffenen Völker selbst einen Ausweg aus ihrer Misere finden und nur durch Boykottmaßnahmen oder behutsame Hilfestellung von außen eingegriffen wird.
Die indianischen Hochkulturen Süd- und Mittelamerikas als zerstörungswürdig einzustufen ist vermessen, auch wenn uns heute nicht alle ihrer Facetten gefallen. Auch in anderen Ländern der Erde gab es auf einer frühen Entwicklungsstufe Menschenopfer und andere Grausamkeiten. Trotzdem haben diese Völker im Laufe der Zeit ihre Lebensweise und ihre Vorstellungen von Recht und Unrecht geändert. Es gibt keinen vernüftigen Grund, den Inka oder Atzteken dieses Entwicklungspotential abzusprechen.

Man muß sich die Frage stellen, ob für den Fortbestand der Menschheit und das Wohlbefinden des Einzelnen Einförmigkeit oder Vielfalt förderlicher ist. Einförmigkeit mag die Bemühungen um eine Entwicklung in einer bestimmten Richtung bündeln und die Geschwindigkeit des Fortschritts erhöhen. Vielfalt erhöht jedoch die Überlebensfähigkeit in Krisensituationen. Es ist leichter, Fehlentwicklungen zu korrigieren, wenn Alternativen bekannt und erlebbar sind. Auf einem verzweigten Baum menschlicher Entwicklung wachsen viele verschiedene Früchte und Ideen. Leider sind wir immer noch damit beschäftigt, Äste abzuschlagen und kulturelle Varianten zu vernichten.
Übrigens macht zivilisatorische Monokultur es auch unmöglich, jemals zu beweisen, dass die Entwicklung des derzeit vorherrschenden Gesellschaftsmodells eine positive Errungenschaft ist. Es existieren ja keine Vergleichsmöglichkeiten. Jüngstes Beispiel der Auswirkung von Gleichförmigkeit der Entwicklung ist der Untergang des sogenannten real existierenden Sozialismus. Dadurch, dass nach dem zweiten Weltkrieg ein sozialistisches Lager unter der Hegemonie der Sowjetunion entstand, wurde nur noch ein einziges gesellschaftliches Modell vorangetrieben. Wir werden vermutlich niemals wissen, ob andere weniger fundamentalistische Varianten eine Aussicht auf Erfolg hatten. In unverantwortlicher Weise wurde dieser Weg möglicherweise für immer versperrt.

Unklar ist für mich der Begriff Fortschritt. Es gibt viele Möglichkeiten, Schwerpunkte der Entwicklung zu setzen und es ist bisher nicht bewiesen, dass technologischer Fortschritt die wichtigste mögliche Zielstellung ist. Genausogut könnte sich eine Kultur der Entwicklung bestimmter Eigenschaften (z.B. der Minimierung des Narzißmus oder der Erweiterung der Liebesfähigkeit) der Persönlichkeit widmen oder die Vervollkommnung von Kunst und Philosophie in den Mittelpunkt stellen. Sicher braucht man verschiedene Aspekte um als Art zu überleben. Unsere einseitigen Prioritäten bezüglich Technik und Ökonomie könnten sich irgendwann als fatal erweisen.

Warum tun die die Menschen etwas, was unlogisch und womöglich schädlich für ihre weitere Entwicklung ist? Ich glaube, Schuld daran sind vor allem zwei typisch menschliche Bestrebungen:
Einmal verallgemeinert jeder die eigene Lebensweise, die eigene Sichtweise und glaubt, sie müsse für alle anderen ebenfalls gelten. Es hat wohl damit zu tun, dass wir in unseren eigenen Körpern und Seelen gefangen sind. Die Begegnung mit andersartigem wirkt so zwangsläufig erst einmal schockierend.
Zum anderen gibt es in den meisten Menschen ein Bedürfnis nach einer reinen Lehre, die dann bitte auch in der Praxis säuberlich umgesetzt werden soll. Fundamentalismus hat viele Spielarten und glaubt sich immer durch moralische Überlegenheit gerechtfertigt.

Vielleicht ist die Menschheit erst dann wirklich gereift, wenn sie begreift, dass eine gesunde Vielfalt und Kompromißfähigkeit lebenserhaltende Faktoren sind und kein Ausdruck von Schwäche oder Minderwertigkeit.
Vielleicht gibt es irgendwann einmal eine allgemeingültige Direktive für den Umgang mit Fremden, die das Prädikat humanistisch wirklich verdient.
Vielleicht lernen wir, vorsichtig mit fremden und auf den ersten Blick unverständlichen Kulturen umzugehen. Schade, dass es dann für viele Völker der Erde zu spät sein wird.

Da die Menschheit bisher nicht weise und bescheiden gehandelt hat sondern immer noch das primitive Prinzip des Rechtes des Stärkeren vorherrscht bleibt als letztes, die Verwaltung der Kolonien durch die Kolonialherren zu bewerten. Sicher gab es da große Unterschiede sowohl vor Ort als auch von Land zu Land. Eine fremde Lebensweise kann man mit mehr oder weniger grausamen Mitteln durchsetzen. Der Einfluß auf die kulturelle Identität des unterworfenen Volkes kann unterschiedlich groß sein.
Die Römer haben den besiegten Völkern ihre Götter gelassen und diese sogar der Götterschar des Reiches hinzugefügt … aber die Römer waren auch keine Fundamentalisten mit Sendungsbewußtsein.
Bei den Spaniern lag das anders. Die katholische Kirche war zu jener Zeit ein unerbittlicher Verfechter der reinen Lehre. Die Inquisition war nicht eine Art Polizei sondern eine Institution zur Bekämpfung aller Arten von Abweichungen von der reinen Lehre. Sie richtete sich gegen christliche Ketzer genauso, wie gegen sogenannte Heiden oder angebliche Hexen. Die Inquisition war ein Instrument zur Bekämpfung der Vielfalt menschlichen Geistes mit Spitzeln, Zuträgern, Gefängnissen und Folterexperten. Sie erfüllte die gleiche Funktion wie die Gestapo zur Nazizeit oder die Stasi in der DDR. Daß es Unterschiede bezüglich der Methoden gab ist zweitrangig. Bei objektiver Betrachtung diente die Inquisition überall dort, wo ihr Arm hinreichte einem religiösen Fundamentalismus und hat Entwicklung und Ideenreichtum verhindert.

Kolonialismus als Form der Entwicklungshilfe zu betrachten fällt mir ausgesprochen schwer. Ich bin mir gar nicht so sicher, dass die Menschheit den besten aller Entwicklungswege genommen hat.
Ich bin mir auch nicht sicher, dass unsere landläufige Interpretation des Begriffs Fortschritt wirklich hilfreich ist. Und ich wünsche mir eine Welt mit vielen Facetten der Kultur, der Gesellschaftsmodelle, des Fühlens, Denkens und Glaubens.
Ich hoffe, dass auf diesem fruchtbaren Nährboden jeweils zur rechten Zeit brauchbaren Lösungen für existenzielle Probleme zu finden sind. Wir haben schon viel zerstört. Wir sollten das auch bekennen und daraus lernen.

© Copyright by Anneliese Wipperling 1997

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