Es werde Gott

In ferner Zukunft droht das gesamte Universum im Chaos zu versinken: Naturgesetze verlieren ihre Gültigkeit, Lebewesen sterben. Die Umahaij-Meister Heylas erfahren, wie die Kathastrophe aufgehalten werden kann – aber dafür ist ein schreckliches Opfer nötig …

SF-Story von Anneliese Wipperling

Zehn alabasterne Thronsessel stehen seit Heylanergedenken auf dem glasig aufgeschmolzenen, schwarzen Gipfel des Mount Karanah. Ihr schimmerndes Weiß hebt sich auf wundersame Weise vom dunklen Untergrund ab. Niemand kann sagen, wer sie dorthin geschafft hat. Einige Historiker vermuten, dass es Sklaven der bronzezeitlichen Sonnenpriester waren. Aber sie können nicht erklären, mit welcher Technik die schweren Quader vom Ufer des Makkameeres quer durch die südliche Wüste transportiert und den fast senkrechten Hang hinaufgehievt wurden. Die in den harten Obsidian gehauenen Kerben taugen gerade noch notdürftig als Halt für die Hände und Füße. Eine böse Legende erzählt, dass die Priester, wenn sie alt und schwach wurden, irgendwann abrutschten und in die Tiefe stürzten –  in eine infame Metapher auf den Abgrund ohne Wiederkehr.
Irgendwann hörten die Heylaner auf, mit ihrer gefährlichen Sonne zu sprechen und die weißen Thronsessel verwaisten für viele Jahrhunderte. Bis der große Erneuerer Ennu kam und dem Leben einen neuen Sinn verlieh.
Seitdem versammeln sich auf dem heiligen Berg regelmäßig die zehn größten Umahaij-Meister. Sie sprechen über den Zustand der heylanischen Gesellschaft, über neue Methoden zur Disziplinierung des Geistes, über den Gesang des Kosmos und das Plätschern der Wellen im Meer der verlorenen Umahs. Inzwischen lassen sie sich von den Nulltransportern ihrer Wohnorte direkt vor ihre angestammten Thronsessel transferieren, was dazu führt, dass dort oben inzwischen auch gebeugte kraftlose Greise sitzen.
Einfache Heylaner schauen zuweilen ehrfürchtig zu dem schwarzen Gipfel empor. „Ihre Weisheit wird die Liga friedlicher Welten erleuchten.“
„Wer braucht diese autoritären Grauköpfe überhaupt noch?“ kontern die inzwischen recht häufigen Freigeister. „Wir können auf ihre mentalen Zuchtruten verzichten.“
„Nicht alle Umahaij-Meister sind alt“, murmeln dann jedes Mal junge Frauen und Männer versonnen. „Es gibt einen, der so makellos schön ist, dass unser Blut zu sieden beginnt, wenn wir nur an ihn denken.“
„Das ist aber der älteste von allen“, höhnen ihre Liebsten. „Er ist ein Sohn der Wüste und ein Ah´Maral –  unerreichbar für alle, die nicht in seiner Bruderschaft sind.“
„Ja, wir wissen, wie das bei den Kriegern ist“, denken die jungen Leute still. „Sie dürfen sich nur untereinander paaren. Unser Blut singt dennoch.“
„Ihr seid noch dümmer als läufige Esumis!“ knurren ihre Partner beleidigt.
Dann hört man nur noch das trockene Zischeln des Windes.

* * *

Auf dem Gipfel pfeift der Wind kräftiger und die Glasvögel kreisen gern um die uralten Thronsessel. Manchmal lassen sie auch ihre Verdauungsprodukte darauf fallen, weshalb die Umahaij-Meister es selten versäumen, reichlich Reinigungstücher zu ihren Treffen mitzunehmen. Auch diesmal inspizieren die würdigen Heylaner, zu denen sich die flirrenden Säulen verdichten, sorgfältig ihre Stammplätze, bevor sie sich leise seufzend in ihnen niederlassen. Als alle da sind, kann das übliche Ritual beginnen.
„Ich, Madras aus dem Hause Kinsai, bin der Älteste der großen Zehn“, verkündet ein großer schwarzer Mann mit glattem Gesicht und grün leuchtenden Augen ernst. „Ich leite, wie es seit dem großen Wandel Brauch ist, diese Versammlung.“
Sein offener weißer Mantel eines Kriegers der Turuska leuchtet heller als der Alabaster. Darunter trägt er nur eine enge schwarze Kniehose und einen glitzernden Waffengürtel, in dem wie immer Dolche und Handlaser stecken. Auf seiner athletischen Brust spreizt ein Adler aus Lapislazuli seine Flügel. Es ist keinerlei Anmaßung in seinen Worten spürbar –  er beansprucht nur die Würde, die ihm zusteht.
Jetzt beeilen sich weitere Umahaij-Meister, Heyla und dem flimmernden Horizont ihre Namen und ihren besonderen Wert mitzuteilen.
„Hrendahl aus dem Hause Markab“, sagt ein zierlicher hellbrauner Mann mittleren Alters mit pechschwarzen Augen selbstbewusst. „Ich bin der Stärkste von allen.“
„Mauro aus dem Hause Bollah.“ Die bleichen Züge des großen alten Mannes wirken edel und arrogant zugleich. „Mein Haus ist das bedeutendste.“
Ein böses Grinsen huscht über die blassen Lippen eines breitschultrigen Riesen. „Deine Vorfahren waren nur Ausbeuter und Schlächter. Ich hingegen stamme aus dem edlen Haus Lil´Ana. Wir waren schon immer Männer des Geistes.“
„Frieden, Mommes!“ weist ihn Madras kühl zurecht. „Niemand kann sich hier auf seine Ahnen berufen. Es zählt nur das eigene Können und Verdienst.“
„Sagst du das, weil du von diesen bettelarmen Wilden aus der südlichen Wüste abstammst?“ fragt Mommes lauernd. Mauro grinst dazu anzüglich. Gegen den Turuska sind sich die beiden Sprosse uralten Adels einig.
„Seid still! Eure Eitelkeiten sind momentan ziemlich unwichtig“, befiehlt Madras trocken. „Es geht heute um die Rettung der Welt. Ich bitte die anderen, sich vorzustellen.“
Mauro und Mommes fauchen abfällig, während sich die Ãœbrigen nacheinander erheben.
„Kah’Luhr vom Hause Tureg.“
„Kah’Zitrah aus dem Hause Kuma.“
„Gluro aus dem Hause Massa.“
Die drei jungen dunkelhäutigen Umahaij-Meister werfen Madras einen verschwörerischen Blick zu, bevor sie sich wieder setzen.
In den hellen steinernen Gesichtern der zwei ehrwürdigen Greise zuckt kein Muskel. Ihre Augen sehen undurchsichtig wie Farbkleckse aus.
„Kantro aus dem Hause Baldur.“
„Raspah aus dem Hause Minas.“
Als Letzter meldet sich ein blasser Mann mittleren Alters mit exakter Ponyfrisur und einem schmalen regelmäßigen Gesicht. In seinen halb geschlossenen tiefschwarzen Augen glimmt ein kaltes Feuer. „Lailo aus dem Hause Woran.“
„Ihr habt es sicher schon gehört“, kommt Madras sofort zur Sache. „Nakkars Sonne hat die ersten beiden Planeten ihres Systems verschlungen. Der Nächste ist nur noch eine ausgeglühte Kugel ohne Wasser, ohne Leben. Es geschah ohne Vorwarnung und innerhalb weniger Timas. Niemand hat überlebt.“
„Ein Roter Riese –  und so schnell?“ fragt einer der Greise verwirrt. „Es ist viel zu früh dafür. Die nakkaranischen Astrophysiker …“
„Der neue Riesenstern leuchtet blauviolett wie die Blüten des Mombastrauchs“, erwidert Madras leise. „Er strahlt vor allem im Ultraviolett- und Gammabereich. Das passt in keine Theorie. So etwas dürfte es überhaupt nicht geben. Ich fürchte, die Regulatoren haben versagt. Der Eine, der alles sieht, hat versagt. Das ganze Universum ist gegenwärtig schutzlos. Heyla ist in großer Gefahr.“
„Die Sonna Targa ist auch violettblau,“ murmelt Kah’Zitrah nachdenklich.
„Targa ist sehr jung und war nie ein Stern der Hauptreihe.“
„Heyla ist bisher ohne Stabilisatoren ausgekommen“, erklärt Mommes lässig. „Und wir haben einen Plan für den Notfall. Ich verstehe die ganze Aufregung nicht.“
„Die Zukunft ist bereits im Fluss. Alles ist möglich, sogar, dass die Schranken zu irgendwelchen den Paralleluniversen fallen und sich alles vermischt. Fremde physikalische Gesetze werden wie Wellenfronten durch das Chaos branden und die letzten Enklaven des Lebens vernichten.“
„Du hast mit Prinda dem Traumwanderer gesprochen, meinem Vetter dritten Grades.“ In Kah’Luhrs schönen schwarzen Augen flackert kurz Angst auf, die das Umahaij sofort wieder aufsaugt. Ihr ebenmäßiges junges Gesicht ist nur noch eine starre Maske. „Mit mir hat er seine Träume auch geteilt. Das Schrumpfen in der Kälte kam über Heyla –  anderswo brannte das letzte Wasser und die Lungen von Menschen und Kass zerplatzten.“
„Ich kann es in eurem Geist sehen“, krächzt Hrendahl aus dem Hause Markab gepresst. „Es gibt noch viel entsetzlichere Todesarten und …“
Selbst die beiden Adeligen schweigen erschüttert.
„Öffnet eure Umahs und ich lasse euch erleben, was der Nachfahre meines guten alten Freundes Piri mir gezeigt hat,“ bietet Madras mit undurchdringlicher Miene an.
„Nein!“ schreien die weißen Umahaij-Meister auf. „Diese Bilder könnten uns töten.“
„Wenn ich sie ertragen kann, schafft ihr das auch“, kontert der älteste Meister schroff. „Seid nicht solche Weichknödel und schaut genau hin!“
Der alte Kantro aus dem Hause Baldur kichert plötzlich nervös. Seine Stimme klingt merkwürdig hell. „Wir können doch gar nichts ändern. Warum nicht einfach sorglos weiterleben, bis es geschieht. Ich könnte mir zum Beispiel eine neue Gemahlin suchen.“
„Du weißt, dass wir es wissen“, widerspricht Madras mitleidig und denkt daran, dass der Begriff Weichknödel für einen Mann, der sich um der Reinheit seines Umahs willen kastrieren ließ, erschreckend real ist. „Du brauchst schon lange keine Frau mehr –  aber wir benötigen deine Weisheit und Stärke. Öffne dich mir! Bitte!“
Der älteste aller Meister, der zeitlos schöne Madras aus dem Hause Kinsai, braucht seine Kollegen nicht zu berühren. Die Visionen des mächtigen Traumwanderers fallen wie giftiger Regen in die Umahs der anderen, sickern bis in die empfindsamsten Tiefen ihres Seins.

* * *

Auf den ersten Blick sehen die Straßen von Heyla’Thur wie immer aus: Die grelle Mittagssonne schlägt sie gnadenlos platt. Hell gekleidete Heylaner diskutieren in den Arkaden leise und diszipliniert an melodisch plätschernden Brunnen. Einige Außenweltler schleppen sich im Schatten der niedrigen Häuser und Gartenmauern dahin. Sie ächzen und taumeln, während die Hitze ihnen den Schweiß von ihren gedunsenen Gesichtern leckt. Ein paar kleine Jungen jagen kreischen ihrem zahmen Whiskal hinterher. Ein Mädchen wiegt im Schatten eines Indukibaums hingebungsvoll eine grünlich bemalte Puppe.
Das Unheil kommt lautlos und unerwartet.
Winzige Glasvögel fallen lautlos vom Himmel und verwandeln sich beim Aufprall in leichte silbrige Aschehäufchen. Ãœberall bilden sich mehrere Djibb große rauchige Kugeln, in denen alles schrumpft –  auch die Lebewesen, deren trostlose Schreie die Umahs der zehn großen Meister martern. Risse ziehen sich kreuz und quer durch die Mauern der Wohnstätten, werden immer breiter –  bis alles donnernd zusammenbricht. Aber da sind die Heylaner und Außenweltler längst verstummt.
Dann lösen sich riesige Flashs aus der Atmosphäre der Sonne, die sich abrupt dunkelblau verfärbt. Die Lebewesen außerhalb der rauchigen Kugeln verbrennen. Nichts bleibt übrig. Die Sonne scheint immer näher zu kommen, bis sie irgendwann ein Viertel des Himmels einnimmt. Ein dunkelroter Schmelzfluss ebnet alles ein. Heyla ist tot.
Die Perspektive ändert sich: Kälte und Hitze fauchen quer durch den Kosmos. Schrumpfen und Expansion zerren wie Gezeitenkräfte an den kleinsten Bausteinen der Materie. Der Tod hat überall ein anderes grausames Gesicht. Menschen blähen sich auf und werden von innen zerfetzt. Kass verlieren innerhalb weniger Zeiteinheiten ihr gesamtes Wasser und verwandeln sich in blinde winselnde Fellbündel. Norna rennen im Wahn durcheinander, schütteln die Arme himmelwärts, während ihre telepathischen Stirnhöcker rot aufquellen und sich dann in eiternde Löcher verwandeln.
Ganze Welten verdampfen zu gestaltlosen Plasmawolken. Farbschlieren wabern durch die Dunkelheit, Schatten bemächtigen sich der übriggebliebenen Sonnen.
Dann stürzt alles in sich zusammen. Kosmen werden zu winzigen Punkten in einem grauen gestaltlosen Nirgendwo.
Der Eine weint mit seltsam dünner Stimme. Dann verstummt auch er.

* * *

„Was für ein Zeug hatte euer Wahrträumer eigentlich geschluckt, bevor er sich Schlafen legte?“ fragt Mommes mit ätzender Stimme. „So etwas gibt es doch überhaupt nicht!“
„Du vergisst Am’Ramahs Hammer“, kontert Madras ernst.
„Ach ja, die Wunderwaffe der Ah’Maral!“
„Mit der wir vor zweitausend Jahren das Triumphat zerschlagen und die Liga friedlicher Welten gerettet haben.“
„Märchen!“
„Ich war dabei.“ Die klaren grünen Augen des ältesten Umahaij-Meisters verdüstern sich. „Mit meinen eigenen Händen habe ich diese Waffe auf eine Garnison Kor’marra gerichtet und ihr Sterben wie mein eigenes erlebt. Möchtest du wirklich, dass die Völker des gelben, schwarzen und roten Sektors auf diese Weise zugrunde gehen? Ist das die Art Tod, die du für dich selbst und deinen Clan akzeptieren kannst?“
In der Runde wird es ganz still. Nur der Wind pfeift weiter sein eintöniges Lied.
„Wir werden wahrscheinlich rechtzeitig merken, wenn es anfängt“, meldet sich schließlich Hrendahl aus dem Hause Markab zu Wort. „Der Abgrund ohne Wiederkehr kann uns vor all diesen Gräueln bewahren.“
„Und die Kleinkinder?“ fragt Madras scharf. „Die Insassen der Häuser für unvollkommene Geister? Die Außenweltler?“
„Wir könnten so viele wie möglich rechtzeitig töten.“
„Wie kannst du so etwas vorschlagen! Du bist ein Nachfahre des großen Silmoh, der einst mein Lehrer war. Wo ist dein Mitgefühl?“
„Aber wir können doch gar nichts tun!“ wehrt sich der Gescholtene. „Wenn sich der Kosmos auflöst, sind selbst wir machtlos. Wir können dann nur noch demütig ein adäquates Ende wählen.“
„Und wenn wir versuchen, mit dem Einen zu sprechen? Vielleicht kennt er einen Ausweg.“
„Und an was denkst du da?“ fragt Mommes gehässig. „An das berühmte Gerammel eurer Liebespaare im Angesicht der Ma’Rinnu? Mir hat der oberste Hüter des Kosmos noch nie geantwortet. Vielleicht gibt es ihn gar nicht?“
„Aber du fühlst doch seine Anwesenheit genau wie ich!“
„Ja, da ist irgendwas –  aber vielleicht ist alles auch nur Einbildung.“
Jetzt reden die Weißen wild durcheinander: „Mich hat er auch nie beachtet!“
„Jedenfalls bin ich ihm völlig egal!“
„Er mag uns nicht!“
„Was für ein unnützer Gott!“
„So unnütz nun auch wieder nicht“, widerspricht Gluro aus dem Hause Massa. „Ohne ihn wären wir längst zu Staub zermahlen. Er hat über Jahrmillionen die Entropie im Universum verringert und uns beschützt. Irgendetwas ist mit ihm passiert …“
„Ich kann ja ein bisschen meditieren“, verspricht Mauro halbherzig und die übrigen weißen Umahaij-Meister signalisieren erleichtert Zustimmung.
„Madras, du musst den Einen selbst fragen“, sagt Kah’Zitrah aus dem Hause Kuma eindringlich. „Geh mit deinem talurischen Liebsten hinaus zu den Ma’Rinnu und vollziehe das heilige Ritual der Jungvermählten. Er hat schon einmal mit dir gesprochen.“
Kah’Luhr und Gluro stimmen ihr wortlos zu.
„Na, dann ist doch alles ganz einfach!“ dröhnt Mommes mit makabrer Fröhlichkeit. „Die Turuska retten wieder einmal die Welt und wir genießen sorglos unser Leben. Dafür seid ihr schließlich da –  um für edlere Heylaner eure schwarze Haut zu riskieren.“
„Ja, ihr seid sowieso unempfindlicher als wir!“ bemerkt Mauro vielsagend. „Diese Aufgabe ist eindeutig für euch bestimmt.“
„Manches ändert sich nie!“ murren die jungen Turuska, während die Weißen schlichterer Abkunft beschämt wegsehen.
„Ich werde tun, was ihr von mir verlangt“, verspricht Madras kühl. „Aber nicht, um eure bleiche Haut zu schonen. Mir tun vor allem die kleinen Kinder überall im Kosmos leid.“
„Dann sehen wir uns wieder, wenn alles erledigt ist“, seufzt der Nachfahre des großen Silmoh erleichtert und löst sich in einem Flirren auf.
Mil’Timas später verschwinden auch die übrigen Weißen.
Nur Madras und die drei jungen Umahaij-Meister der Turuska bleiben zurück.
„Ich habe Angst um meinen liebsten Bindungspartner“, bekennt der älteste Meister beschämt. „Er ist nicht besonders kräftig, und er wurde vor langer Zeit schwer verwundet. Die Ma’Rinnu werden ihn wahrscheinlich aus Versehen töten.“
„Sprich mit ihm“, empfiehlt Kah’Luhr schwesterlich. „Arrak Rinar muss das selbst entscheiden. Du entehrst ihn, wenn du ihm die Möglichkeit nimmst, sich für uns alle zu opfern.“
„Kssss!“ zischelt der Wind trocken. „Ãœber zweitausend Jahre sind mehr als genug. Kssss.“

* * *

Die leichten sandfarbenen Planen des Zeltes blähen sich im Abendwind. Die Turuska leben immer noch wie ihre Vorfahren: beinahe schutzlos dem heißen Atem der Wüste ausgeliefert. Ihre Wohn- und Sanitärzelte drängen sich zwar um hochmoderne Nullraumkabinen und ihre Informationstechnik entspricht dem neuesten Standard der Ligaflotte –  aber sie ernähren sich von echten Pflanzen, die sie in ihren sorgsam bewässerten Wüstengärten ziehen und wie in alter Zeit mit ihren eigenen Verdauungsprodukten düngen. Sie legen Wert auf eine schlichte Lebensart und geschlossene Kreisläufe –  und darauf, dass sie ihre wenigen Habseligkeiten jederzeit zusammenpacken und weiterziehen können.
Auch der große Umahaij-Meister und langjährige Premierminister Heylas besitzt nur das Allernotwendigste: ein Bett, eine uralte steinerne Lampe, einige dunkle Truhen aus Holz, ein wenig Geschirr und Kleidung. An den Zeltstangen hängen alte und moderne Waffen –  Dolche, Schwerter, schwere Laser und zierliche Infraschallpistolen. Seinen weißen Mantel eines Ah’Maral, die schwarze Kniehose und den glänzenden Waffengürtel hat er achtlos auf den Boden geworfen. Seinen schwarzen nackten Körper ziert nur noch das blaue Donnervogelamulett, das ihm vor einer Ewigkeit ein Medizinmann der Lakota geschenkt hat.
Arrak Rinar, sein talurischer Liebster liegt mit geschlossenen Augen in seinen Armen, aber diesmal kann er die Zärtlichkeiten seines Partners nicht unbeschwert genießen. Auf seiner glatten schiefergrauen Haut mischen sich immer wieder dunkle Linien der Angst unter die roten Muster des Begehrens.
„Entspann dich“, flüstert Madras begehrlich. „Diese Nacht gehört uns allein –  was immer der morgige Tag bringen mag. Öffne deine Pforte für meinen Speer! Fliege mit mir in einen Himmel aus grünem Gesang!“
„Das kann ich nicht, solange du mir nicht zeigst, was sich hinter dieser Mauer in deinem Geist verbirgt. Es ist das erste Mal seit dem Sieg über das Triumphat …“
„Du wirst danach nicht mehr singen können und ich möchte gern ein allerletztes Mal …“
„Ich bin nicht schwach“, widerspricht der Taluri sanft. „Wenn du es aushalten kannst, kann ich es auch.“
„Ich vermag es nicht wirklich“, bekennt der große Meister beschämt. „Ich kann das Grauen zwar ein wenig zurückdrängen, aber es lauert jede Hum’Tima in meinem Unterbewusstsein. Am liebsten würde ich pausenlos schreien.“
„Die Ratsversammlung der Umahaij-Meister?“
„Es ist ungerecht! Sie haben ganz allein mir diese entsetzliche Last aufgebürdet.“
„Was für eine Last, Liebster?“
„Sieh selbst“, sagt Madras und die Mauern in seinem Umah fallen lautlos in sich zusammen. Der Staub senkt sich langsam und das Schrumpfen in der Kälte beginnt.
Arrak Rinar atmet scharf ein. Schwarze Zacken wischen die bunten Ornamente der Liebe von seiner Haut. Dann wird sein Körper weiß und starr.
„Arrak! Nicht!“ schreit sein Gefährte erschrocken auf. „Wie soll ich ohne dich weiterleben?“
Dann verbirgt er sein Gesicht im seidigen nachtblauen Haar des Taluri.
Die Welt scheint den Atem anzuhalten, während Timas vergehen und zögernd die Nacht heraufzieht. Als die Zeltplanen im silbernen Mondlicht zu glühen beginnen, rafft sich Madras auf, bettet seinen liebsten Bindungspartner sanft in die roten Kissen, zündet die steinerne Lampe an. Er entnimmt einer kleinen schwarzen Truhe ein Medispray und weckt Rinar.
„Verstehst du es nun?“
„Alles“, antwortet der Taluri und färbt sich langsam wieder schiefergrau. „Madras! Dies ist nicht unsere erste harte Prüfung. Wir stehen das gemeinsam durch.“
„Du wirst wahrscheinlich sterben, wenn wir uns im Angesicht der Ma’Rinnu vereinigen. Du weißt, dass sie Lust und Schmerz nicht auseinanderhalten können. Sie werden unsere Gefühle solange anheizen, bis aus allem die reine Qual wird.“
„Vielleicht auch nicht. Vielleicht wird auch diesmal Corazón Inserra …“
„Sie hat sich seit vielen Jahrzehnten nicht mehr gezeigt. Wahrscheinlich ist ihr Umah gar nicht mehr Teil des Einen, der alles sieht und sehr selten eingreift. Sie war nur ein Mensch. Vermutlich hat sich ihr Denken und Fühlen aufgelöst.“
„Cori war Captain der Ligaflotte und hat sich für eine Bruderschaft der Ah’Maral aufgeopfert. Sie starb in einem Augenblick höchster Hingabe. Nicht deutet darauf hin, dass ihr Umah schwächer ist als das eines Aorai.“
„Aber warum lässt sie uns dann allein?“
„Wir müssen sofort in die Wüste gehen und gemeinsam mit den Ma’Rinnu nach ihr rufen.“
„Bei dir klingt es auf einmal ganz einfach“, murmelt Madras bewundernd. „Ich weiß nicht, woher du immer wieder diese schlichte Weisheit nimmst.“
„Aus der Hölle oder wie du sagen würdest, der puren Entropie“, antwortet der Taluri leise. „Aus den Leiden meiner Gefangenschaft, den Qualen bei den Experimenten der Djindjii, der Erniedrigung durch die talurischen Aufseher und aus meiner unerwarteten Rettung durch dich. Ich habe gelernt, bis zur letzten Hum’Tima zu hoffen.“
„Und wenn es diesmal keine Hilfe gibt?“
„Zweitausend Jahre an deiner Seite waren mehr Glück, als ein kranker kurzlebiger Taluri erhoffen konnte.“
„Ohne die lebensspendende Macht Gattors wären wir beide längst tot. Ohne die Liebe des Narguhl …“ Madras verstummt abrupt. Seine grünen Augen leuchten im Mondlicht auf. „Wir sollten Gattor mitnehmen.“
„Das entspricht aber nicht den Traditionen“, protestiert Rinar halbherzig.
„Wir sind auch kein traditionelles Paar“, kontert Madras und konzentriert sich auf seinen Waffenbruder.
Wenig später schiebt sich der alte Gärtner durch das leichte Kraftfeld am Zelteingang. „Ich bin bereit.“

* * *

Sie warten im Licht von zwei Monden auf ihre Brüder im Geist: Riesige Siliziumwesen, die schon lange vor den humanoiden Heylanern in der Wüste gedacht und geträumt haben –  und immer noch in der Tiefe des Sandozeans umherwandern. Einige von ihnen sind Freunde der dunkelhäutigen Turuska, die sich redlich bemühen, die Freuden und Sorgen von Eiweißwesen zu begreifen und zu teilen.
Manchmal sind sie verständnisvoll, neugierig, lüstern, naiv oder unglaublich abgehoben. Vielleicht liegt es daran, dass ihre Zivilisation vollständig immateriell ist und dass sie Dinge wahrnehmen können, die selbst den mental begabtesten Heylanern verborgen bleiben.
Der grauhaarige kompakte Gattor sitzt ein wenig abseits mit untergeschlagenen Beinen im Sand und summt –  sich hin und her wiegend –  ein unbekanntes Lied, das er wahrscheinlich gerade erfindet.
Madras und Rinar liegen nackt und eng umschlungen auf dem größeren weißen Mantel des Meisters. Sie decken sich notdürftig mit Rinars Mantel zu und zittern trotzdem vor Kälte –  und auch ein wenig vor Angst.
„Ich verstehe das nicht“, flüstert Madras besorgt. „Sie sind normalerweise ganz wild auf Entrückungen aber diesmal …“
Er kommt nicht dazu, den Satz zu beenden, weil die Wüste heftig zu beben beginnt. Endlich kommen sie!
„Was soll das werden?“ dröhnt eine mächtige mentale Stimme argwöhnisch. „Drei Eiweißwesen mit Fühlern zwischen den Gehwerkzeugen und keins mit einer passenden Grube? Wollt ihr uns etwa ein ganz neues Erlebnis schenken?“
„Ja“, denkt Madras angespannt. „Wir zeigen euch diesmal das reine Feuer der Krieger, jene Zauberkraft, mit der wir die Bruderschaften der Ah’Maral zusammenschweißen.“
„Ich weiß aber, dass die Bindungen zwischen den Kriegern nicht zu fest sein dürfen“, meldet sich eine zweite mentale Stimme. „Ihr könntet es sonst nicht ertragen, wenn eure Partner leiden, verwundet werden und sterben. Du selbst hast es mir einst erklärt, Madras aus dem Hause Kinsai.“
„Ahrasss, mein guter alter Freund!“
Die mentale Stimme des Ma’Rinnu schwankt. „Wir spüren überall Brüche in Zeit und Raum, Wellen der Entropie, die jedes Mal näher schwappen. Unser Volk hat große Angst.“
„Wir haben auch Angst“, bekennt Madras laut. „Wir müssen mit dem Einen reden.“
„Der Eine ist blind und stumm geworden. Er antwortet nicht mehr.“
„Ahrasss! Eine gute Freundin von mir ist Teil des Einen. Sie kann vielleicht helfen.“
„Ihr habt einen Plan?“
„Ja, ich werde mich jetzt mit dem Taluri Arrak Rinar vereinigen.“
„Und wozu hast du den Narguhl Gattor mitgebracht?“
„Arrak braucht vielleicht Hilfe. Er wurde vor langer Zeit grausam gequält.“
„Heißt das, dass er diese delikaten Empfindungen …“ Die mentale Stimme klingt enttäuscht.
„Ãœbertreibt es nur nicht“, unterbricht ihn Madras. „Ich muss mich auf meine Aufgabe konzentrieren. Das kann ich schlecht, wenn ich Angst um meinen Partner haben muss.“
„Vertraut uns!“ dröhnt der andere Ma’Rinnu selbstbewusst.
Im nächsten Augenblick spüren die drei Männer, wie ihnen die Herzen vor Angst fast aus dem Mund springen.
„Sie werden unsere Gefühle nie begreifen“, denkt Madras verärgert, rammt seine Furcht mit der Macht des Umahaij in den Tresor für unerwünschte Emotionen und verschweißt die Tür mit blauer Flamme.
„Du fühlst dich auf einmal so kalt an“, flüstert der Taluri erschrocken und verbirgt sein Gesicht an der breiten Brust seines Partners, um seine harte Miene und den eisigen Glanz in seinen Augen nicht sehen zu müssen. Er weiß, was geschehen wird.
Gattor rückt besorgt ein Stück näher.

* * *

„Ich muss Arrak Rinar stimulieren, bis unsere Umahs zu fliegen beginnen, überlegt Madras ganz logisch und lässt seine dunklen Fingerspitzen über den verkrampften Rücken des Taluri wandern. Es ist diesmal nicht Zärtlichkeit, sondern die Erfahrung eines uralten Kriegers, die sie von einem Energieportal zum nächsten wandern und ein verzehrendes Feuer im Nervensystem seines Liebsten entfachen lässt.
Inzwischen ist auch der dritte Mond aufgegangen und taucht den zierlichen schiefergrauen Körper in kaltes weißes Licht. Es gelingt dem großen Umahaij-Meister nicht, die schwarzen Linien aus den wandernden Mustern zu verbannen. Rot und Schwarz –  Begehren und Angst –  und nirgends das flirrende Silber reiner Ekstase! Als er energisch seine pure sexuelle Energie durch das Portal oberhalb der Pforte schießen lässt, wird Arraks gesamte Haut glühend rot. Schwarze Blitze zucken rasend schnell darüber hin.
„Lockere dein Umahaij!“ stöhnt Rinar. „Du tust mir weh! Die Ma’Rinnu tun mir weh!“
„Was ist das?“ fragt Ahrasss neugierig. „Die alten Wunden?“
Aber da beginnt der andere Ma’Rinnu bereits, das bizarre Gemisch aus widerstreitenden Empfindungen des Taluri zu verstärken.
Madras kann den Fluss seiner mentalen Energie nicht mehr eindämmen, was offenbar ebenfalls das Werk des Ma’Rinnu ist. Er legt Abschied nehmend seine linke Hand auf die heiße Schläfe seines Liebsten, während die rechte so tief in dem Energieportal steckt, dass er sie nicht mehr herausziehen kann. Der Tresor für irrelevante Emotionen in seinem Inneren explodiert, Angst und Schmerz überfluten ihn. Er merkt nicht, dass er schreit.
Gattor beugt sich besorgt über die beiden zuckenden Leiber. „Vereinige eure Körper und Umahs! Schnell, sonst war alles umsonst!“
Arrak Rinar reagiert als Erster, lässt sich auf Hände und Knie fallen.
Madras gehorcht blind der kräftigen Hand des Gärtners. Sein Speer findet den gewohnten Pfad und seine Lippen geben endlich dem Schrei Gestalt: „Dein Umah zu meinem Umah! Lass mich ein!“ Und dann flüstern sie demütig. „Bitte, mein Liebster!“
Der Raum der Begegnung ist diesmal nicht weiß, sondern dunkelbraunrot wie das Venenblut der Taluri. Die Bindungspartner können einander im trüben Licht nur als undeutliche Schemen erkennen. Sie sind gefangen, Ihre Füße im gestaltlosen Boden festgewachsen. Sie können sich nicht einmal mit den Fingerspitzen berühren.
„Cori!“ schreit Madras wild. „Hilf uns!”
Sein Speer dröhnt laut und der zarte fleckige Körper von Rinar antwortet ihm klirrend.
Plötzlich wird der Ort der Begegnung so strahlend hell, wie er sein sollte.
Die Haut des Taluri färbt sich abrupt weiß wie Esumimilch. Rote Locken umrahmen sein schmales Gesicht. Brüste wogen im Tanz der Vereinigung.
„Du brauchst nicht mehr den wilden Mann zu spielen“, schnurrt Corazón Inserra spöttisch. „Du kannst Rinar am Leben lassen. Ich bin ja hier.“
Jetzt schmiegt sich der Heylaner fest an seinen Partner und bewegt sich nur noch unmerklich in ihm. Nichts als Frieden und Wärme sind zwischen dem Einen und den beiden Liebenden. Die Ma’Rinnu können ihnen nichts mehr anhaben.
„Cori! Wo warst du die ganze Zeit?“ fragt Madras besorgt.
„Das ist eine schlimme Geschichte“, antwortet diese leise. „Ich musste überall gleichzeitig sein. Der Raum verschlingt sich selbst. Die Zeit läuft rückwärts. Ãœberall explodieren Sterne. Es gibt Milliarden Tote.“
„Erzähl mir alles von Anfang an!“
Rinars gefesseltes Umah stöhnt ängstlich.
Gattor streichelt ihn beruhigend, während die Ma’Rinnu in Erwartung einer schrecklichen Wahrheit erstarren. Nichts anderes ist mehr wichtig.

* * *

Corazón Inserra, die vor ihrem Opfertod Captain des Ligakreuzers Casablanca war, schweigt einen Moment. Dann beginnt sie mit ruhiger Stimme zu erzählen:
„Ich habe dir schon vor zweitausend Jahren gesagt, dass die von den Aorai geschaffenen Regulatoren für instabile Sterne sich überall im Kosmos zu bösartigen Göttern aufgeschwungen haben. Nicht überall fanden sich stoffliche Wesen, die es wagten, sie zu bekämpfen –  und noch seltener gelang ihnen der Sieg. Die Milchstraße ist eine eher Ausnahme. Ihr wart damals wirklich gut!“
„Lass den Mombapudding!“ fordert Madras ungeduldig. „Es ist schlimm, dass ihr es nicht geschafft habt, mit dem Problem fertigzuwerden. Was genau ist passiert?“
„Den Aorai tat es weh, zu sehen, wie ihre eigenen Schöpfungen entarteten, wie sie maßloses Leid und Tod über diejenigen brachten, die sie eigentlich schützen sollten. Immer mehr von ihnen wurden mutlos, traurig, apathisch –  ein Psychiater von der Erde hätte das wohl als schwer depressiv bezeichnet. Richtig schlimm wurde es, als der alte Wahrträumer, der immer der Mittelpunkt des Einen gewesen war, sich vollständig auflöste.
Wir konnten nicht mehr in Zukunft sehen und immer weniger wie eine Person handeln. Nach und nach verschwanden weitere Aorai. Manche von ihnen legten sich einfach schlafen, andere irren ohne Ziel durchs All und von neunzehn weiß ich, dass ihre Denkmuster erloschen sind. Der Kosmos hat nur noch einen schwachen Gott, der diesen Namen eigentlich nicht mehr verdient. Es tut mir leid, aber ich schaffe das nicht allein.“
„Wieso bist du noch so tatkräftig?“ fragt Ahrasss neugierig. „Angeblich seid ihr Menschen doch schwach.“
„Ja, das stimmt. Aber wir sind auch zäh und Kummer gewöhnt“, antwortet der ehemalige Captain. „Wir haben den Dreißigjährigen Krieg überstanden, die Inquisition, Adolf Hitler, Pol Pot, Hiroshima und Nagasaki, die Wiedergeburt des Turbokapitalismus, drei verheerende Weltkriege –  nur Berufsoptimisten versuchen nach solchen Katastrophen, eine vernünftige Gesellschaft aufzubauen. Ich glaube, dass man das Unheil abwenden kann.“
„Hast du etwa einen Plan?“ erkundigt sich das andere Siliziumwesen.
„Nur eine vage Idee“, meint Cori. „Einige müssten freiwillig ihr Leben geben, damit das Universum weiter existieren kann. Der Eine braucht neue frische Denkmuster. Er muss mit Kindern dieses Kosmos aufgefüllt werden und kämpfen. Ich denke schon eine Weile an Heyla –  aber es fiel mir bisher schwer … nein, ich kann es auch jetzt nicht befehlen.“
Madras merkt, wie Cori sich behutsam zurückzieht, wie der warme Körper in seinen Armen die Farbe ändert, wie die Brüste schrumpfen und sich stattdessen ein Speer und nachtblaue Bommeln formen.
Die Fiktion löst sich vollständig auf. Sie sind wieder in der Realität. Die beiden Heylaner und der Taluri sehen verwundert, dass sich die Ma’Rinnu –  haushoch und schwarz glänzend –  im Licht von Heylas drei Monden heftig hin und her wiegen.
„Wir haben leider keine Zeit mehr für eure Gefühle“, erklärt der größere von beiden. „Wir müssen sofort eine Ratsversammlung einberufen.“
„Wir auch“, entgegnet Madras knapp.
Der Sand bebt und dröhnt, als die beiden riesigen Wesen versinken.
Madras und Rinar nehmen sich nicht einmal Zeit, sich anzuziehen. Sie raffen ihre Mäntel und Hosen zusammen, drängen sich eng aneinander und lassen sich zu den Zelten des Hauses Kinsai transferieren.
„Ein Glück, dass wenigstens das noch funktioniert!“ denkt der Umahaij-Meister.

* * *

Madras aus dem Hause Kinsai putzt ein paar weißliche Fladen weg, bevor er sich in seinem angestammten Sessel niederlässt und den Kopf müde in beide Hände stützt. Die anderen werden erst in einer Tima kommen, also kann er das Unvermeidliche noch ein wenig herauszögern und das faszinierende Panorama genießen.
Die Glasvögel lassen sich durch den dunklen Mann nicht stören. Sie schweben leicht über den Sesseln, schauen den ältesten aller Umahaij-Meister aus blanken Augen an und streicheln ihn sanft mit ihren Flügeln.
„Bitte mistet mich jetzt nicht voll! Dies ist ein denkwürdiger Augenblick und ich muss …“
Als hätten die Tiere die leise mentale Stimme vernommen, kreisen sie jetzt über den Sesseln von Mauro und Mommes und entledigen sich genüsslich all dessen, was sie beschwert. Dann fliegen sie melodisch singend davon.
Madras betastet nachdenklich sein Gesicht, die Energieportale auf seinem Bauch –  fasst sich in den Schritt und streichelt lange einfühlsam die Wölbung unter der schwarzen elastischen Hose, sieht sie wachsen und spürt ihre Hitze. Er kann sich nicht vorstellen, dass das alles in wenigen heylanischen Tagen nicht mehr existieren wird.
Nein, eine körperlose Existenz hat für ihn nichts Verlockendes.
Dann muss er an den Schmerz denken, den er diesmal weder mit Medikamenten unterdrücken noch mental abblocken darf –  und an Arrak Rinar, der das Ganze wohl nicht verkraften wird.
Er merkt nicht gleich, dass Mommes viel zu früh vor dem Thron gegenüber materialisiert.
„Ahhaiij, was für eine nette Beschäftigung, lieber Kollege!“ lästert er süffisant. „Ist es das, was schwarze Wüstenratten unter dem Umahaij verstehen? Ich wünsche dennoch gute Gedanken und Frieden!“
„Ich nehme nur Abschied“, antwortet Madras und seine Erregung weicht abrupt steinerner Ruhe. „Du wirst es bald verstehen. Ich habe euch aus gutem Grund gerufen.“
„Was ist …“
„Nein, alle sollen es gleichzeitig erfahren“, wehrt der Turuska ab und wendet sich endgültig dem unglaublichen Panorama aus geriffelten Dünen und makellos klarem Himmel zu.
Mommes setzt sich verdutzt, ohne seinen Sessel wie gewohnt zu inspizieren. Madras muss innerlich grinsen, als er sich die weißen Kleckse auf der protzigen karminroten Robe des Adeligen vorstellt.
Nach einer Tima kommen auch die anderen und das übliche Vorstellungsritual beginnt. Auch die Rangeleien zwischen Mauro und Mommes um das berühmteste Haus sind seit Langem eine feste Tradition. Dann wird es still. Die drei Turuska –  die bereits Bescheid wissen –  bleiben gelassen, während die Weißen sich mit ihren kalten hellen oder schwarzen Augenpaaren erwartungsvoll an dem Gesicht von Madras festsaugen.
„Ja. Ich bin dem Einen begegnet“, erklärt dieser ruhig. „Er ist müde und sehr krank. Wenn wir ihm nicht helfen, wird die wuchernde Entropie alles zugrunde richten.“
„Mindestens zweitausend Heylaner müssen ihr Leben opfern, um den Einen zu stärken“, ergänzt Kah’Luhr vom Hause Tureg bestimmt. „Das heilige weiße Feuer muss sie verzehren.“
„Was für ein weißes Feuer?“
„Wer soll sterben?“
„Was soll das bringen?“
„Wenn wir nun ein paar unwichtige Diener …“
„Oder unvollkommene Geister …“
„Unerwünschte Kinder …“
„Meinetwegen auch ein paar Turuska …“
„Ihr wollt solche schwarzen Bastarde dem Einen opfern?“ Mommes und Mauro lassen jede Rücksichtnahme auf die Turuska fallen. „Das gibt denen nur noch mehr Macht. Dann eher ein paar entbehrliche Mitglieder unserer eigenen Clans.“
„Ich weiß nicht, was für primitive Vorstellungen ihr von dem Einen habt“, unterbricht Madras kühl das Geschnatter. „Es geht gar nicht darum, irgendwelche Umahs an ihn zu verfüttern, um ihn wieder aufzubauen. Die in Auflösung begriffenen oder bereits verschwundenen Aorai müssen durch neues Fühlen und Denken ersetzt werden. Wer immer erfolgreich durch das weiße Licht geht, wird ein Teil des großen Weltgeistes.“
„Er wird Gott?“ fragt Mauro gierig. „Ein wahrer mächtiger Gott?“
„Ja, unsere ältesten Mütter haben deshalb bereits die Besten der Besten benannt.“
„Aha“, murmelt Mommes. „Deshalb dieser überaus zärtliche Abschied.“
„Ja, ich bin auch auserwählt“, bestätigt der älteste aller Umahaij-Meister. „Die Tage meiner körperlichen Existenz sind gezählt.“
„Ihr könnt das nicht allein unter euch ausmachen“, protestiert Mauro. „Ihr unterwandert heimlich den Einen –  und was wird aus uns?“
„Heute, wenn die Sonne violett hinter den Bergen des Hauses Kuma verschwindet, werde ich alles, was ich weiß, dem freien Datenstrom übergeben. Auch die weißen Clans werden die Möglichkeit erhalten, sich an der Rettung des Kosmos zu beteiligen.“
„An was für Feuer denkst du eigentlich?“ erkundigt Hrendahl aus dem Hause Markab vorsichtig.
„An solche, die groß und heiß genug sind, einen erwachsenen Heylaner in Mil’Timas zu verdampfen“, antwortete Madras knapp.
„Und es bleibt nur das nackte Umah übrig?“ vergewisserte sich der Nachkomme des berühmten Silmoh beunruhigt.
„Ja.“
„Und das soll ein Gott sein?“ empört sich Mommes. „Eine absurde Mischung irgendwelcher wahllos zusammengewürfelter Umahs? Der ist doch völlig nutzlos!“
„Der Eine eilt der Zeit voraus und verringert die Entropie im Universum“, belehrt ihn Kah’Zitrah aus dem Hause Kuma. „Gibt es etwas Wichtigeres?“
„Ihr seht doch selbst, was passiert, wenn seine Macht nachlässt!“ meldet sich Gluro aus dem Hause Massa zu Wort.
„Er vermag sich Helfer aus reiner Energie zu erschaffen“, sagt Kah`Luhr vom Hause Tureg andächtig.
„Und er wirkt durch die, deren Umahs er berührt“, fügt Madras ernst hinzu. „Wir Turuska durften das schon erleben. Ich selbst habe mehr als einmal mit ihm gesprochen.“
„Beim Rammeln in der Wüste?“ erkundigt sich Mommes anzüglich.
„Nicht nur, lieber Kollege“, antwortet Madras glatt. „Und bevor ihr mich fragt –  es ist eure Sache, was ihr mit diesen Informationen anfangt. Ich jedenfalls kehre jetzt zu den Zelten des Hauses Kinsai zurück und widme mich meinen Abschieden.“
„Dem kleinen Taluri?“ fragt Mommes ganz direkt.
„Ja, auch meinem liebsten Bindungspartner Arrak Rinar.“
Madras und die drei jungen Turuska lösen sich in einem Flirren auf.
„Man wird uns alle auffordern, Teil des Einen zu werden“, überlegt Hrendahl vom Hause Markab panisch. „Wir sind leider die besten Umahaij-Meister Heylas.“
„Na ich weiß nicht …“ knurrt der adelige Mauro wegwerfend. „Für so etwas gab es doch immer ein paar unterprivilegierte Leute.“
„Wenn wir nicht bereit sind, zu gehen, wird es auch niemand anderes sein. Dann geht die ganze Welt unter und wir sterben einen noch schrecklicheren Tod.“
„Was seid ihr nur für elende Käfer!“ grollt Lailo aus dem Hause Woran verächtlich. „Ich jedenfalls werde meine Stimme erheben und lautstark fordern, dass sich die großen Zehn geschlossen opfern –  ebenso die planetare Regierung Heylas und die wichtigsten Provinzbeamten. Das ist doch angeblich unsere Elite. Es kann nicht sein, dass immer nur das einfache Volk bluten muss.“
„Du willst dich nur an uns rächen, weil deine Kanalarbeitereltern …“
„Ich bin der zweitbeste lebende Umahaij-Meister. Meine mentale Macht ist fast so groß wie die von Hrendahl“, kontert der Proletariersohn grimmig. „Dieser Thron auf dem Gipfel steht mir rechtmäßig zu, eine einflussreiche Stimme im Datenstrom steht mir zu –  und auch meine göttliche Erhöhung. Aber weil ich ein netter Kerl bin, nehme ich euch mit in die Unsterblichkeit. Das bisschen Schmerz macht euch sicher nichts aus.“
Dann löst er sich grußlos auf.
„Was für ein Dreckhaufen!“ murren Mauro und Mommes inbrünstig.
„Seine Vorfahren waren –  glaube ich –  Vergewaltiger und Mörder“, sinniert der Nachfahre des großen Silmoh. „Jedenfalls gehörte irgendeine Bestie zu seinem Clan. Madras weiß sicher mehr darüber.“
„Das ist unmöglich!“ protestieren die anderen. „Er ist einer von uns!“
„Vielleicht irre ich mich auch.“ Hrendahl wendet sich teilnahmslos ab. Das Einzige, was ihn jetzt noch beschäftigt, ist das weiße Feuer –  dass ihn vermutlich der eigene Clan zwingen wird, den Helden zu spielen.

* * *

Das weiße Feuer Heylas wird in einer mondlosen Nacht feierlich in die südliche Wüste transferiert –  eine hinter sieben starken rauchfarbig getönten Kraftfeldern sicher verborgene atomare Hölle. Grüne Lampen markieren den einzigen Weg ins Innere. Einen schmalen Pfad, der sich von einem geschwächten Feldbereich zum nächsten schlängelt. In jedem der konzentrischen Kreise ist es heißer als im vorigen –  bis die Luft in den Lungen brennt und der Verstand sich vor Qual eintrübt. Wem es gelingt, die letzte Barriere zu durchbrechen, der stürzt direkt in einen Glutofen, der ihn restlos aufzehrt.
Tausende haben sich in der welligen Ebene versammelt: Heylaner, Taluri, Menschen, Kass –  die Angehörigen der Opfer, schamlose Gaffer und Reporter aller bekannten Welten. Vor dem Eingang stehen die zehn größten Umahaj-Meister Heylas bereit und warten darauf, dass die Trommler ihre Finger auf straff gespanntem Raspayatileder tanzen lassen.
Die Kameraleute überprüfen ein letztes Mal ihre schwebenden Aufnahmegeräte, Kleinkinder tollen kreischend zwischen den Erwachsenen herum, junge und alte Frauen weinen.
Rhahtamm! Rhatamm! Rhatamm!
„Der erste Freiwillige möge sein Fleisch zum Wohl der Vielen entzünden und sein nacktes Umah dem Einen darbringen!“ dröhnt eine kalte anonyme Lautsprecherstimme.
In den Reihen der Umahaij-Meister gibt es ein kurzes Gerangel. Scheinbar will jeder dem anderen den Vortritt lassen.
Plötzlich löst sich ein kraftvoller, zeitlos schöner schwarzer Mann aus der Gruppe und durchbricht als Erster energisch die äußerste Barriere. Tausende Augenpaare hängen an der rauchigen Wand und die Aufnahmegeräte vieler Informationsplattformen folgen seinem Weg durch die konzentrischen Kreise.
Den Ersten muss er halb umrunden. Er geht langsam und hoch erhobenen Hauptes. Seine hinter einer dunklen Schutzbrille verborgenen Augen suchen in der Menge nach einem zierlichen Taluri, aber er kann da draußen nur noch eine amorphe Masse wahrnehmen. „Wahrscheinlich ist der arme Junge jetzt weiß vor Angst“, denkt Madras aufgewühlt und schiebt sich durch das zweite Kraftfeld. „Es ist Zeit, den Geist zu reinigen und nur noch an das Schicksal der Kinder überall im Universum zu denken.“
Er bleibt eine Weile mit ausgebreiteten Armen stehen –  wie die Statue eines glorreichen Königs vor der entscheidenden Schlacht.
Im dritten Korridor ist es bereits sehr heiß und gleißend hell. Madras bekommt kaum noch Luft und muss Mund und Nase mit dem weißen Mantel verhüllen. Die trockene Hitze versengt seinen nackten Oberkörper. Der dunkelblaue Vogel aus Stein brennt sich in seine Haut. Er reißt die Kette ab und wirft sie achtlos beiseite. Jetzt hetzt er hechelnd von Durchgang zu Durchgang –  bis er vor dem allerletzten steht. Die Zuschauer sehen auf der riesigen Projektionsfläche, wie sich Brandblasen auf seiner samtigen dunklen Haut bilden. Wie sie aufplatzen und zu nässenden grünlichen Wunden werden.
Dass ihn die Aufnahmegeräte umschwirren, nimmt er längst nicht mehr wahr. Stresshormone schießen in seine Adern. Sie sorgen dafür, dass er die Schmerzen kaum noch spürt und sein durchtrainierter Körper die letzten Reserven freisetzen kann.
„Am’Ramah!“ schreit er gurgelnd auf. „Ich komme!“ Dann ein letzter wilder Sprung! Ein grelles Auflodern! Es gibt nur noch dieses barbarische weiße Leuchten.

* * *

Heyla und die Liga friedlicher Welten sehen ehrfürchtig und atemlos zu, wie die drei jungen Umahaij-Meister der Turuska gelassen und aufrecht den Weg ihres Mentors beschreiten. Sie bezwingen die Hitze in den konzentrischen Ringen, durchdringen rasch und mutig alle Kraftfelder und stürzen sich, ohne zu zögern, ins Feuer.
Hrendahl aus dem Hause Markab bricht mehrmals zusammen und bleibt schließlich im vierten Kreis in Fötushaltung liegen. Sein Körper ist hinter den dämpfenden Kraftfeldern nur undeutlich zu sehen. Eine Aufnahmedrohne kriecht unter seine Hände und zeigt aus nächster Nähe seine zuckenden Augenlider.
Mauro aus dem Hause Bollah und Mommes aus dem Hause Lil’Ana überwinden den gefährlichen Weg Hand in Hand. Spiegelnde Umhänge und Atemschutzmasken verhindern, dass die Hitze ihnen vor der Zeit etwas antun kann. An der letzten Barriere zögern sie, denn jetzt wird es ernst. Sie können den nahen Tod sehen, riechen, spüren.
Irgendwann sagt Mommes spöttisch: „Komm Mauro! Der Eine braucht uns, damit ein wenig adeliger Glanz in diese Welt kommt!“
Dann zerrt er seinen Gefährten vorwärts und beide verglühen.
Die beiden Greise schaffen es taumelnd und ächzend bis in den dritten Kreis und bleiben vor dem nächsten Durchgang wie Lumpenpuppen liegen. Diesmal zeigen die Aufnahmegeräte die offenen Münder und starren Augen von Toten.
Lailo aus dem Hause Woran gelingt es, bis zum letzten Durchgang vorzudringen. Er stößt seine in den Gängen zwischen den Kraftfeldern zusammengebrochenen Kollegen mit dem Fuß an, prüft oberflächlich ihre Lebenszeichen. Die Menge registriert empört, dass er Hrendahl mit aller Kraft in den Hintern tritt und dann einfach weiter hastet.
„Nieder mit allen Privilegien! Gleiches Recht für alle!“ brüllt er ekstatisch, während er kopfüber ins Feuer stolpert.
Der nächste Auserwählte ist der Traumwanderer Prinda aus dem Hause Tureg –  ein athletischer junger Mann mit krummer Nase und scharfen schwarzen Augen. Der weiße Mantel eines Kriegers flattert lose um seine breiten Schultern. Er geht auf unspektakuläre Weise in den Tod –  als hätte er schon lange vorher alles über diesen Tag gewusst. Ein befriedigter Seufzer steigt von der Menge auf. Jetzt ist der Eine nicht mehr zukunftsblind.
Die übrigen auserwählten Heylaner warten geduldig wie die Esumis auf ihren Opfertod: Regierende, höhere Beamte, Lehrer, Richter, Offiziere der Ligaflotte. Der Menge beginnt zu schwatzen und die Kameraleute rufen ihre Drohnen zurück. Niemand stört es, dass die Projektionsfläche dunkel bleibt.
Nur als der blutjunge Poet Farsil aus dem Hause Boras sich dem mit grünen Lampen markierten Weg in die reine Entropie nähert, beginnen einige Frauen aufgeregt zu tuscheln.
„Wie schade!“
„Der arme Junge!“
„Er hatte noch nicht einmal eine Bindungspartnerin!“
„Seine Lieder werden mir fehlen!“
„Diese verfluchten Ältesten!“
„Den hätten sie uns doch lassen können!“
„Er ist viel zu schön zum Sterben!“
„Und was ist mit Madras?“ fragt Arrak Rinar zornig. „War der weniger schön und vollkommen? War es etwa richtig, einen Mann wie ihn zu verheizen?“
Jetzt erkennen die Frauen den Geliebten des ältesten aller Umahaij-Meister und verstummen beschämt.
Kein Sender kommt auf den Gedanken, dem Dichter der Turuska ein Aufnahmegerät mitzugeben. Nur ein Flackern des weißen Feuers verrät, dass er sein Ziel gefunden hat.

* * *

„Die Auserwählten haben ihre heilige Pflicht getan!“ verkündet die anonyme Lautsprecherstimme mit vibrierend. „Jetzt werden die konzentrischen Ringe gereinigt und belüftet. Danach kann jeder, der es wünscht, hinein.“
„Ich verstehe das nicht“, sagt Arrak Rinar zu dem neben ihm stehenden Gattor. „Da drin liegen noch drei berühmte Umahaij-Meister. Sind die jetzt nur noch Schmutz, weil sie es nicht bis ins Feuer geschafft haben?“
„Hrendahl simuliert wahrscheinlich“, entgegnet der Gärtner dumpf. „Und die anderen beiden Schlappspeere haben sich im Abgrund ohne Wiederkehr verkrochen.“ Gattors schwarze Augen sind jetzt undurchsichtig und stumpf wie Geröll. „Nein, die tun mir alle drei nicht besonders leid. Aber Madras! Er war immer für die Vielen da! Es ist nicht gerecht …“
Männer in Schutzanzügen tragen die drei Körper ins Freie.
Plötzlich baut sich ein Helfer im Schutzanzug vor den beiden Kriegern auf. „Ihr wart doch Freunde von Madras aus dem Hause Kinsai. Ich habe das hier im dritten Ring gefunden.“ Von der behandschuhten Hand baumelt ein blaues Donnervogelamulett an einer angesengten Lederschnur.
Rinar ist unfähig, sich zu rühren oder etwas zu sagen. Sein Gesicht ist fleckig und tränennass.
„Gib mir den Talisman des großen Meisters.“ Gattor vermeidet jeden Blickkontakt, seine schwieligen Finger schließen sich fest um den steinernen Vogel.
Nur seine zuckenden Schultern verraten, dass er weint.
„Ich kann ohne Madras nicht weiterleben“, verkündet Arrak Rinar plötzlich entschlossen. „Ich gehe auch da hinein.“
„Dann trennen sich jetzt unsere Wege.“ Gattor drückt ihn fest an sich. „Ich muss bleiben. Meine liebste Bindungspartnerin würde ohne mich altern und sterben.“
„Und deine heißgeliebte Katze Kah’Kira.“ Jetzt, wo alles entschieden ist, kann Rinar wieder scherzen. „Ich wünsche euch allen gute Gedanken und ein langes glückliches Leben! Denkt ab und zu an mich!“ Sein Gesicht ist entspannt und die Haut königlich glatt und schiefergrau, als er sich den Weg nach vorn durch die Menge bahnt. Wenig später steht er am Beginn des grün erleuchteten Pfades.
„Ich bin Arrak Rinar von Talur und folge meinem Liebsten Madras aus dem Hause Kinsai zu dem Einen“, sagt er laut und die heylanischen Techniker treten wortlos beiseite.
Die zarte Gestalt im weißen Mantel wird hinter den getönten Kraftfeldern immer undeutlicher während sie die Barrieren durchbricht und zielstrebig dem Tod entgegen eilt.
Gattor kann das alles nicht mehr aushalten und lässt sich heim zu den Zelten des Hauses Elmar transferieren.
Erst als die rot getigerte Katze von der Erde schnurrend um seine Beine streicht, beruhigt sich sein unregelmäßig pochendes Herz. Seine rechte Hand öffnet sich und das Amulett des großen Meisters fällt zu Boden.
„Ach! Kah’Kira!“ schluchzt der Gärtner und lässt seiner Trauer freien Lauf.
Die Katze legt ihre rote pelzige Pfote besitzergreifend auf den blauen Vogel und sieht ihren heylanischen Freund aus grünen Augen frech an.
Jetzt muss Gattor unter Tränen lächeln.

* * *

Die Menge auf dem Platz mit dem weißen Feuer wogt unruhig hin und her. Jeder schaut den Nachbarn forschend an: „Ist er glücklicher als ich? Hängt er sehr am Leben? Würde ihm der Tod vielleicht ein bisschen leichter fallen als mir?“
„Wir brauchen noch fünfhundert Freiwillige“, dröhnt der Lautsprecher fordernd. „Fünfhundert Heylaner, denen das Wohl der Vielen wichtiger ist, als das eigene Leben!“
Niemand tritt vor.
Plötzlich bewegt sich etwas in der künstlichen Sonne hinter den rauchigen Kraftfeldern. Ein riesiges schwarzes Wesen mit unruhig peitschenden Tentakeln steigt aus der Tiefe auf. Es ist anorganisch und kann nicht brennen. Seine Todeskampf schreit in den Köpfen der Anwesenden. Sie sehen, wie das Silikat zu glühen beginnt –  wie es sich in einen feurigen See verwandelt, bevor es zu glühendem Plasma wird. Der Ma’Rinnu ist tot.
Nun gibt es kein Halten mehr. Vor dem Eingang zum ersten Kreis bildet sich eine lange Schlange Mutiger. Ihre klaren Stimmen hallen laut in der kalten Wüstennacht.
„Angela Davis von der Erde.“
„Kendro von Ayala vom Planeten Talur.“
„Brjiiwan von den Wikissa.“
„Mrrijauh von den Kass.“
„Psiipah vom Planeten Belor.“
„Thallos aus dem Hause Duveh von Imperia.“
„Akathah Lajos von Nakkar.“
Die Reaktion auf den letzten Namen ist ein undefinierbares Getöse.
Der silberhäutige Nakkaraner wendet sein junges Gesicht dem nächsten Aufnahmegerät zu. „Tja, Freunde! Ich war gerade auf der Erde, als meine Welt einfach so unterging. Es ist nicht richtig, dass all meine Verwandten tot sind und ich laufe immer noch hier herum. So sterbe ich wenigstens nicht umsonst.“
„Ich gehe jetzt auch zu dem Einen.“ Auf einmal klingt die Lautsprecherstimme gar nicht mehr kalt und unpersönlich. „Tut, was ihr wollt aber ich gehe zu dem Einen.“
Selbst Heylaner, die eben noch am liebsten schreiend geflohen wären, ziehen es nun in Erwägung, die sieben konzentrischen Ringe zu durchschreiten und etwas gegen den Untergang der Welt zu tun.
Im Morgengrauen kommen die Physiker auf den vereinsamten Platz und transferieren das weiße Feuer zurück an seinen angestammten Platz: ein experimentelles Kraftwerk nicht weit von der Hauptstadt Heyla’Thur.

* * *

Wie eine unsichtbar funkelnde Schale wölben sich die Umahs von Corazón Inserra und fünfundzwanzig erschöpften Aorai ihren neuen Gefährten entgegen. Als Madras, Rinar, Kah’Luhr, Kah’Zitrah und Gluro die glatte Wand herabrollen, jubelt Cori leise.
Der Wahrträumer und Traumwanderer Prinda und der junge Poet Farsil werden mit Ehrfurcht begrüßt und liebevoll in die Mitte des Einen geleitet. In ihren sensiblen prophetischen Gedanken ruht ab jetzt die Zukunft des Universums.
Der Ma’Rinnu Ahrasss schenkt den Vielen, die zu dem Einem verschmelzen, unfassbare Kraft, hemmungslose Neugier und den pathetischen Gesang der Sterne.
Und die Gesandten all der verschiedenen Spezies! Die Umahs von mehr als der Hälfte von ihnen waren rein und selbstlos genug, um das Feuer zu überstehen. Zum ersten Mal begreifen die Aorai wirklich, wen sie beschützt haben. Sie rufen nach ihren schlafenden Brüdern, denn es lohnt sich immer noch, zu wachen und zu kämpfen.
„Nieder mit allen Privilegien! Dieses Universum braucht mehr Gerechtigkeit!“ Lailos Umah nähert sich laut schreiend dem Einen.
„Was ist denn das?“ fragt Corazón Inserra ihren Freund Madras. „Der brüllt ja wie ein ganzes Rudel Raspayatis. Ein Wunder, dass er es bis hierher geschafft hat.“
„Das ist ein Sohn des Hauses Woran“, antwortet Madras. „Er beunruhigt mich.“
„Ich kann nichts dafür, dass ich einem Verwandten, den du nicht leiden konntest, so ähnlich sehe!“ protestiert der proletarische Umahaij-Meister hitzig. „Das ist Sippenhaft!“
„Was meinst du eigentlich mit Privilegien?“ erkundigt sich einer der Aorai ernst.
„Na so was wie Adel!“ knurrt Lailo wütend. „Dass jemand allein wegen seiner Abstammung mehr wert sein soll als die andern. Dass man als Arbeitersohn wie ein Verrückter rackert, was leistet –  und trotzdem immer auf den letzten Platz gestellt wird! Dass sie mir den einzigen Mörder in unserem Clan pausenlos ins Umah schmieren, während diese verrotteten Aristokraten immer noch hochmütig umherstolzieren obwohl ihre Vorratsräume bis oben hin mit Leichen vollgestopft sind. Das ist ungerecht!“
„Du fühlst dich schlecht behandelt …“
„Nein, es geht nicht um mich, sondern ums Prinzip.“
„Du sehnst dich nicht danach, dass man dich verehrt, vielleicht sogar anbetet?“
„Scheiße! Nein! Da würde ich ja ganz schnell zu genauso einem hirnlos Popanz mutieren! Ich wäre kein bisschen besser als dieses ganze privilegierte Pack! Wie Mauro und Mommes, die das Weltall mit ihrer schmierigen Dekadenz beglücken wollten. Zum Glück haben sie es nicht geschafft. Nein, ich will nur, dass endlich alle das Gleiche wert sind!“
„Ich verstehe dich“, sagt Madras leise. „Verzeih mir bitte!“
Das wild wabernde Umah hält ungläubig inne. „Gehöre ich wirklich dazu?“
„Dein Zorn ist eine Macht, die uns bisher gefehlt hat“, antworten die Aorai sanft.
Der Eine, der in Wahrheit Viele ist, lächelt.

© 2007 by Anneliese Wipperling

 

 

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