Am Anfang war Tuvok

Durch Deep Space Nine war ich, was das aktuelle Vulkanierbild anging, einigen Kummer gewöhnt. Trotzdem freute ich mich sehr, als ich hörte, daß bei Voyager endlich wieder einer meiner geliebten Vulkanier zur Stammcrew gehören würde. Was ich dann jedoch sah, hat mich zunächst sehr verblüfft. Bisher sahen die Vulkanier ziemlich einheitlich aus: schwarzhaarig, hellhäutig, mit scharf geschnittenen Gesichtern… und nun präsentierte man mir einen dunkelhäutigen Mann mit ausgesprochen weichen Gesichtszügen. Nicht, daß mir Tim Russ nicht gefallen hätte – ganz im Gegenteil – aber er sah für mich einfach nicht wie ein richtiger Vulkanier aus. Und dann war Tuvok auch noch so elend hölzern und steif, drückte sich so altmodisch und gespreizt aus… und diese ganze neue Vulkanier-Folklore! Spock war auf seine Art ein verdammt cooler Typ gewesen… aber Tuvok?

Am Anfang war ich so enttäuscht von ihm, daß ich ihn nicht einmal besonders gut leiden konnte. Einige Folgen, in denen er extrem eindimensional, gefühllos und logisch bis zur völligen Unvernunft war, rumorten tief in meinem Unterbewußtsein weiter. Irgendwann entstand daraus ein neuer Begriff: Philosophiebürokrat.
Nein, Tuvok zelebrierte seine Logik und Emotionslosigkeit auf eine Weise, wo selbst ich als alter, gestandener Vulkanierfan nicht mehr mitkam. Das konnte doch gar nicht alles echt sein! Kein reales Lebewesen benimmt sich freiwillig so… und irgendwie erinnerte mich das ganze an gewisse Erscheinungen während der Wende auf dem Gebiet der DDR: Dreihundertprozentige Kommunisten die blitzschnell zu ebenso dreihundertprozentigen Demokraten mutierten… Leute, die es nie gelernt hatten, sich eine eigene Meinung zu bilden und diese selbstbewußt zu vertreten, die übereifrig und obrigkeitstreu Vorschriften befolgten… und dabei alles irgendwie extrem formal betrachteten.

Und Tuvok? Er übertrieb den ganzen Surak, sah anders aus… womöglich hatte er sehr gute Gründe für sein Verhalten. Vielleicht stand er noch viel stärker als Spock unter einem besonderen Druck, zu beweisen, was für ein Vorzeigevulkanier er war. Der Gedanke an ein Rassenproblem auf Vulkan drängte sich mir förmlich auf. Auch Tim Russ hat während eines Panels angedeutet, daß er der Meinung ist, daß Tuvoks dunkle Haut eine besondere Bedeutung haben muß… daß es nicht nur um political correctness bei der Auswahl der Schauspieler ging.
Leider hat man bei Voyager alle Konflikte sehr schnell glatt gebügelt – manche offenbar sogar, bevor man sie überhaupt erwähnt hat. Maquis, dunkle Vulkanier… kein einziges Problem innerhalb der Crew wurde gründlich angepackt. Das war äußerst ärgerlich für die Zuschauer und sehr gut für die Verfasser von Fanzines! Was für faszinierende Lücken in der Geschichte! Wieviel freier Raum für eigene Interpretationen! Auf eine schräge Art bin ich den Produzenten dankbar, daß Voyager so unvollkommen ist…

Ich dachte ziemlich lange über das Rassenproblem nach. Wenn man der Theorie folgt, daß Unterschiede in Aussehen und Fähigkeiten durch Anpassung an besondere Umweltbedingungen entstehen und wenn ich einige Aspekte aus Diane Duanes Roman “Spocks Welt” als wahrscheinliche Erklärung für die physiologischen und psychologischen Besonderheiten der Vulkanier akzeptieren würde…
Es ist nachvollziehbar, daß Vulkan einst wie die Erde ein grüner Planet war, der durch eine Sonneneruption den größten Teil seines Wassers eingebüßt hat. Schließlich braucht das Leben erst einmal günstige Bedingungen, um überhaupt zu entstehen. Eine globale Katastrophe würde zudem einige Besonderheiten Vulkans erklären: Die wenigen beschriebenen Tier- und Pflanzenarten zum Beispiel.
Die überlebenden Urvulkanier hatten nur zwei Möglichkeiten, ihre Existenz zu sichern: Gnadenlose Härte beim Kampf um die wenigen Ressourcen oder besonders intensive Kooperation miteinander. Nach Diane Duane wählten sie den ersten Weg: Nur die härtesten, aggressivsten und kräftigsten Kinder durften überleben. Seitdem lauern Gewalt und Grausamkeit in den Tiefen der meisten vulkanischen Seelen.
Wenn man nun annimmt, daß lange vor der Sonneneruption einige neugierige Urvulkanier in die ariden Zonen beiderseits des Äquators vordrangen und daß sie bereits ausreichend an ein Leben in der Wüste angepaßt waren, als die Katastrophe passierte… Sie hätten wahrscheinlich längst nicht so verzweifelt wie die Bewohner der Urwälder reagiert.

Diane Duane nimmt an, daß in den Tiefen der Sandozeane Vulkans eine zweite und wesentlich ältere intelligente Spezies lebt: die A’Kweth. Der Gedanke gefällt mir. Womöglich kam es schon frühzeitig zu Kontakten zwischen ihnen und den Urvulkaniern der Wüste. Und vielleicht haben die A’Kweth den Vulkaniern geholfen – haben ihnen gezeigt, wo sie Nahrung und Wasser finden und wie sie ihre mentalen Fähigkeiten verbessern konnten. Das Ergebnis dieser Gemeinschaft wäre ein friedliches, zivilisiertes, spirituelles Volk mit überdurchschnittlichen Fähigkeiten… ein Nomadenvolk mit dunkler Haut und wenig materiellen Bedürfnissen.
Tuvok hat mich dazu gebracht, die Turuska zu erfinden und darüber nachzudenken, wie es ihnen ergangen sein mag – sicher mindestens so schlimm wie vergleichbaren Völkern auf der Erde. Da sie nicht kriegerisch waren, boten sie sich zunächst als leichte Beute für Kriegsherren, Lokalfürsten und ihre Handlanger an. Man konnte sie ungestraft versklaven, ihre genetischen Ressourcen ausbeuten… und sie als Lustobjekte für allerlei perverse Spielchen verwenden. Irgendwann konnten sie den Leidensdruck nicht mehr ertragen und begannen sich vehement zu wehren. Den mental verbundenen Bruderschaften der Ah’Maral gelang es, die Grenzen des Turuskagebietes zu sichern und ihr Volk vor der Ausrottung zu bewahren.

Als der große Surak Vulkan zu Frieden und Logik führte und die Fürstentümer zu einem einheitlichen Staat verschmolzen, waren die Turuska nicht bereit, die allgemeine Globalisierung mitzumachen. Sie mißtrauten ihren ehemaligen Peinigern, glaubten nicht, daß sie sich tatsächlich geändert hätten. Man billigte ihnen schließlich widerwillig Autonomierechte zu und begegnete ihnen darüber hinaus mit Argwohn. Sie galten als zurückgeblieben, wild und zügellos. Daß Surak sich für ihren Schutz ausgesprochen hatte, bewahrte sie zwar vor zwangsweiser Assimilation und Verbannung – dennoch wurden sie systematisch diskriminiert und verunglimpft. Ihre Kultur wurde totgeschwiegen.
Als Vulkan Teil der Föderation wurde, vertuschte man das im Untergrund schwelende Rassenproblem. In den offiziellen Datenbanken gab es keinen Hinweis auf eine ethnische Minderheit und deren Sitten und Gebräuche. Offiziell war Vulkan ein Planet mit einer völlig einheitlichen Bevölkerung, sprach mit einer Stimme. Es gab keine unterschiedlichen Auslegungen Suraks, keine Dissidenten, keinerlei Abweichen von der Norm. Man muß schon ziemlich naiv sein, um an so viel Makellosigkeit zu glauben!

Die dunkelhäutige Bevölkerung Vulkans bestand aus echten Turuska und den Nachkommen der vor mehr als tausend Jahren verschleppten Sklaven. Letztere wurden zumeist in die Clans ihrer ehemaligen Herren aufgenommen – wie man sich leicht vorstellen kann, zu sehr unterschiedlichen Bedingungen. Nicht alle vormaligen Sklavenhalter waren wirklich Anhänger Suraks. Viele trauerten ihren verlorenen Privilegien nach, fanden es gar nicht gut, daß sie nun selbst arbeiten oder ihre Angestellten bezahlen mußten – und natürlich verachteten sie die ihnen aufgezwungene, in ihren Augen höchst minderwertige Verwandtschaft. Wenn man sich vorstellt, daß Tuvok zu solch einem alten Fürstenhaus gehört hat, daß man ihm von klein auf beigebracht hat, seine genetischen Wurzeln zu verabscheuen…
Und wenn seine Clanältesten dafür gesorgt hätten, daß die ehemaligen Sklaven immer schön unterwürfig blieben, kein gesundes Selbstvertrauen entwickelten… und sich vor allem nicht mit hellhäutigen Vulkaniern vermischten? Wenn sie allen dunkelhäutigen Kindern damit gedroht hätten, sie wegen ihres schlechten Erbes zu verstoßen, wenn sie nicht völlig makellos wären? Es würde erklären, warum Tuvok so unfrei und verkrampft wirkte, so übereifrig… warum er die formalen Bräuche mit solcher Verbissenheit zelebrierte.
Wenn man genau hinsah, konnte man erkennen, mit welchem Mitgefühl er in unbeobachteten Augenblicken seine Schiffskameraden anschaute. Er kümmerte sich liebevoll und geduldig um Außenseiter… und er hatte praktisch keinen Kontakt zu Vorik, einem hellhäutigen jungen Ingenieur aus dem Maschinenraum. Irgend etwas trennte die beiden: Vielleicht fürchtete Tuvok, daß der junge Mann ihn für minderwertig halten würde… und womöglich tat er das wirklich.
Ganz offensichtlich war Tuvok sehr einsam und nicht bereit, dagegen etwas zu unternehmen. Die Menschen verstanden ihn nicht richtig, trieben zuweilen ihre unlogischen Scherze mit ihm, aber er wußte genau, daß sie ihn wenigstens nicht verachteten – sie standen ihm immer noch näher als der neurotische und selbstherrliche Vorik. Dennoch mied er ihre geselligen Zusammenkünfte, wehrte sich, wenn sie ihn in ihre Freizeitaktivitäten integrieren wollten.
Ich bin mir ziemlich sicher, daß Tuvok nicht im Einklang mit sich selbst war, daß ihm seine Gemahlin und die Kinder sehr fehlten… und daß er sich wie jedes Lebewesen nach Zuwendung und Mitgefühl sehnte. Leider war er völlig außerstande, so etwas zuzugeben – und seine Schiffskameraden erkannten nicht, was er brauchte. Man muß übrigens nicht Vulkanier sein, um in eine solche Lage zu geraten und in seinem Elend und seiner Unflexibilität hoffnungslos zu vereinsamen.
Tuvok war nicht in der Lage, sich aus seiner prekären Situation selbst zu befreien. Dazu hätte er erst einmal einsehen müssen, daß mit ihm etwas nicht in Ordnung war… und er war darauf konditioniert, vor solchen Zweifeln extreme Angst zu haben – eine Angst, die er sich ebenfalls unmöglich eingestehen konnte. Nur wenn er alle Regeln akribisch einhielt, schaffte er es, nicht pausenlos an seinen Makel zu denken. Das füllte ihn aus und lenkte ihn davon ab, sich mit seinen wahren Problemen auseinanderzusetzen.

Tuvok geriet mehrmals in Versuchung, seine Ehe zu brechen. Mindestens zwei interessante Frauen waren von ihm fasziniert, machten ihm ziemlich eindeutige Angebote, hätten seine Keuschheit gar zu gern bezwungen… aber Tuvok lehnte jedesmal ab. Es wird nicht klar, ob ihm T’Pel so viel bedeutete, oder ob er wieder einmal besonders verbissen versuchte, einem Dogma gerecht zu werden. Eigentlich mußte er ja lange Zeit damit rechnen, daß die Besatzung der Voyager für tot erklärt war… und seine Frau sich längst einen anderen Bindungspartner gesucht hatte. Es war für ihn schwierig, in einer solchen Situation logisch zu entscheiden. Vielleicht war wieder so ein verpöntes Gefühl im Spiel: Vieles deutet darauf hin, daß nur der Gedanke an seine Familie ihm während der sieben Jahre im Deltaquadranten Halt gegeben hat…
Wie mag so eine Ehe zwischen übereifrigen Philosophiebürokraten aussehen? Waren T’Pel und Tuvok miteinander glücklich? Gibt es so etwas überhaupt, wenn die Kohlinar-Meister jegliches Gefühl ächten – und die Liebe für die schlimmste aller Quellen der Entropie halten? Oder waren da nur Kälte, Entsagung… und alle sieben Jahre wilder Sex?
Mir tat der entwurzelte, verunsicherte Turuska sehr leid. Es ärgerte mich, daß sich keiner richtig um ihn kümmerte… daß er zwar sein Leben für die Crew aufs Spiel setzen durfte, daß aber niemand an seinem Bett saß, wenn er zerschunden von einer Mission zurück kam. Alle erwar-teten von ihm, daß er funktionierte. Captain Janeway erweckte sogar mehrmals den Eindruck, als könnte sie ihn auf keinen Fall entbehren – aber das bedeutete nicht, daß sie über ihn nachdachte. Es ist eine Last, immer der Starke sein zu müssen!
Ich glaube, daß Tuvok erst richtig leben kann, wenn er die brutale Konditionierung durch die Feinde seines Volkes überwindet und zu seinen ethnischen Wurzeln zurückkehrt. Nur sein eigenes Volk kann ihm helfen, den Grundkonflikt seines Daseins zu überwinden und ihm beweisen, daß er keineswegs gewalttätiger und unkultivierter als seine hellhäutigen Mitvulkanier ist – ganz im Gegenteil…
Ich mag Tuvok, deshalb lasse ich ihn diesen Weg in ein besseres Leben beschreiten. Immerhin hat er mich dazu gebracht, über Vulkan nachzudenken und seine Gesellschaft zu erkunden. Ohne ihn hätte ich womöglich gar nicht angefangen, diese Geschichten zu schreiben. Es ist nur gerecht, daß er nun endlich ein Teil meiner Welt geworden ist.

(C) Anneliese Wipperling, 2003

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