Fäulnis unter einer makellosen Fassade

Ein Leben ohne Gefühle ist ein zu hoher Preis für den Frieden. Wieviele Bürger Vulkans wurden wegen eigenständiger Gedanken in die Verbannung geschickt? Wo ist die Grenze dessen, was für normal gehalten wird? Was ist mit Arroganz und Xenophobie?

Autor: Andal aus dem Hause Boras
(Übersetzung von Anneliese Wipperling)

Hochverehrter Herr Botschafter, liebe Landsleute.
Es verschafft mir eine gewisse Befriedigung, daß meine wissenschaftliche und pädagogische Arbeit so weit Anerkennung findet, daß man mir meinen ehemaligen Platz in der Gesellschaft Vulkans wieder anbietet. Ich könnte zufrieden sein, wenn ich mir sicher wäre, daß es dabei einzig und allein um die Würdigung meiner Leistung geht. Leider hege ich diesbezüglich tiefe Zweifel.


Mir scheint, daß man vor allem versucht, den Status quo vor jenen unseligen Ereignissen so schnell wie möglich wieder herzustellen und dann zur Tagesordnung überzugehen. Damit bin ich nicht einverstanden. Es sind drei Tote zu beklagen, darunter zwei unschuldige kleine Kinder… Alle drei Morde sind nicht aufgeklärt und nicht gesühnt. Weiterhin hat man keine Vorkehrungen getroffen, die Rassisten wie T’Lursa zukünftig den Weg in einflußreiche Regierungsämter verwehren. Unter den Intellektuellen Vulkans kann ich keinerlei Bemühungen erkennen, die tieferen Ursachen der Krise aufzudecken. Die Vorfälle werden wie Fehlleistungen Einzelner behandelt. Ich bin jedoch der Überzeugung, daß es sich um eine ideelle Krise unserer gesamten Gesellschaft handelt. Gestatten Sie mir, dies zu begründen.

Fangen wir bei einem Grundproblem an: Das Volk Vulkans hat bei seiner Suche nach einem Ausweg aus Barbarei und Krieg einen äußerst radikalen Weg beschritten. Emotionen wurde zum Grundübel und der Wurzel alles Bösen erklärt und es wurde beschlossen, daß ausnahmslos alle Vulkanier in Zukunft auf sie verzichten müssen …
Per Definition sollte von nun an alles in unserem Leben von der Logik bestimmt werden. So nützlich Logik ist, sprechen doch zwei Aspekte gegen ihre ausschließliche Priorität:

Erstens erfordert ein Leben ohne Emotionen ein ungewöhnlich hohes Maß an Kontrolle… ich glaube nicht, daß alle Vulkanier diese Fähigkeit in ausreichendem Maße entwickeln können. Diejenigen, die es nicht schaffen, sind gezwungen, die erforderliche Mentalkontrolle vorzutäuschen, das heißt sie müssen bis ans Ende ihres Lebens ständig lügen. Die Folge sind erbärmliche, verkrümmte Persönlichkeiten. Manche werden sich mit einer bescheidenen Randexistenz zufrieden geben, andere mit mehr Geltungsbedürfnis werden vielleicht zu gefährlichen Bestien.

Zweitens ist es eigentlich nicht logisch, positive Gefühle wie Zuneigung, Mitgefühl und Freude zu unterdrücken. Sicher tarnen sich unter diesem Etikett manchmal sehr destruktive Leidenschaften… aber wir sollten uns die Mühe machen, zu analysieren, was wir verstoßen wollen. Biologische Lebensformen können auf Dauer ohne positive Emotionen nicht existieren.
Das Beispiel T’Lursas zeigt deutlich, wohin es führt, wenn einem sensiblen biologischen Wesen nicht gestattet wird, entsprechend seiner Natur zu leben. Wir hätten heute diese Krise nicht, wenn man vor langer Zeit einem jungen Mädchen erlaubt hätte, sich mit dem Partner ihrer Wahl zu verbinden. T’Lursa wäre heute ein wertvolles Mitglied unserer Gesellschaft, Vulkan wäre Schande erspart geblieben und drei Familien müßten nicht um ihre Kinder trauern… niemand kann mir glaubhaft machen, daß das Haus Kinsai und die Eltern jener beiden kleinen Kinder nicht unter dem Verlust unsäglich leiden… es ist grausam, von ihnen zu verlangen, daß sie diesen Schmerz einfach unterdrücken und weiter leben sollen wie bisher.

Es ist eine archaische Sitte, daß Eltern die Bindungspartner für ihre Kinder aussuchen. Wir alle wissen, daß nur zu einem geringen Prozentsatz dabei glückliche Beziehungen entstehen… auch dieses Problem wird mit dem Hinweis auf die Bedeutungslosigkeit von Glück beiseite gewischt.
Da ich bereits die zweite sehr befriedigende Bindung erleben darf, empfinde ich tiefes Mitgefühl mit jenen, die niemals in den Genuß einer solchen kommen werden. Auch hier mag eine Ursache für die Entstehung destruktiver Persönlichkeitsstrukturen sein.

Ich halte es für dringend erforderlich, daß man soziologische Forschung betreibt und zum Beispiel den Zusammenhang zwischen Rassismus, Xenophobie und bestimmten Defiziten bei den persönlichen Fähigkeiten und der familiären Situation untersucht. Das Cthia zu ehren erfordert, unvoreingenommen an die Untersuchung heran zu gehen… Vielleicht wäre es gut, Erfahrungen anderer Welten zu berücksichtigen, vielleicht sogar anerkannte Spezialisten der Föderation einzubeziehen…
Ein Blick von außen mag manches erkennen, was uns wegen seiner Selbstverständlichkeit verborgen bleibt. Meine Freundschaft mit einigen Menschen hat meinen Blick für die Ungereimtheiten unseres Lebens sehr geschärft. Es ist töricht, von vorn herein eine Überlegenheit unseres Volkes auf allen Gebieten vorauszusetzen.

Das führt mich direkt zum zweiten schwerwiegenden Problem unserer Gesellschaft: Der Arroganz. Die offizielle Lehre besagt, daß durch die Überwindung der Emotionalität Frieden und Zivilisation auf Vulkan für immer gesichert wurden. Wir bezeichnen uns selbst als die am höchsten entwickelte Gesellschaft der Föderation… und viele Außenweltler glauben uns das und versuchen, von uns zu lernen.
Es gibt zwei Dinge, die mich dabei beunruhigen… zum einen stört mich der Begriff ‘für immer’… als gäbe es in einer sich ständig entwickelnden und verändernden Welt so etwas wie eine verläßliche Konstante. Es ist zutiefst unwissenschaftlich, zu glauben, daß man eine für immer perfekte Gesellschaft schaffen kann. Alles, was starr und unflexibel ist, wird irgendwann, mag es am Anfang noch so progressiv gewesen sein, zu einem Hindernis für die weitere Entwicklung. Ihr werdet vielleicht einwenden, daß die Emotionslosigkeit ein Zustand ist, den jeder für sich selbst immer aufs neue erkämpfen muß… aber für mich sieht es so aus, als würde jemand mit aller Kraft und bis zur vollständigen Erschöpfung auf der Stelle laufen… mit Entwicklung und Flexibilität hat das bestimmt nichts zu tun.
Das zweite, was mich an unserem Wahn von der Überlegenheit Vulkans stört, ist, daß selbst die kleinste Abweichung vom Dogma rigoros unterdrückt wird. Mein Freund, der Botschafter der Erde, sprach einmal von geistiger Monokultur, die immer und überall in den Untergang führt, weil sie die Widerstandskraft der Ideen herabsetzt und sie in gefährlicher Weise mutieren läßt. Er hat recht… unter der makellosen Oberfläche unserer Zivilisation breitet sich Fäulnis aus.

Ich frage euch hier und jetzt: Wieviele Bürger Vulkans habt ihr wegen ein paar selbstständiger Gedanken in die Verbannung geschickt? Wo war die Grenze dessen, was für normal gehalten wurde? Was ist mit den Häusern für unvollkommene Kinder? T’Lursa hat in einem dieser Häuser fast ihre ganze Jugend verbracht… es muß dort schlimm gewesen sein, sonst wäre der Haß in ihrem Katra nicht so übermächtig geworden… und was das Schlimmste ist: T’Lursa war eine ganz normale Jugendliche. Der Wunsch ihrer Familie, sie wegen ihrer angeblichen Schande weg zu sperren, war völlig ausreichend, um sie dort einzuweisen…

Ich werde erst wieder an die Objektivität Vulkans glauben, wenn unabhängige Experten die Insassen dieser Häuser begutachtet haben. Wenn Fachärzte für Psychiatrie sich um die Heilung der Kranken kümmern und die normalen, nur ein wenig emotionalen Kinder wieder frei sind… und wenn an den Universitäten dieses Planeten unterschiedliche Ansichten vertreten werden dürfen… wenn die Monokultur der Vielfalt und dem Leben Platz macht… wenn wir wieder lernen, daß Cthia zu ehren und uns und die Welt so begreifen, wie sie wirklich sind.
Das Cthia ehren… eine der schwersten Aufgaben für den Geist. Wie viele von uns sind dazu wirklich imstande… und wie viele geben sich mit einigen Formeln zufrieden, in die sie die Wirklichkeit pressen? Die unendliche Vielfalt in unendlicher Variation ist nicht nur eine Floskel, sondern die Art und Weise, wie der Kosmos und das Leben in ihm existieren.
Wer hat das Recht, die einzelnen Komponenten zu werten, einzelne Farben und Töne für wichtiger zu erklären, als den Rest? Vulkan ist nur ein kleines Staubkorn in der Unendlichkeit.
Was wir für weise halten, mag eine Superzivilisation, die wir noch gar nicht bemerkt haben, unsäglich albern finden. Es ist schon seltsam, daß man auf Vulkan Probleme hat, mit einer vergleichsweise kleinen und wenig aggressiven Minderheit umzugehen.

Als ich meine Professur antrat, wurde von mir verlangt, daß ich ohne jede Einschränkung die offizielle Lehrmeinung vertrete. Die Ansichten der Turuska waren nicht erwünscht… man wollte sie nicht einmal anhören. Schon der bloße Gedanke, daß das eigene makellose Weltbild einige winzige Risse bekommen könnte, wurde als äußerst bedrohlich empfunden… ich schäme mich jetzt, daß ich diesen Bedingungen zugestimmt habe. Ich dachte damals, daß es wichtig sei, daß mein Volk präsent ist, aber es war nur ein schwarzer Körper präsent… als Beweis dafür, daß es auf diesem Planeten keinen Rassismus gibt.

Das UMUK-Prinzip, eine unserer heiligsten geistigen Errungenschaften, wenden wir auf Fremde mit Arroganz und auf uns selbst überhaupt nicht an. Ich kann beweisen, daß wir es nicht einmal auf den großen Surak anwenden. Aus der Vielfalt seiner Gedanken haben Bürokraten ein Regelwerk zusammengestellt, das an Einfalt kaum noch zu überbieten ist… alles, was dazu nicht paßt, läßt man lautlos verschwinden… es wird an den Universitäten nicht erwähnt und es findet sich nicht im offiziellen Lehrmaterial für unsere Kinder.

Die Turuska haben vor tausend Jahren mehrmals Kontakt zu Surak aufgenommen. Er hat uns verstanden und geachtet… sein Wort hat uns vor Vernichtung oder Verbannung bewahrt. Wir empfinden ihm gegenüber tiefe Dankbarkeit und wir sind stolz, seinen Schriftwechsel mit unseren Ältesten noch zu besitzen.
Wir haben diese Dokumente der Akademie der Wissenschaften angeboten… man war nicht interessiert. Man hat uns lieber als Wilde abgestempelt, weil wir in Zelten leben, unsere alten Bräuche pflegen und weil wir nicht bereit sind, unsere Gefühle vollständig zu unterdrücken. Wir hatten unsere formalen Rechte, aber man hat uns nie wirklich als gleichwertig angesehen.

Ich bin das alles leid… ich möchte mich nicht mehr für ein Lächeln verantworten müssen und nicht mehr meine Studenten belügen. Deshalb werde ich eine Professur auf der Erde annehmen. Ich freue mich auf fruchtbare Dispute mit Kollegen von anderen Welten und ich freue mich auf Studenten, die Professor Andal zuhören möchten… denen gegenüber ich offen sein darf. Ich habe mir fest vorgenommen, so viele Welten wie möglich zu besuchen, dort zu arbeiten und mitzuhelfen, die Gesellschaft zu gestalten.
Wenn Vulkan mich irgendwann wirklich braucht, werde ich zurück kommen und meine Pflicht tun… denn ich liebe diesen Planeten und seine Bewohner. Bevor ihr jetzt vorschnell entscheidet, mich zu verbannen, bedenkt bitte, daß ich Vulkan nicht verstoßen habe. Ich gehe nur fort, weil man mir nicht wirklich erlaubt, etwas zu bewegen… weil man mich noch nicht braucht… und um zu lernen…

Gestattet mir, meine Worte mit einem jener unbekannten Zitate des großen Surak abzuschließen. Es stammt aus seinem Briefwechsel mit einer der ältesten Mütter des Hauses Kinsai… jenes Hauses, dem auch Madras angehörte, der von den Rassisten brutal ermordet wurde:

“Es gibt Augenblicke, wo ich mir nicht sicher bin, ob ich Vulkan den richtigen Weg gewiesen habe. Manchmal hat die Medizin schlimmere Auswirkungen als die Krankheit, die sie heilen soll. Vor allem, wenn man bei der Dosierung Fehler macht, kann ein Heilmittel zum Gift werden. Ähnlich ist es mit Ideen, auch sie werden bei Übertreibung mit Sicherheit giftig und ersticken die gesunde Vielfalt des geistigen Lebens. Nach anfänglichem Zögern haben die Bewohner Vulkans die Idee eines vernünftigen und emotionslosen Lebens mit einem Eifer aufgenommen, der mir inzwischen Angst macht… ich mache mir Sorgen um jene, die sich für diesen Weg zu Frieden und Vernunft nicht eignen. Ich mache mir Sorgen um die Turuska, die auf andere Weise als der Rest Vulkans Frieden und Vernunft in ihrem Dasein sichern. Die Eiferer meiner Lehre werden das möglicherweise nicht anerkennen. Sie konzentrieren sich zu sehr auf die Kontrolle des Lebens und bemerken nicht, daß das UMUK-Prinzip der natürliche Gegenspieler jeder Kontrolle ist… unendliche Vielfalt in unendlicher Kombination kann nur entstehen, wenn man Kontrolle lockert. Man kann das UMUK-Prinzip nicht wie eine Sammlung von Kuriositäten behandeln, die man aus der Ferne betrachtet… und die uns am besten gefällt, wenn sie möglichst weit weg ist. Jedes einzelne intelligente Lebewesen ist ein Universum voller Wunder.”

Falls Zweifel an der Korrektheit meines Zitats bestehen, wird das Haus Kinsai jenen Brief Suraks der Akademie Vulkans zur Verfügung stellen. Und nun bedanke ich mich bei allen, die mir geholfen haben, meinen Weg bis hierher zu gehen.

Leben Sie lange und in Frieden!

(Auszug aus: Anneliese Wipperling: “Der weite Weg zur Erde“ )

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