Der Eine, der alles sieht

Wer an einen Gott glaubt, ist zumeist nicht bereit, ihn näher zu definieren – und wer nur das akzeptiert, was man sehen, anfassen und messen kann, interessiert sich nicht sonderlich dafür, wie man Göttlichkeit definieren kann …

Autor: Andal aus dem Hause Boras
(Übersetzung von Anneliese Wipperling)

Es ist schwer, zu verstehen …

Außenweltler fragen uns oft, wie wir es mit Gott halten. “Immerhin gibt es bei euch Klöster, Mönche und Nonnen”, sagen sie eifrig. “Also glaubt ihr auch an Gott.” “Das mit den Klöstern ist ein Missverständnis”, antworte ich jedesmal geduldig. “Es gibt bei uns keine Priester und kein Zölibat. Unsere Männer würden das nicht überleben und unsere Frauen würden es nicht wollen. Es handelt sich bei den sogenannten Klöstern einfach um Orte, wohin man sich für eine gewisse Zeit zurückziehen kann, um seine Gedanken zu ordnen, zu meditieren oder sein Kohlinar zu vervollkommnen. Je nach Veranlagung wählen wir dann eine passende Gemeinschaft oder die Einsamkeit … die Unterweisung durch einen Meister oder die Hinwendung zu Ah’Tha, dem Einen, der alles sieht und niemals eingreift.”
“Ihr habt einen Gott, der sich nicht einmischt? Weshalb betet ihr dann zu ihm.”
“Wir beten nicht, wir versuchen, in aller Demut seine Präsenz zu spüren.”
“Und das genügt euch?”
“Ja, das genügt uns.”
“Das verstehen wir nicht. Ein solcher Gott ist doch unnütz!”
“Gott muss nicht für den Einzelnen nützlich sein.”
“Aber was habt ihr dann von ihm?”
“Wir können das All spüren, wie es sich ausdehnt und lebt, seine makellose Ordnung …”
Dann schweigen sie meist und sehen mich verunsichert an.

 

Was ist eigentlich ein Gott?

Wer an einen Gott glaubt, ist zumeist nicht bereit, ihn näher zu definieren – und wer nur das akzeptiert, was man sehen, anfassen und messen kann, interessiert sich nicht sonderlich dafür, wie man Göttlichkeit definieren kann.
Meist wird von Laien ein mehr oder weniger logisches Konglomerat von Eigenschaften zitiert. “Er ist mächtig.” “Er ist unsterblich.” “Er beschützt jene, die an ihn glauben.” “Er belohnt die Guten und bestraft die Sünder.” “Er ist allwissend.” “Er ist unser aller Vater.” “Er hat die Welt erschaffen.” “Und er wird ein letztes Gericht abhalten.” “Ja, ein Gericht über die Lebenden und die Toten.” “Wer gesündigt hat, muss für alle Ewigkeit in der Hölle brennen.” “Und die Guten kommen ins Paradies, wo sie jubeln und Gott preisen dürfen.”
Die Priester und Schriftgelehrten aller bekannten Welten hingegen sind wahre Meister darin, spitzfindige und völlig unverständliche Definitionen zu ersinnen.
Jedenfalls scheinen mir im Zusammenhang mit Gott folgende Fakten besonders wichtig zu sein, wobei die Reihenfolge keine Rangfolge darstellt.

  • Jemand bezeichnet ihn als Gott
  • Jemand hofft, dass er durch Gebete bestochen werden kann
  • Jemand fürchtet seinen Zorn
  • Jemand sieht in ihm eine moralische Instanz
  • Jemand braucht ihn als Vaterersatz
  • Jemand glaubt, dass er Weisheit spenden kann
  • Jemand hält ihn für übernatürlich und unsterblich

Wer immer in diesem Universum einen Gott benötigt, wird einen finden, der zu ihm passt und ihm hilft, zu leben: einen Freund und Helfer, einen unerbittlichen Richter, einen liebevollen Vater, einen mächtigen Rächer, ein warmes Nest für das Katra …

 

Ist er überhaupt real?

Nun, es gibt Götter, die wirklich existieren … die Propheten der Bajoraner zum Beispiel, die Q, die Gründer, oder die Goa’uld. Das sind Wesen, die viel mächtiger sind, als die Urbevölkerung der Planeten, auf denen sie verehrt werden. Sie greifen mehr oder weniger direkt in das Leben ihrer Gläubigen ein. Niemand kommt so ohne weiteres an ihnen vorbei.
Allerdings stellt sich bei näherer Betrachtung heraus, dass sie zwar sehr fremdartig, weit entwickelt und kraftvoll sind, aber keineswegs übernatürlich oder gar unsterblich. Es sind einfach nur Aliens mit mehr oder weniger guten Absichten.
Die Goa’uld sind Parasiten, die ihre Wirte vollständig überwältigen. Sie sind sehr intelligent, machtbewusst und völlig skrupellos. Da sie ganz unterschiedliche Spezies auf vielen Welten besiedelt haben, konnten sie sich allerlei fortschrittliche Technik aneignen: Sternentore, Sarkophage, Schutzschilde und höchst eindrucksvolle Waffen. Sie haben die Fähigkeit, ihre Augen hell aufglühen zu lassen und sich in ihren Sarkophagen zu regenerieren. Es ist sogar mit diesen Geräten möglich, sie nach dem Tod ins Leben zurückzuholen, sofern ihr Fleisch noch nicht zu sehr verdorben ist. Die Goa’uld kommen den Göttern ziemlich nahe – bösen, herrschsüchtigen und unberechenbaren Göttern. Zum Glück sind sie nicht unsterblich und ihr Einfluss ist begrenzt. Die Menschen haben sie besiegt und vertrieben … und nun werden sie von den Borg dezimiert.
Die Borg hat merkwürdigerweise noch niemand für Götter gehalten. Das liegt wahrscheinlich daran, dass sie niemals jemanden übriglassen, der sie anbeten könnte. Sie sind nur eine gnadenlose Nemesis, nichts weiter.
Auch die Q sind keine Götter im eigentlichen Sinne. Sie sind zwar so mächtig, dass sie mit ganzen Planeten Ball spielen könnten, aber sie kümmern sich nur sporadisch um andere Spezies. Die meiste Zeit befinden sie sich in ihrem eigenen Kontinuum und beschäftigen sich mit Dingen, die niemand richtig versteht. Nach Aussage von Captain Janeway von der U.S.S. Voyager vegetieren sie eher nutzlos vor sich hin – und manchmal führen sie nette kleinen Kriege miteinander. Einiges deutet darauf hin, dass sie Gesetze haben, die es verhindern, dass sich einer der ihren zu sehr in die Belange anderer Kulturen einmischt. Vielleicht haben einige von ihnen vor langer Zeit Gott gespielt und dabei großen Schaden angerichtet, aber nun sind sie einfach zu unnahbar und zu selten präsent um als höhere Wesen relevant zu sein.
Die Gründer waren ursprünglich humanoide Lebewesen, die sich aus eigener Kraft zu Formwandlern weiterentwickelt haben. Ihre besonderen Fähigkeiten verunsicherten und ängstigten jene intelligente Spezies, die immer noch in einer festen Form gefangen waren. Man verfolgte die Wechselbälger gnadenlos – und sie reagierten mit der Schaffung des Dominion. Das Domi-nion ist für die Gründer Versuchslabor, Spielwiese und Tempel zugleich. Sie pflegen ihren Rassismus und ihre Paranoia, gestalten Welten und Spezies nach ihren Vorstellungen und unterdrücken mit unglaublicher Brutalität jeden Widerstand. Die Gründer sind langlebig und mächtig. Dennoch sind sie in Wirklichkeit keine Götter.
Die Propheten der Bajoraner flößen mir noch den größten Respekt ein. Sie sind nicht linear, leben in ihrem Wurmloch immer und überall gleichzeitig – und sie folgen einer gewissen Ethik, wenn sie sich in die Belange anderer intelligenter Lebewesen einmischen. Es ist mir, als ich eine zeitlang auf Bajor lehrte, einige Male gelungen, Kontakt zu den Propheten aufzunehmen. Doch, ich bin bereit, die Propheten für Götter zu halten … zumindest für lokale Gottheiten … und die Pah-Geister für lokale Teufel.
Allerdings erfüllen die Propheten nur teilweise die Ansprüche, die normale Sterbliche an ihre Götter stellen. Dadurch, dass sie so fremdartig sind, verstehen sie die Belange linearer Lebewesen oft nicht richtig. Ihre Prophezeiungen sind unverständlich, ihre Weisheiten nicht von die-ser Welt und ihre moralischen Ansprüche äußerst vage. Es deutet einiges darauf hin, dass die Propheten am Wohlergehen Bajors interessiert sind, dass sie sich irgendwie für die Bajoraner verantwortlich fühlen – aber das bedeutet nicht, dass sie sich um jeden einzelnen von ihnen ständig kümmern. Sie sind keine fürsorglichen Ersatzväter und man kann sie mit Sicherheit nicht durch Gebete, Gesänge oder fromme Taten bestechen.
Auf Ah’Tha, den Einen, der alles sieht und niemals eingreift, werde ich weiter hinten ausführlicher eingehen. Er ist ebenfalls real und erfüllt noch schlechter als die Propheten der Bajoraner die Wünsche humanoider Lebewesen. Dennoch ist er in meinen Augen das verehrungswürdigste und göttlichste Wesen, das ich kenne.
Am heftigsten werden von den humanoiden Spezies Götter angebetet, die eigentlich gar nicht existieren. Götter, die vage Erinnerungen an Begegnungen mit Q oder Goa’uld sind – oder reine Erfindungen von selbsternannten Heiligen und Priestern.
Merkwürdigerweise erfüllen die reinen Projektionen des Geistes ihre Aufgaben als Götter am besten von allen.

  • Da sie keinen eigenen Willen haben passen sie sich makellos dem Zeitgeist an
  • Sie stellen genau jene Forderungen, die den Gläubigen nützen
  • Bei Staatsreligionen nützen sie vor allem den Herschenden
  • Sie verheißen den Unglücklichen und Beladenen Entschädigung für ihre Leiden
  • Sie dämmen durch eine rigorose Moral die Kriminalität ein
  • Bei Staatsreligionen fördern sie Demut und Untertanengeist
  • Sie drohen mit abschreckenden Strafen, wenn jemand nicht richtig gehorcht

Viele dieser von irgendwelchen Religionsschöpfern erdachten Lehren sind mit einem unübersichtlichen Wust von Tabus, Gesetzen, Auslegungen … und Varianten davon … überfrachtet. Jeder einigermaßen ehrgeizige Geistliche steuert seinen Anteil bei, jede Hochschule bietet Studiengänge über Religion an und jede Doktorarbeit enthält weitere Spekulationen über ein Wesen, das beharrlich schweigt, weil es gar nicht existiert.
Es gibt sogar Religionen, die so verbürokratisiert sind, dass jeder Lebende seinen eigenen Wächter und Buchhalter hat, der all seine Gedanken und Taten aufzeichnet, die Akten später einem hohen Richter übergibt, der darüber entscheidet, ob er nach dem Tod eine Art ewiges Freudenfest feiern darf oder ob er der totalen Entropie überantwortet wird.
Viele Spezies verteufeln die Sexualität, weil sie so schwer zu kontrollieren ist – oder sie sehen wenigstens die Wahnvorstellungen, die bei sehr potenten Individuen durch sexuelle Enthaltsamkeit hervorgerufen werden, als Prophezeiungen oder göttliche Weisheiten an.
Reale und nicht reale Götter können gleichermaßen grausam und unerträglich sein. Die Klingonen haben ihre Götter vollständig ausgerottet, so behauptet es zumindest eine alte Überlieferung. Wenn diese Legende keine der üblichen, blutweingetränkten Phantasien ist, waren es wahrscheinlich Goa’uld. Die Klingonen sind zu wild und zu freiheitsliebend, um sich auf Dauer von machthungrigen Parasiten unterjochen zu lassen.
Die Romulaner haben die spirituellen Gaben ihrer Vorfahren verloren. Sie glauben nur an ihr eigenes Imperium.
Die Cardassianer haben vor zweihundert Jahren vergessen, dass Gott überall ist.
Für die meisten Menschen ist Gott nur noch schmückendes Beiwerk für bestimmte Feiertage. Sie gehen Weihnachten und Ostern in die Kirche, lassen ihre Ehen und ihre Kinder von einem Priester segnen. Aber ich habe nicht den Eindruck, dass sie die Regelwerke ihrer Hauptreligionen im täglichen Leben allzu wichtig nehmen.
Und die Vulkanier? Bei uns ist wieder einmal alles ganz anders …

 

Der allererste Kontakt

Es ist allgemein bekannt, dass wir Vulkanier über ein ungewöhnlich gutes Gedächtnis verfügen, aber nur wenige gute Freunde unserer Spezies wissen, dass wir uns auch ungewöhnlich weit zurück erinnern können. Viele von uns entsinnen sich ihrer ersten Lebenswochen – und manche sogar der Zeit im Mutterleib. Natürlich sind diese frühen Erinnerungen nicht perfekt. Da Embryos und Säuglinge praktisch über keine Erfahrungen verfügen, werden nur unmittelbare Eindrücke gespeichert: Die Wärme der Mutter, ein Wiegenlied, der Geschmack der Milch, Berührungen mit Händen und Geist.
Ich war noch in der warmen, grünen Höhle sicher geborgen, als ich zum ersten Mal das deutliche Gefühl hatte, dass irgendwo da draußen etwas sehr großes war – jemand, dessen mentale Schwingungen wie ein unverständlicher Gesang waren, wie eine nachlässige Berührung, wie ein in der Ferne loderndes Feuer.
Mit der Zeit wurden diese Eindrücke immer deutlicher. Manchmal glaubte ich, Melodien zu erkennen, Satzfetzen, Gedanken und Gefühle. Es erfüllt mich mit tiefer Ehrfurcht, diese mächtige Präsenz zu empfinden. Mitten in irgendeiner alltäglichen Verrichtung spüre ich, dass ein nachdenklicher, zerstreuter Blick auf mir ruht. Der Eine nimmt mich als Teil des Ganzen war, als winzigen Partikel des Kosmos.
Ich habe oft versucht, meine Gedanken so zu fokussieren, dass sie ihn erreichen. Jeder Vulkanier versucht das irgendwann – und manche Kohlinar-Meister sind von einem direkten Dialog mit Ah’Tha regelrecht besessen. Aber mit dem Einen kann man nicht einfach plaudern. Unsere unwichtigen Geschäfte interessieren ihn nicht und unser kleines Denken verblasst im Hintergrundrauschen des Alls.
Nein, Ah’Tha kann man nicht um Hilfe anflehen, ein einzelner Vulkanier ist nur ein winziger Teil eines unwichtigen Ornaments im Hintergrund eines gigantischen Bildes. Wir haben einen Gott, der zwar alles sieht, aber kaum etwas davon wichtig nimmt, einen Weltgeist, der sich Dingen widmet, die wir nie ganz verstehen werden. Er ist keine Hilfe, kein Born der Weisheit und keine moralische Instanz. Er ist einfach da.

 

Zweimal hat er mich dennoch bemerkt

Bei meinem Volk ist es üblich, dass Liebende nach dem Ritual der Annäherung hinaus in die Wüste gehen, wo der Sandozean tief ist. Sie rufen in der Einsamkeit die A’Kweth, unsere älteren Brüder im Geist und vollziehen in ihrer Gegenwart das Bindungsritual.
Die A’Kweth sind uns wohlgesonnen und sehr neugierig. Sie haben uns nie gesagt, wie sie sich vermehren, fest steht jedoch, dass sie von der humanoiden Sexualität fasziniert sind. Sie verabsäumen es nie, zu erscheinen und sich mit ihren mentalen Kräften an der Entrückung zu beteiligen. Sie nehmen die Empfindungen der Liebenden auf, verstärken sie und verkünden jedem Lebewesen in weitem Umkreis, was geschieht. Jeder Vulkanier, jeder Außenweltler und jedes Tier erlebt den Augenblick der Vereinigung mit.
Leider können unsere neugierigen Freunde Lust und Schmerz nicht auseinanderhalten und da sie so groß und mächtig sind, gerät alles irgendwann außer Kontrolle. Mein Volk glaubt, dass die gemeinsam erlittene Qual die Bindung festigt, deshalb haben wir den A’Kweth nie gesagt, wie unangenehm ihre Aktivitäten sein können.
Ich habe zweimal die Bindung im Angesicht der A’Kweth vollzogen – mit meiner verstorbenen Gemahlin T’Mira und mit T’Pala, meiner jetzigen Frau. Beide Male spürte ich, kurz bevor ich vor Schmerz ohnmächtig wurde, wie der Eine seine Aufmerksamkeit auf mich fokussierte. Der winzige Teil eines unwichtigen Ornaments hatte vor seinen Augen zu glühen begonnen und das interessierte ihn.
Es gibt einige wenige Vulkanier, die viel kräftiger sind als ich und besser mit den Schmerzen fertig werden. Sie berichten alle das selbe: Ah’Tha, der Eine, der sonst niemals eingreift, bemächtigt sich der Liebenden und nimmt an ihrer Entrückung teil. Frauen erleben ihn als leidenschaftlichen Mann und männliche Vulkanier begegnen einer verführerischen, hingebungsvollen Frau. Unser Gott ist männlich und weiblich zugleich … und das einzige, was ihn noch an organischen Wesen interessiert, sind ihre Entrückungen.

 

Ibor und Michelle vom Hause Boras

Die beiden sind eins jener anrührenden Paare, die für die Erfüllung ihrer Liebe alles auf sich nahmen. Sie überwanden die Grenzen ihrer Kulturen, ihre eigene Scham, ihre Bedenken, die Einwände der ältesten Mutter unseres Hauses, die Intrigen eines Wahrträumers, körperliche Schwäche und nackte Verzweiflung um eins zu werden.
Madras, einer der zehn größten Kohlinar-Meister Vulkans bereitete sie darauf vor, die Bindungszeremonie im Angesicht der A’Kweth länger als andere in wachem Zustand zu erleben. Er half ihnen, Körper und Geist zu stärken, schulte ihre Disziplin, ihre Schmerzkontrolle und die Fähigkeit, den Geist mit einem Schutzschild zu umgeben.
Ibor und Michelle gelang es mit dem Einen zu sprechen. Sie erhielten von ihm die Naturgesetze eines anderen, vergangenen Universums. Der Astrophysiker Ibor und die Philosophin Michelle Maras profitierten auf unterschiedliche Weise von dieser unglaublichen Begegnung. Michelle gelang es, der Lehre Suraks neue, wichtige Facetten hinzuzufügen, was ihr einen Lehrstuhl an der Akademie der Wissenschaften Vulkans einbrachte und Ibor entwickelte eine allgemeine Weltformel, die nicht nur für unser Universum gilt, sondern alle überhaupt möglichen Universen einschließt.
Der Eine beachtete ausnahmsweise zwei niedere Geschöpfe in einem Augenblick unermesslicher Qual und schenkte ihnen großzügig sein Wissen. Seitdem ist uns seine geheimnisvolle Natur etwas verständlicher. Ah’Tha hat den Kollaps des vorigen Universums und den Urknall, bei dem unser eigenes Universum entstand, irgendwie überlebt. Er ist der Geist der Vergangenheit und der Gegenwart. Über die Zukunft wissen wir nichts.

 

Mollys wilder Zorn

Molly Orvin war eine tief gläubige Menschenfrau. Sie verehrte einen jener eifersüchtigen, moralinsauren Götter, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt – eine Ausgeburt des kranken Gehirns eines machthungrigen Sektenpriesters. Normalerweise wäre Mollys Glaube ihre Privatangelegenheit gewesen, aber sie kam in ihrem Übereifer den Ah’Maral zu nahe, den verborgenen Kriegern unseres Volkes. Deshalb war es nötig, sie zu stoppen und ihr zu helfen, ihren unlogischen Gott zu verstoßen. Es war ihr eigener Wille, dem Einen zu begegnen.
Der große Kohlinar-Meister Madras wollte ihr ursprünlich mit seiner mentalen Kraft nur helfen, das zu erleben, was jeder Vulkanier spüren kann: die Präsenz von Ah’Tha. Er ging mit ihr hinaus zu den A’Kweth und bat sie um Hilfe und Schutz, während er seinen Geist weit öffnen und Molly eine Offenbarung schenken wollte. Als seine Schülerin erkannte, wie unwichtig wir alle für den Einen sind und dass sie wegen eines Schwindels ihr Leben verdorben hatte, wucherten Wut und Enttäuschung in ihr – Gefühle, die die A’Kweth noch nicht kannten und die sie neugierig vervielfachten.
Der Eine wurde aufmerksam auf etwas, was er vor sehr langer Zeit vergessen hatte. Molly wurde die Ehre zuteil, dass plötzlich die Stimme eines einzelnen Mannes zu ihr sprach – und nun verstand sie alles. Am Abend danach schenkte ihr Ah’Tha eine Vision.

 

Ursprünglich waren es viele

Das vorige Universum war ziemlich massereich. Nachdem es sich Milliarden Jahre ausgedehnt hatte und einige Jahre zitternd am Umkehrpunkt verharrt war, begann es wieder zu schrumpfen. Für lange Zeit bedeutete das sogar, dass die Bedingungen für intelligentes Leben wieder besser wurden, aber dann …
Die Sterne rückten so eng zusammen, dass es keine Nacht und keine Kälte mehr gab. Die Strahlung erreichte ein Niveau das nur noch mit einem alles vernichtenden Atomschlag vergleichbar war. Die letzten Zivilisationen verkrochen sich tief unter der Oberfläche ihrer Planeten und stemmten sich mit der Macht ihrer Technik gegen den Untergang. Als alle Vorräte an Wasser und Nahrung verbraucht waren, gab es nur noch Hunger, Durst, Agonie und Tod.
Die Aorai waren die letzte überlebende Spezies des vorigen Universums. Als es ihnen klar wurde, dass Rettung unmöglich war, beschlossen sie, gemeinsam zurück zur Oberfläche zu gehen und den Tod zu sterben, den die Natur für sie bereit hielt. Sie hielten sich verzweifelt aneinander fest, während die Strahlung ihre Körper fraß. Sie wollten auf keinen Fall voneinander lassen, ihre Freunde, Liebsten und Kinder vergessen. Als sie starben, drängten sich ihre Katras immer enger aneinander und verschmolzen zu einem reinen Geist.
Dieses eine Katra, das eigentlich aus vielen bestand, erwies sich gegen alle Vernunft als unzerstörbar. Es wurde Teil jener winzigen Knospe, aus der beim nächsten Urknall ein neues Universum entstehen würde. Es überstand sogar die reine Entropie des Beginns …

 

Captain Corazón Inserra

Seitdem Captain Inserra von der U.S.S. Casablanca ihr eigenes Leben opferte, um eine Bruderschaft der Ah’Maral vor dem Strahlentod zu retten, sind über fünfzig Jahre vergangen. Etwas hat sich seitdem verändert: Der Eine wendet sich schneller als sonst den Liebenden beim Bindungsritual im Angesicht der A’Kweth zu – viel öfter als früher können sie Ah’Tha begegnen, dem Einen, der alles sieht und niemals eingreift.
Immer häufiger begegnet den Männern der Turuska im Augenblick höchster Ekstase und Qual eine schöne, rothaarige Menschenfrau mit grünen, funkelnden Augen. Sie möchte ihren Anteil an der Entrückung haben und wieder ein wenig leben – und sie ist auch viel gesprächiger als die Aorai. Es ist Corazón Inserra, die nicht vergessen kann und sich nach ihrem vulkanischen Ehemann Linar vom Hause Boras sehnt.
Wir verstehen jetzt endlich, womit sich dieses geheimnisvolle Wesen beschäftigt: mit der Verringerung der Entropie im Universum. Wir haben noch nicht verstanden, ob Ah’Tha eine Ordnung zu errichten versucht, die für alle Ewigkeit intelligentes Leben gestattet, oder ob er lediglich den Tod in der Kälte für barmherziger hält als das qualvolle Ende der Aorai. Vielleicht ist er sich selbst noch nicht sicher, was richtig ist.
Jedenfalls wissen wir jetzt, dass lebende Wesen dem Einen keinesfalls gleichgültig sind. Er ist ein gütiger Gott – aber kein Richter oder Henker, Anführer oder Moralist, sondern einfach jemand, der sich um das Leben an sich sorgt, ein Wesen, dem die Schnecke am Hang ebenso wichtig ist wie ein spielendes Kind irgendeiner Spezies.

 

Vulkans gütiger Gott

Ich halte Ah’Tha, den Einen, der alles sieht und sich um Kleinigkeiten nicht kümmert, für den einzigen, allumfassenden Gott, der diesen Namen wirklich verdient. Er sorgt sich großmütig um den Lauf der Welt. Ihm verdanken womöglich alle Spezies ihr Leben, denn wer weiß, was passiert wäre, wenn er unser Universum nicht von Anfang an behütet und gestaltet hätte? Vielleicht ist intelligentes Leben eher die Ausnahme und die meisten Universen bringen nur Feuer und Stein hervor?
Ah’Tha ist keine moralische Instanz. Wir sind frei, selbst zu entscheiden, welche Art Ethik wir entwickeln wollen. Wir werden nicht gelobt oder getadelt, nicht belohnt oder bestraft. Wir können erwachsen werden – als Einzelwesen oder als Spezies.
Ah’Tha ist unsterblich, aber er ist dennoch nicht übernatürlich. Er kam aus der reinen Entropie und wurde ein Teil unserer Welt. Er ist das wahre Katra des Kosmos.
Wahrscheinlich hat er auch einige Erleuchtete anderer Welten berührt: Christus und Budda von der Erde, Laora von Betazed. Kimbal von Andor … und ganz gewiss die Propheten der Bojoraner. Sie und Captain Inserra sind seine jüngeren Brüder im Geist.
Der Gedanke an Ah’Tha macht mich glücklich, er schenkt der Welt ein strahlend helles, makellos reines Nehau. Ich bedauere alle, die seine Anwesenheit nicht spüren können.

 

(Auszug aus: Anneliese Wipperling, “Flügel aus Glas”, eine Anthologie moderner vulkanischer Autoren)

© Copyright by Anneliese Wipperling, 2003

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