Von Bernd Köllinger
“Was passiert, wenn man einer neunjährigen Vulkanierin einen Gedichtband von Garcia Lorca schenkt?”
Dieser Satz, mit dem Anneliese Wipperling im Internet auf ihren Roman “Der weite Weg zur Erde” aufmerksam macht, ist verräterisch, enthält er doch gleich zwei wichtige Informationen über die Autorin selbst: erstens, dass sie eine glühende Anhängerin der Star-Trek-Serien ist und als solche Geschichten schreibt, die in einem phantastischen Universum spielen; und zweitens, dass sie seit vielen Jahren der Lyrik verfallen ist, insonderheit jener Pablo Nerudas, Garcia Lorcas und der Surrealisten. Die neunjährige Vulkanierin ist auch eine Projektion ihrer selbst.
Die Brandenburgerin, die am 31. Dezember 2003 in den Vorruhestand geschickt wurde, nachdem sie zuvor für das Bahnumweltzentrum Kirchmöser die Datenbanken über Abwasserkanäle betreut und ausgewertet hatte, gesteht unumwunden, dass sie “nur zu einem Viertel aus der Gegend” stamme. Eben jenes Viertel aber hatte einst eine Familientragödie ausgelöst. Fritz Wipperling, der Großvater aus dem Harz, hatte sich in ein Mädchen aus Milow verliebt. Nach Meinung der Familie jedoch war das für ihn die falsche Frau, denn sie brachte in die Ehe kein Geld. Da er nicht von ihr ablassen wollte, wurde er kurzerhand enterbt. So löste man damals Familienkonflikte. Großvater Fritz war ein unternehmender, fleißiger Mann. Er gründete eine Handschuhfabrik, die durchaus florierte und die Familie ernährte, bis er sie in der Weltwirtschaftskrise Ende der zwanziger Jahre wieder verlor. Ein Brandenburger Schicksal, das weder alt noch neu ist. Manch hoffnungsvoller Jungunternehmer der Gegenwart wird sich mit seinem Schicksal identifizieren können.
Auch Anneliese Wipperling wäre lieber Germanistin geworden, doch nur ein Lehrerstudium hätte sie wenigstens in die Nähe eines solchen Berufswunsches bringen können. Sie aber hatte keine Ambitionen auf den Lehrerberuf. Da sie in ihrem Abiturzeugnis in allen Fächern eine Eins aufweisen konnte, außer im Sport, entschloss sie sich, Chemikerin zu werden. Ein Studium in Leipzig verhalf ihr zu dem einschlägigen Diplom. Doch da hatte sie schon der Virus erfasst, der sie Gedichte schreiben ließ.
Chemie und Lyrik – wie geht das zusammen? “In den Naturwissenschaften wie in einem Gedicht ist es verpönt, viele oder gar überflüssige Worte zu machen. Außerdem liebe ich straff und spannend Geschriebenes.” Schon in der Grundschule reimte sie sich einiges zusammen. Später war ihr Vorbild der sprachgewaltige Majakowski. “Dessen Stil hat mir gefallen.” 1969 entstand das aus ihrer Sicht “erste brauchbare Gedicht”.
Auch ihre Begeisterung für Phantastisches und Utopisches geht auf die Schulzeit zurück. “Das waren zwei dünne blaue Hefte. Doch ich habe sie in die Ecke geworfen. Mir war klar: Prosa kannst du nicht.”
Nach dem Studium kehrte sie zur Mutter nach Brandenburg zurück und nahm ihre Arbeit bei der Deutschen Reichsbahn auf, in der Zentralen Prüf- und Entwicklungsstelle des Verkehrswesens, wo sie im Lauf der Jahre allerlei Felder zu beackern hatte – von der Schmierungstechnik über die Standardisierung bis zur Literatursammlung zum Verhältnis von Umwelt und Energie.
Nebenbei, aber mit großer Hingabe, schrieb und dichtete sie, zuerst im Zirkel schreibender Arbeiter des Stahl- und Walzwerks, später dem des Getriebewerks (aus dem nach der Wende die Havelländische Autorengruppe hervorgegangen ist).
“Bei allen Vorteilen und auch der Förderung, die den dichtenden Laien zuteil wurde, hatte ich immer das Gefühl, als stünden hinter jedem schreibenden Arbeiter gleich zehn Funktionäre, die mit seinem Tun ihr Geld verdienen und sich wichtig machen.”
Zwar sagt sie über sich, sie setze “im Alltag und bei wichtigen Entscheidungen ganz vulkanisch den Verstand ein”. Doch zugleich weiß sie, “dass in der Kunst oft jene Seiten der Persönlichkeit zum Vorschein kommen, die sonst eher unterrepräsentiert sind”. Und sie räumt auch ein, oft genug anzufangen, “ohne zu wissen, wo es aufhört.” Dann sind die Gefühle an der Macht. Bald schon kam zum Umgang mit Gedichten und dem Faible fürs Phantastische eine dritte Leidenschaft hinzu – jene für die Lebensweise und Geisteswelt der nordamerikanischen Indianer. “Natürlich haben wir schon als Kinder Indianer gespielt. Da war ich niemals eine Squaw, sondern immer der Häuptling, denn als Kind wäre ich viel lieber ein Junge gewesen. Noch heute kann ich mit so genannten Frauengesprächen nichts anfangen. Durch Bücher bin ich dann immer weiter in ihre Lebensweise hineingezogen worden. Ich gehöre aber nicht zu denen, die im Sommer wochenlang auf einer Wiese so tun, als gehörten sie zu den Dakota oder Cheyenne. Das einzige, was ich einmal selbst angefertigt habe, ist ein Stirnband. Wenn ich in irgendeinen Stamm aufgenommen würde, dann wäre das etwas anderes und eine große Ehre. Aber so?” Und dann erzählt sie eine Anekdote, die nicht nur ein Schmunzeln hervorruft, sondern auch nachdenklich macht. Sie endet mit der Frage eines nordamerikanischen Ureinwohners an einen Deutschen: “Warum stehlt ihr uns sogar noch unsere Ahnen? Warum spielt ihr nicht die alten Germanen?”
Am Mittwoch, dem 25. April, 19.00 Uhr liest sie “mit unserer kleinen Truppe” in der Bibliothek der Asklepios Fachklinik aus dem jüngst erschienen Gemeinschaftsband “Tief im Inneren tanzen sie” und anderen Werken.
Brandenburger Wochenblatt, 01.04.2007
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