DAMALS (und heute): „Unsere Demokratie“

Ort: Brandenburg an der Havel

Zeugin: Anneliese Wipperling

Wahlen in der DDR waren merkwürdige Folkloreveranstaltungen. Einerseits propagandistisch zu ungeheurer Wichtigkeit aufgeblasen … andererseits gab es überhaupt nichts zu entscheiden.

Gewählt wurde nämlich eine Einheitsliste der Nationalen Front. Die Namen standen bereits vorher fest. Es ging nur noch um eine möglichst hohe Wahlbeteiligung.

Zur Nationalen Front gehörten SED, NDPD, LDPD, CDU, Bauernpartei, FDGB, DFD und FDJ. Ich hoffe, ich habe niemanden vergessen.

Die angeblich mit der SED befreundeten Parteien nannte man Blockparteien oder auch spöttisch „die Angeblockten“.

Die sogenannten Massenorganisationen waren durchweg von der SED dominiert. Es war alles so geregelt, dass überhaupt nichts schiefgehen konnte.

Eine Opposition, die stören konnte, gab es nicht.

Trotzdem wurde ein Riesenaufwand getrieben.

Überall hingen Fahnen und Plakate mit markigen Losungen.

Das Wahllokal war festlich geschmückt.

Junge Pioniere sangen revolutionäre Lieder.

Es gab Solidaritätsbasare mit hübschen, mehr oder weniger nutzlosen Basteleien.

Erfahrene Genossen und junge FDJ-ler klingelten bei säumigen Bürgern an der Wohnungstür und forderten sie auf, zur Wahl zu gehen.

Manche machten sich dann leise murrend auf den Weg, andere verdünnisierten sich bis 18.00 Uhr oder stellten sich tot.

Zu gehbehinderten oder kranken Mitbürgern wurde eine fliegende Wahlurne geschickt damit ihre wertvollen Stimmen ja nicht verlorengingen.

Der brave DDR-Bürger betrat (oft in Begleitung seiner Kinder) feierlich das Wahllokal, zeigte seinen Personalausweis und die Wahlbenachrichtigung vor, empfing seinen Wahlzettel, faltete ihn in aller Öffentlichkeit feierlich zusammen und steckte ihn in die Wahlurne.

Wer die einzige Wahlkabine benutzte, war verdächtig und wenn man auch noch das Kratzen eines Stifts hörte …

Es war eine Farce und ich bin froh, dass es heute anders läuft.

Mit deutlich weniger Folklore und Fahnenschwenken. Dafür mit echten Alternativen.

Noch gibt es sie.

Grundsätzlich neigt jede Regierung (egal welcher Ausrichtung) dazu, ihre Macht zu verfestigen und zu verstärken. Das ist menschlich verständlich (schließlich hat man sich an die Macht, den Stuhl und die damit verbundenen Privilegien gewöhnt).

Aber das ist nicht gut.

Es ist wichtig, regelmäßig das Volk zu befragen und bei Bedarf den Kurs zu korrigieren oder für einen Wechsel zu sorgen.

Mir gefällt das Demokratiemodell der Schweiz. Da gibt es zu wichtigen Fragen Volksabstimmungen. Die da oben können nicht einfach machen, was sie wollen. Auch eine Begrenzung der Amtszeit finde ich vernünftig. Sie verhindert, dass Regierende allzu fest kleben bleiben.

In diesem Zusammenhang empfehle ich das Buch „Regierung“ von B. Traven. Da kommt ein Feuertopf unter dem Stuhl eines Häuptlings ins Spiel. Der Kerl soll sich nicht zu sehr an den Sitz gewöhnen und muss ihn auch nach einem Jahr wieder räumen. Besondere Privilegien (fettes Gehalt und Pension, Frisör auf Staatskosten usw.) gibt es nicht. Nur die Brandnarben am Gesäß zeugen von der großen Ehre, die ihm zuteil wurde.

Und wenn jemand versucht, diese Gesetze zu unterlaufen, macht das Volk mit der Machete kurzen Prozess.

So einfach kann das sein.

Im „zivilisierten“ Deutschland ist so etwas natürlich nicht möglich. Da haben sich die etablierten Parteien perfekt eingebunkert und scheuen auch nicht vor Wählertäuschung zurück. Im schlimmsten Fall verlieren Wahlen (wie in der DDR) ihren Sinn.

Wir sind wieder fast so weit.

Schade! Ich hatte dieses wohlhabende und friedliche geeinte Deutschland liebgewonnen und mich an demokratische Mitbestimmung und individuelle Freiheit gewöhnt.

Und auch an ganz neue Chancen für uns Autoren.

Niemand verlangte (wie zu DDR-Zeiten) von ihnen, dass sie dauernd schwanzwedelnd Männchen machen. Bücher mit frechen Kohl-Witzen lagen in jeder Buchhandlung herum. Es war einfach nur geil.

Und jetzt?

Wer nicht spurt, wird gacancelt.

Ich habe, verdammt nochmal, keine Lust, wieder die Klappe zu halten und alle vier Jahre eine „Nationale Front“ zu bestätigen.

Einen nutzlosen Zettel zu falten und in eine Wahlurne zu stecken.

Ich möchte auch nicht, dass jemand mich heraus klingelt und zum Urnengang mahnt.

Und auch nicht, dass Aktivisten durch die Straßen patrouillieren und nachschauen, ob ich die richtige Fahne herausgehängt habe.

Heute wäre das wohl die Regenbogenflagge denn Schwarz-Rot-Gold ist ja verpönt.

Das ist ja angeblich so rääächts.

Fuck!

Wir haben nicht gut auf unsere Demokratie aufgepasst und jemand hat sie uns langsam und heimlich unter unserem Allerwertesten weggezogen.

Oder weggefressen wie Motten einen Pullover aus guter Wolle zerstören. Du willst ihn anziehen und überall sind Löcher und Laufmaschen.

Merkwürdigerweise stört sich kaum jemand an dem Desaster. Die Leute sitzen mit ihren ausgefransten Klamotten gemütlich vor ihren Fernsehern und glauben, dass alles gut ist.

Nichts ist gut!

Statt um Frieden, Freiheit und Demokratie zu kämpfen, fahren sich die Menschen gegenseitig wegen irgendwelchem Bullshit an die Gurgel.

Unsere Gesellschaft war schon lange nicht mehr so tief gespalten.

Gute Freunde regen sich über das Ergebnis der Wahlen in Deutschland und den USA auf: „Wie können diese Dummköpfe nur AfD und diesen unmöglichen Trump wählen! Da lauert doch der Faschismus schon hinter der nächsten Ecke! Die werden all das Gute und Fortschrittliche wieder zurückdrehen! Die Welt wird verbrennen … in einem Krieg oder durch den Klimawandel! Die apokalyptischen Reiter werden über unsere arme Erde galoppieren …“

Es erschüttert sie, dass eine Mehrheit mit den linken Segnungen der neuen Empfindsamkeit und der Transformation der Gesellschaft nicht einverstanden ist.

Man hat zu lange nicht auf diese Menschen gehört und ihre Bedenken nach Gutsherrenart beiseite gewischt. Schlimmer noch, man hat versucht, die Unzufriedenen einzuschüchtern und mit allerlei faulen Tricks zu manipulieren.

Jetzt wundert man sich über das Ergebnis.

Und es macht Angst.

Dabei ist eigentlich alles ganz einfach.

Was will der Normalbürger? Also nicht der abgehobene vegane Intellektuelle sondern der ganz normale Arbeitnehmer, der jeden Tag früh aufsteht und zur Arbeit geht?

– Eine bezahlbare, warme Wohnung

– Gute Arbeit, die sich auch lohnt

– Volle Regale im Supermarkt

– Bezahlbare Preise

– Sichere Energieversorgung

– Eine nette Familie

– Gute Bedingungen für Kinder

– Schutz der eigenen Kultur und Identität

– Sicherheit im öffentlichen Raum

– Gerechtigkeit

– Spaß und Sinn im Leben

– Frieden! Frieden! Frieden!

Wer das nicht bieten will oder kann, wer diese schlichten Grundbedürfnisse verachtet und ignoriert, wird irgendwann abgewählt. Zumindest ist das in einer echten Demokratie so.

Wer nicht abgewählt werden will muss vernünftige Politik für die Mehrheit machen.

Wenn die etablierten Parteien sich vom Volk abwenden sucht es nach Alternativen.

Der große Lümmel ist eben doch nicht so dumm, wie unsere Eliten denken.

Als Naturwissenschaftlerin weiß ich zu wenig, um einen Ausweg aus der total verfahrenen Situation Deutschlands anbieten zu können. Das überlasse ich lieber den HiWis.

Die Chemie beantwortet solche Fragen nur sehr allgemein: Es geht bei jeder Reaktion um Gleichgewichte. Das heißt, es finden Hin- und Rückreaktionen gleichzeitig statt. Synthese und Zerfall. Man kann diese Gleichgewichte durch Druck, Temperatur oder Katalysatoren verschieben … aber man kann sie nicht ganz beseitigen. Das wäre gegen die Natur.

Auf die Gesellschaft angewendet bedeutet das: Wer es in einer Richtung übertreibt (z.B. mit Wokeness und Gendersternchen) bekommt eine Gegenbewegung in die andere Richtung.

Das ist keine Katastrophe sondern ganz normal.

Leider träumen alle Ideologen der Welt davon, diesen Mechanismus auszuhebeln und im Extremfall die Gegenseite zu vernichten. Es geht ihnen um die perfekt konstruierte, makellose Umsetzung ihrer Schnapsideen.

Ideologen sind fanatisch, gnadenlos und auf eine sehr spezielle Weise dumm. Das macht sie gefährlich.

Momentan spielen sie sich als Gralshüter der Demokratie auf und wissen möglicherweise gar nicht, was das ist.

Und jetzt meldet sich die Poetin zu Wort:

Stellt euch die Demokratie als einen Vogel vor. Einen Spatz, eine Möwe, eine Krähe oder einen Adler. Da gibt es von klein und niedlich bis groß und gefährlich viele Möglichkeiten. Was braucht so ein Wesen der Lüfte?

– Einen starken Körper

– Kräftige Füße und Krallen zum Festhalten auf dem Boden/im Geäst

– Ein gesundes Herz in der Brust

– Einen wachen Verstand

– Scharfe Sinne

– Einen harten Schnabel

– Eine gesunde Verdauung

Es ist die Mitte der Gesellschaft, die mit Kopf, Herz und Bodenhaftung für Stabilität sorgt.

Aber um weit und hoch zu fliegen, sich weiter zu entwickeln und in ferne Länder zu reisen braucht ein Vogel mehr.

Ganz recht, er braucht seine Flügel. Und zwar beide.

Die sollten im Idealfall ungefähr gleich groß sein, gleich weit hinausgreifen in den Raum.

Wer einen davon amputieren will, verdammt den Vogel zu einer gefährlichen Existenz am Boden oder einer kläglichen im Käfig.

Ja, die Spannweite darf groß und die Schwungfedern können ruhig lang sein. Solange eine gut funktionierende Mitte vorhanden ist und niemand versucht, die Gegenseite zu vernichten, ist alles gut.

Solange kann der schöne Vogel Demokratie im Einklang mit der menschlichen Natur fliegen.

Also fürchtet euch nicht vor den Wählern.

Und auch nicht vor rechts oder links.

Fürchtet euch lieber vor den Jüngern der reinen Lehre, die den Flügel auf der anderen Seite abtrennen möchten.

Fürchtet Metzger und Chirurgen!

Fürchtet euch vor dem Käfig!

© Amanda Landmann


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